Louis lächelte, als er den verschmutzten Einband aus aufhob. Die Seiten waren vergilbt und rissig, aber die Buchstaben noch zu erkennen.
Durch ein zertrümmertes Dach fiel Licht in den Innenraum der seit Jahrzehnten leer stehenden Hallen. Eine Bücherei, aber die Regale waren leer und verstaubt.
In dieser Welt gab es nur ein Buch. Ein richtiges Denken. Ein Kodex. Das war die Wahrheit, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
Aber das stimmte nicht. Nicht immer. Und diese Seiten hier waren Teil Beweis genug, es stimmte nicht.
Schutt lag auf dem Boden, der von der eingefallenen Decke gestürzt war. Eine Wasserlache hatte sich auf dem Boden zwischen den Regalen gesammelt.
Er fragte sich, wie viel Zeit er hatte, während er weiter zwischen den leeren Regalen hindurchging. Wie viel Zeit, konnte er riskieren, bis sein fehlen auffallen würde?
Louis sah auf seine Uhr, ein kaputtes Ding mit gesprungenem Glas und verrostetem Band. Aber sie funktionierte. Eine halbe Stunde, dann musste er zurück. Arbeit.
Vorsichtig betrachtete er noch einmal den geborgenen Schatz.
Auf dem Einband befand sich ein kaum
mehr zu erkennendes Porträt. Ein Engel, glaubte er, oder zumindest dachte Louis es. Zu Glauben hatte man nur noch eines…
Er hatte es schon einmal irgendwo gesehen. In einem gesperrten Museum vor fast dreißig Jahren.
Museen standen gegen die Wahrheit, somit brauchte man sie auch nicht mehr. Man hatte sie zugemacht, geschlossen, ausgeräumt. Einige der älteren Gebäude waren vor einigen Jahren einem BRAND zum Opfer gefallen. Aber das Bild hatte man zurückgelassen. Zusammen mit dem zerschmetterten Modell eines QUASTENFLOSSERs. Genau wie dieses eine Buch hier.
Er fragte sich, ob das Porträt wohl immer noch hing in den Verstaubten Sälen oder mittlerweile verrotte war. Verrottet wie die Hallen dieser Bibliothek, die man ausgeräumt, geschlossen, gesäubert hatte.
Unter dem Porträt auf dem Buchdeckel befand sich der Schriftzug ,, Paradise Lost“ Ein verlorenes Paradies…
Er fragte sich ob noch jemand lebte, der sich an eine andere Zeit erinnerte? Gab es das einstmals, etwas, das zum Vergleich hierzu ein Paradies war?
Warum tat er das, fragte er sich manchmal. Es war Wahnsinn. Gegen den eigenen VERSTAND, den
Überlebenssinn.
Er schlich sich ein, in die alten Bibliotheken, die Museen, die langsam verfallenden Gebäude der alten Welt…
Der falschen Welt, wie sie sagten. Der Planlosen. Hier lebten alle nach dem Plan. Das war besser.
Er betrachtete das gefundene Buch einen Moment nachdenklich.
Warum hebst du sie auf? Es war Wahnsinn, eines davon zu haben war der Tod und er hatte ein Regal mit alten brüchigen Seiten gesammelt. Und doch musste er es, musste beweisen, dass es eben nicht besser war.
Wie oft hatte der dieses MISSTRAUENSVOTUM schon gegen
sich selbst geführt?
Kaum versteckt von einem staubigen alten Vorhang lag der Beweis, die Papiere, Schriften anderer Geister, in seiner Wohnung, einen heruntergekommenen Betonklotz. Aber was war heut zutage nicht heruntergekommen?
Es mangelte an allem, an den einfachsten Dingen. Er konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wann er das letzte Mal Schokolade gegessen hatte. KATZENZUNGEN schon mal gar nicht.
Der Zustand der Bücher spiegelt am besten den Zustand einer Welt wieder, dachte Louis und wusste gar nicht wie er darauf kam. Aber es schien ihm
richtig. So wie die Menschen mit ihren Schriften umgingen, so gingen sie doch auch miteinander um.
Rau, abgewälzt, brüchig… das waren nicht nur Worte um ein Buch zu beschreiben. Es passte auf die ganze Welt. Bücher waren der REICHTUM der Gesellschaft.
Und niemand tat etwas.
Langsam ging er zurück zu einer Stellenweise eingefallenen Wand. Draußen schien die Sonne auf die Straße, die gesäumt war von einigen verdorrten Bäumen… und Ruinen. Soweit er sehen konnte reihten sich leer stehende Bauten aneinander. Hier und da schien es, war ein Zimmer oder ein Stockwerk bewohnt.
Aber vieles war einfach leer, eingefallen und dunkel.
Das einzige, was nicht verfallen wirkte, waren die Kameras, silbrig glitzernde Gestellte, an jeder Hauswand mindestens zwei für jede Straße.
Unter den Blicken der Kameras, verborg der Büchersammler die Papiere schnell unter einem abgetragenen Mantel, bevor er durch ein Loch in der Mauer zurück nach draußen trat.
Eigentlich hätte er warten müssen, bis es dunkel wurde. Dann konnte er hinausschlüpfen, wenn die elektronischen Augen ihn nicht mehr so leicht sehen konnten. Wenn der GEHEMEIMDIENST blind war.
Aber er hatte genug vom ewigen Versteckspiel.
Vielleicht würden sie ihn diesmal erwischen. Abholen aufgabeln. Eine Stimme hinter einem, die einen Anwies, mitzukommen. Und dann ging man mit. Man hatte gar keine Wahl.
Louis wartete geradezu darauf, als er die Straßen hinab lief, scheinbar ziellos und doch war ihm der Weg nur zu bekannt. Wie viele Jahre lang ging er ihn jetzt schon jeden Tag. Routine, der Plan. Oder der GOTTESBEFEHL.
Er wartete nur auf die Stimme.
Aber er würde nicht mitgehen. Er würde sich umdrehen. ZORNESRÖTE im Gesicht. Würde etwas sagen, weil er es
musste. Ihnen entgegen schmettern: Eines Tages wird es wieder Bücher geben.
Louis hörte etwas, das ihn langsamer werden ließ.
Stimmen. Nicht die , die er gefürchtet hätte, sondern aufgeregte Geräusche. Etwas, das er vermisst hatte, obwohl er es nie kannte. Gespräche.
Eine Gruppe von Menschen hatte sich vor einer Hauswand versammelt. Und noch mehr, die sich nicht näher trauten standen auf der anderen Straßenseite und sahen von dort aus zu.
Er drängte sich an einigen vorbei, die ihm bereitwillig Platz machten.
Etwas Rotes an der Wand zog seine
Aufmerksamkeit auf sich.
Louis blieb stehen und lächelte zum ersten Mal in fast zwanzig Jahren wieder.
Ein Graffiti an der Wand.
Es war nicht viel, sagte eine Stimme in ihm.
Es war ein Anfang, sagte die andere.
Warum hob er die Bücher auf?
Weil man sie eines Tages wieder brauchen würde…
,, Ob wir überleben, ist weder sicher noch die Hauptsache.
Wie man aber später von uns denken wird,
ist so wichtig wie das man an uns denken wird. „
Er wusste augenblicklich, was die Leute hierherzog, trotz der Gefahr. Hier stand Wahrheit. Auf einer Wand. Offen. Ohne Schleier mitten unter ihnen. Ein Stück Wahrheit. Ein PEGELSTAND war überschritten worden.
,, Kommen sie bitte mit uns.“ Das war die Stimme, die er erwartet hatte. Die jeder der hier versammelten gefürchtet haben musste, in dem Moment, in dem sie sich entschieden stehen zu bleiben, hinzusehen, zu verstehen.
Louis drehte sich nicht um, wendete die Augen nicht von den Buchstaben auf der Hauswand ab.
Stattdessen umklammerte seine Hand das Buch in seiner Jackentasche.
,, Nein.“