Kurzgeschichte
Säuseln im lauen Sommerwind

Einleitung

Musik: W.A.MOZART Sonata E-flat major, K 282 - Friedrich Gulda http://www.youtube.com/watch?v=quVhZA8cnQI Bild: http://www.fotocommunity.fr/pc/pc/mypics/1582798/display/23764495

Säuseln im lauen Sommerwind

Hier, wo Zukunft und Vergangenheit einander die Hände reichen, ist mein Sein. Zwischen gestern und morgen, im Heute. Dabei steht es den Gedanken frei, im Lebensbuch zurückzublättern oder nach vorne in die leeren Seiten zu schauen. Jeden Tag geht ein Heute zu Ende und gehört sogleich der Vergangenheit an.

Auf manche meiner Seiten bin ich stolz. Andere würde ich am liebsten herausreissen und verbrennen. Oft schon habe ich erfolglos versucht, Unschönes zu löschen oder einfach zu

überschreiben. Doch weder Korrekturen noch Veränderungen sind möglich. Alles was war, ist ein Teil meiner selbst.
Der Augenblick des Seins ist im steten Wandel.
Heute schreibe ich die Seite 19449 und ich weiss nicht, wie viele ich noch füllen darf. Mit Bestimmtheit aber habe ich schon weit mehr als die Hälfte meiner Geschichte geschrieben. Jedes Heute bietet neue Gelegenheiten Gutes festzuhalten, auf das man irgendwann mit Zufriedenheit zurückblicken kann. Etwas, das durch seine Kraft gemachte Fehler verblassen lässt.

So sitze ich hier draussen am Waldrand

unter meinem Lieblingsbaum, der alten Buche. Sie verwöhnt mich mit kühlendem Schatten. Nachdenklich schaue ich in die saftig grünen Blätter hinauf. Ihr Säuseln im lauen Sommerwind entführt mich. Immer und immer wieder blinzeln Sonnenstrahlen durch und liebkosen meine Seele. Ich geniesse den Augenblick, schliesse meine Lider, atme tief ein und bewusst ganz langsam wieder aus. Diesen Moment will ich festhalten – wie schön ist es, Mensch zu sein!

Der Gedankenstift ist schreibbereit. Mit geschlossenen Augen schlage ich mein Buch auf und überfliege einige Seiten.

Noch bevor ich dazukomme, das Heute niederzuschreiben, zieht mich die Geschichte in ihren Bann.
Unverhofft umhüllt mich vertraute Nähe. Alles ist, wie es war, und es immer sein wird. Entzückt lese ich weiter und erlebe unsere tiefe Verbundenheit aufs Neue – die Seelenverwandtschaft, die im Ursprung des Seins aus Liebe gezeugt wurde.
Schmetterlingen gleich turteln wir über die bunte Sommerblumenwiese, steigen höher und höher hinauf bis ins unendlichen Blau des Jetzt. Jede Sekunde ist kostbar. In der Freude des endlosen Augenblicks, in dem Vergangenheit geschrieben wird, aus welcher

fortwährend neue Zukunft entsteht, halten wir gemeinsam die Zeit an.

Über meine Nase perlt ein Tröpfchen und gleich gesellen sich ein zweites und drittes dazu. Verträumt öffne ich die Augen. Warmer Regen nieselt auf die Wiese. Aus dem Nichts bildet sich ein leuchtender Regenbogen. Im Hier und Jetzt erstrahlt die Brücke zwischen Himmel und Erde in vollendeter Schönheit. Noch vor wenigen Augenblicken war sie unsichtbar, bald schon wird sie Vergangenheit sein – aber jederzeit kann sie wieder auftauchen.

Geschwind blättere ich zur Seite „Heute“

weiter und will unverzüglich diese tiefen Eindrücke aufschreiben.
Ein Lächeln huscht über mein Gesicht.
Einerseits bin ich sehr verwundert, andererseits aber gar nicht erstaunt. Alles, was ich im Jetzt erlebt habe, steht schon auf Seite 19449 bis ins kleinste Detail beschrieben – und die geschwungenen Buchstaben deiner Handschrift sind unverkennbar.

Hier, wo Zukunft und Vergangenheit einander die Hände reichen, ist das Sein. Zwischen gestern und morgen verschmilzt im Heute die Liebe mit der

Ewigkeit.