Neuer Besuch
Hermann war gerade im Bad, um sich Hände und Gesicht zu säubern, da klopfte es energisch an seiner Tür. Jeder Bewohner hatte Anweisung, dass nur Hermann die Tür öffnen sollte. So flitze der Riese an die Tür und öffnete sie. Dort stand ein altes Muttchen und bat um Einlass, weil es hungrig und durstig war und eine Bleibe für die Nacht suchte. Hermann war das eigentlich im Moment gar nicht recht. Der Klafel war im Haus und er würde auch vor den Dingen der alten Dame nicht haltmachen.
Als wenn die seine Gedanken gelesen hätte, sagte sie: "Ach Jungchen, mach dir keine Sorgen, denn ich habe nichts von Wert bei mir, was abhandenkommen könnte!" Verwundert ließ Hermann die Bittende ein und bot ihr zu essen und zu trinken an, was die alte Dame sehr gerne annahm. Sie freundete sich sehr schnell mit allen an, aber am angeregtesten unterhielt sie sich mit Oma Kuno. Die beiden hockten sich in der Küche vor den warmen Ofen und plauderten angeregt. Man hörte Oma Kuno oft ausgelassen lachen. Gunni machte der alten Dame einen ihrer tollen Tees und Wickel brachte eine Decke und wickelte sie fast liebevoll darin ein. Die Lausbuben sangen dem Besuch ein neues Geisterlied vor. Tuti kannte ein wunderschönes Herbstgedicht und konnte es toll aufsagen.
Baby war herzallerliebst, denn er liebkoste die alte Dame, als wären sie schon Hunderte von Jahren bekannt. "Baby hat eine Geisteroma, und wenn Baby in seinem Bettchen ein wenig rutscht, dann kann die neue Omi auch hier bleiben. Zwei Omilis sind besser als eine!" Der Besuch war gerührt von so viel Anteilnahme. Hermann jedoch hatte wenig Zeit für sie. Er überlegt, wie er diesen Kobold erwischen konnte, ohne jedoch jemandem wehzutun. Die alte Dame hatte ihr Umschlagtuch über einen freien Stuhl getan und erzählte den Kindern gerade Märchen, als sie aus dem Augenwinkel bemerkte, dass ihr Tuch vom Stuhl rutschte. Gezogen, wie von Geisterhand. Das Tuch hatte noch nicht ganz den Boden berührt, da stand der Besuch plötzlich im Zimmer und hielt seinen Zauberstab auf das Umschlagtuch gerichtet.
Mein Wille geschehe!
Und du Klafel, stehe an diesem Ort,
kannst nicht fort, erhältst Gestalt,
bleibst, wo du bist, ohne jede Gewalt!
Dieser Spruch, sie sprach ihn sehr laut und sehr deutlich und aus einer kleinen verhutzelten Frau, wurde plötzlich die Hexe Malu, die den Klafel sichtbar machte. So sehr sich dieser kleine Teufel auch mühte, davon zu kommen, es gelang ihm nicht. Malu hielt die Zwillingsgeisterbrüder, die sich auf den Klafel stürzen wollten, nur mit einer Bemerkung fern. "Halt, ihr Brüder ohne feste Gestalt!" Die Jungs kamen sehr zu ihrem Entsetzen keinen Schritt an den Klafel heran. Es war sehr leise in der Küche. Nur der Kobold jammerte. Malu bat ihn leise, alle seine Schätze rauszurücken. Doch das wollte der Klafel nicht. Er beschimpfte die Hexe und schlug und trat und spuckte nach ihr, als sie dann sein Beutelchen von seinem Gürtel abschnitt. Dann schüttete Malu den Inhalt auf den Küchentisch. Alles, was herausfiel, war klitzeklein. Ein winziger Apfelkuchen und eine noch kleinere Rassel. Die Brille, die Haarbürste, Opas Pastillen in der Dose und ganz zum Schluss das Paket. Malu zauberte alles in die Originalgröße und berührte das Paket mit beiden Händen. Willi stand mit hängendem Kopf und eingekniffenem Schwanz daneben. Er hatte so ein schlechtes Gewissen.
Hermann war zu Anfang gleich aufgesprungen und stand seitdem wie eine Statue da. Tuti und Gunni hielten sich in den Armen und Baby war in Oma Kunos Wollsack geschlüpft und schaute nun mit einem Auge hervor.
Malu drehte sich lächelnd in die Runde. "Verzeiht, meine lieben Freunde. Ich habe einen großen Fehler gemacht und das hätte uns beinahe Gezabu gekostet. Das Buch ist in meinen Händen, so, wie ich es von Anfang an geplant hatte." Malu wendete sich an Willi.
Du lieber Freund musst nicht beschämt dreinschauen, denn du hast gute Arbeit geleistet. Du hast das Buch unbeschadet in Sicherheit auf Hermanns Gut gebracht, so, wie es von dir verlangt wurde. Als Belohnung dafür wirst du nun ab dieser Sekunde in den wohlverdienten Ruhestand geschickt. Das heißt nicht, dass wir dich nicht brauchen. Du wirst Ratgeber für die Erziehung und Ausbildung zum Wächter im ewigen Eis. Du kannst dich einbringen, wann, und so oft du es willst. Ansonsten aber schenke den müden Knochen ihre Ruhe, mein alter Freund!" Willi sah aus, als lächelte er. Er verbeugte sich vor der Hexe, die wusste, dass er niemals ohne eine anständige Aufgabe weiterleben wollte. Die hatte er ab heute, ohne jedoch Angst haben zu müssen, aufgrund seines Alters zu versagen.
Dann drehte sich Malu zur Familie Kuno. Ihr seid eine vorbildliche Familie und eure Oma, eine weise und humorvolle Frau hat mir von eurem Wunsch erzählt. Ich gebe euch für die Zeit von einem Jahr eine wahre Gestalt und ihr dürft in der Nimawe Urlaub machen, wo und wielange es euch gefällt. Ich übernehme natürlich auch die Kosten!" Die Kunos fielen sich in die Arme. Als sie vor vielen Jahrhunderten Geister wurden, wollten sie gerade in ihren ersten und wohlverdienten Urlaub fahren. Ein unverschuldeter Unfall verhinderte das. Eben weil etwas unerledigt blieb, hier ein großer Traum, wurde Familie Kuno zu Geistern. Nun ging es in den Urlaub! Malu sprach zu Tuti. "Du Kleine, du hast ein großes Herz, und wenn es deinen Eltern zulassen, dann darfst du deine Freundin Gunni begleiten!" Hey, natürlich würden Tutis Eltern zustimmen. Es ging um ein Geschenk der Hexe Malu, der obersten Rätin der Jemawe. Tuti jubelte, und sagte dann artig "Danke".
Diesmal sprach Malu Wickel an. "Ich denke, eure Hoheit, ihr habt hier ein Gutes zu Hause gefunden und liebe Freunde, die ehrlicher sind, als Untertanen. Mein Geschenk an euch, weil ihr so aufmerksam und mitfühlend seid, ist eher praktischer Natur. Dann zwinkerte sie der Mumie zu, um sich an ihren Freund Hermann zu wenden.
Der aber ließ sie nicht zu Worte kommen. "Ich habe dein Gezabu aus den Augen gelassen und beinahe wäre es sogar vielleicht für immer verschwunden. Es tut mir leid, dass ich so unaufmerksam war, liebe Freundin!" Hermann war ehrlich traurig, seine Freundin so enttäuscht zu haben. Doch die ging lächelnd auf den Riesen zu und nahm seine großen Hände in die ihren. "Ach Hermann, du hast genau so gehandelt, wie ich es von dir erwartet hätte. Du wusstest ja nicht einmal, was sich in dem Paket befand und hast dich als Erstes liebevoll um deinen Freund, den Wächter gekümmert. Du hast dir nichts vorzuwerfen. Im Gegenteil! Wenn ich es nicht versäumt hätte, den Bann aufzufrischen, wäre dieser Klafel nie in dein Haus eingedrungen. Dass er diesen Virus hat, ist noch erschwerend und ihr habt alles in eurer Macht stehende getan, um Gezabu zurück zu bekommen. Nur dieser Virus bei einem Klafel, da hatte auch ich zu tun. Hätte er mich als Hexe enttarnt, wäre der Klafel geflohen. Deshalb kam ich als Mütterchen. Ich wusste, du hast ein gutes Herz und lässt mich ein. Aber wie ich empfangen wurde, das war sagenhaft. Jeder kümmerte sich um mich und selbst die Lausbuben waren zahme Lämmchen!" Matz und Moritz lachten.
Malu wandte sich an den Klafel. "Du mein Lieber bist scheinbar noch nicht lange infiziert. Das heißt, wenn ich dich für unbestimmte Zeit zu den Nima schicke, heilt dieser Virus, wenn du deine Arbeit richtig tust. Auch du hast ein Jahr Zeit, um dich in der Nimawelt zu rehabilitieren. Vergiss deine wahre Bestimmung nicht!" Sie warf dem kleinen Teufel sein Beutelchen zu und schickte ihn sofort in die Welt der Nichtmagischen.
Gerade als Malu mit Hermann reden wollte, jubelte es in der Diele laut. Wickel hatte sein Geschenk entdeckt, einen Lift, der ihn in die andere Etage brachte, ohne, dass er stürzte, weder beim hinaufgehen noch beim herabkommen. Wickel fuhr zwei ganz Tage ununterbrochen hoch und runter, dann wieder hoch und wieder nach unten. Es war ein Privileg, eine Auszeichnung, wenn die Hoheit jemandem die Nutzung seines Liftes gestattete.
Malu hatte immer noch Hermanns Hände in den ihren. "Was mein Freund würde dir Freude bereiten. Was kann ich dir schenken?", fragte die Hexe. Hermann umarmte seine Freundin. "Ich bin glücklich, so, wie es ist. Das habe ich dir zu verdanken und meinen Freunden. Besuch mich mit all den Bewohnern aus dem Triezenhaus, wenn du Zeit findest. Das ist alles, was ich mir wünschen würde. Ansonsten ist alles gut, so, wie es ist."
Malu kannte ihren bescheidenen Freund und wusste vorher, wie die Antwort lauten würde. Sie versprach den Besuch zu diesem Weihnachtsfest, da sie ja wusste, dass die Kunos im Urlaub waren und es etwas ruhiger sein würde. Malu drückte ihren Freund und war dann, wie im Nichts einfach verschwunden.
Das kommende Weihnachtsfest mit Malu und Moortoff, Husch,den Hexen, den Feen und Hütern war eines der prachtvollsten der Geschichte des Gutshofes vom Riesen Hermann. Legenden darum gingen in der Jemawe um.
Die Kunos hatten ebenfalls einen legendären Urlaub und massenhaft zu erzählen. Sie blieben als Geister bei Hermann auf dem Gut wohnen und Willi, der Wächter und Lehrer zog auch auf dem Hof ein.
Es war alles so, wie sich Hermann es wünschte. Er war der glücklichste untote Riese des Universums, da war er sicher!
© Simone Scheuing 2013