Flut (Teil 3)
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Die Tiere, die auf dem Hügel aneinandergedrückt standen, weil ihnen nichts anderes übrig blieb, gaben sich zumindest ein wenig Wärme. Die Ricke war wieder auf ihre zarten Beine gekommen und stützte ihr Kitz. "Du bist ein ungewöhnlicher Wolf! Bist du eingewandert?", fragte sie das schwarze wolfsähnliche Wesen. Doch der antwortete nicht. "Nun ich danke dir jedenfalls, dass du mir geholfen hast!", schob die Ricke nach und schwieg auch. Sie sah besorgt nach unten. Das Wasser hatte den Hügel eingekreist und es stieg immer noch, nur nicht mehr so schnell. Aber es würde nicht mehr lange dauern, dann wären alle auch auf dieser Insel, zu der der Berg geworden war, nicht mehr sicher. Ihr Kitz schlief. Völlig entkräftet hatte sich der kleine Bock hingelegt, um auszuruhen. Die zwei rosa Tiere schmatzten vor sich hin und der Fuchs sah immer zu ihr herüber. Die Ricke sah auf diesem winzigen Stück Land Tiere, die sie noch nie gesehen hatte. Eines hatte einen Bart und trug eine Glocke um den Hals, die bei jeder Bewegung nervte. Hoffentlich ging das Wasser zurück.
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"Hey, Bernie! Wir haben gehört, ihr wollt heute Abend eine kleine Sonderschicht einlegen?" Max, ein Helfer vom THW, der mit Bernie einen heißen Tee geschlürft hatte, fragte dies leise. "Ja, Leon sucht seinen Seebär und wir wollen helfen. Es ist alles genehmigt und unser Boot ist mit Scheinwerfern bestückt. In einer halben Stunde geht es los, in das ehemalige Auenland. Wir haben uns die Strömung angeschaut und dort könnte Leons Bär stecken!", antwortete Bernie.
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"Wenn ihr nichts dagegen habt, dann bekommt ihr Verstärkung. Ich konnte noch sechs Leute zusammentrommeln und zwei Boote organisieren." Bernie schlug Max auf die Schulter. "Das wird Leon freuen!" Max zog los, um die anderen Boote mit Licht zu bestücken. Die Aktion hatte sich herumgesprochen. Die Polizei wusste, wer da abends umherfuhr und konnte sich darauf einstellen. Man wünschte dem Suchtrupp viel Glück.
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Die drei Boote fuhren in der Abenddämmerung in Richtung des Auenlandes. Leon erzählte von Teddy, wie er den Seebär nannte, wenn er nicht im Dienst war. "Er ist ein starkes Tier und dabei so freundlich. Probanten, die er in seiner Ausbildung rettete, die versuchte er dann noch, zu wärmen. Das hat ihm keiner beigebracht, das macht diese wundervolle Tier so einzigartig. Wär ich doch nur ausgestiegen und hätt ihn gepackt!" Wieder machte Leon sich große Vorwürfe. Bernie schwieg, aber der Samaritertyp, Kalle fragte:" Die können doch lange schwimmen, haben enorme Kraft habe ich gehört. Drum denke ich, wir finden deinen Teddy!
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Ich hab auch zwei Hunde, Dackel. Die beiden Hirnis würden doch glatt versuchen, das Wasser auszutrinken. Ich weiß nicht, aber so schlau die beiden auch sind, so irre benehmen sie sich manchmal. Doch wenn ich mir mein Leben ohne sie auf dem Gut vorstelle, das geht gar nicht!" Kalle wollte diese beklemmende Ruhe füllen und erzählte von seiner Arbeit als Pferdewirt.
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"Scheiß Mücken!", sagte Aiden, einer der Freiwilligen. Er war Maurer und hatte sich freistellen lassen, um hier zur Hand zu gehen. "Wenn die Welt untergeht, was denkt ihr Jungs, was übrig bleibt?" Da es eine rhetorische Frage war, beantwortete er sie selbst. "Mücken, Schaben, Politiker und Anwälte!" Die Männer lachten. Andreas, der Versicherungsangestellte warf vorsichtig ein. "Na ja, alle kann man da ja nicht über einen Kamm scheren. Die Bundeskanzlerin war schließlich hier und hat den Leuten die notwendigen Mittel versprochen, die sie brauchen."
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Der Bäckerlehrling Chris, der sich ebenfalls freistellen ließ, um hier zu helfen, knurrte: "Is ja auch vor der Wahl!" Bevor sich jemand dazu äußern konnte, rief Tristan: "Vorsicht Jungs, da vorne treibt ein Hoschi von einem Baum. Andreas lotete die Tiefe des Wassers mit dem Ruder aus. Man konnte gut stehen, ohne dass einem das Wasser in die Gummihosen lief. Langsam ruderten die drei Boote auf die treibende Tanne zu. Tristan leuchtete alles ab. "Man, auf dem Stamm wimmelt es." Er hatte noch nicht ausgeredet, da hörte man Jungvögel schreien und etwas fauchen. Bernie stellte die Tiertransportboxen auf und zog sich Handschuhe über. Leon tat es ihm gleich. Andreas, Bernie und Chris glitten vorsichtig aus den Booten ins Wasser und näherten sich dem Baum.
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"Ach du Scheiße, das ist ja eine Arche!", rief Chris. Er ging zurück zum Boot und zog sich ebenfalls Handschuhe an. "Gib mal die Box her!", sagte er zu Ole vom THW. Damit ging er zurück zum Baum. "Ihr solltet alles mit Fell einsammeln, um Platz zu sparen. Ich nehme das halbe Nest mit den jungen Elstern. Die kann man mit keinem zusammentun." Auf diesem Baum waren mindestens acht Igel, diverse Hamster und Feldmäuse, ein Dachs, die drei jungen Elstern, ein Feldhase, ein Fuchsjunges, eine winzige Insel, die nur aus Ameisen bestand und unzählige verschiedene Käfer. Davon profitierten grad Maus und Igel.
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Alles einzusammeln war nicht einfach. Meister Dachs fauchte seinen Retter an und die Elstern schrien, als wenn man sie in den Kochtopf stecken wollte. Man einigte sich, dass Max und Chris die Tiere abliefern und dann nachkommen sollten. Die Tierrettung sollte sich kümmern.
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Die anderen fuhren weiter. Sie schwiegen, denn die Bergung der Tiere war alles andere, als einfach, seelisch und körperlich. Kalle stoppte sein Boot. "Sag mal, hört ihr das auch?", fragte er und lauschte weiter. "Hört sich an, wie Kühe!", sagte Bernie. Er hatte recht, denn als sie eine viertel Wendung nach links machten, wo das Geräusch herkam, sahen sie einen Bauernhof. Kalle war ganz aufgeregt. "Lasst uns hinfahren, das hört sich nicht gut an!" Etwa fünfzig Meter vor dem Bauernhof kamen die Boote nicht weiter. Sie hatten zu wenig Wasser unterm Kiel. Also stapften die Helfer los, um nach den Tieren zu schauen. Im Stall angekommen sah man zwölf Kühe stehen, die erbärmlich muhten. "Sind wirklich nur Kühe!", sagte Leon enttäuscht, während Kalle auf eines der Tiere zustürmte. "Milchkühe und die Ärmsten sind wahrscheinlich schon zwei oder drei Tage nicht gemolken, gefüttert oder nur getränkt worden. Was sind das für Besitzer? Wer tut seinen Tieren so was an?!" Kalle packte eine Heugabel und füllte die Tröge auf und die anderen halfen ihm. "Macht ihr hier weiter, ich melke die Ärmsten. Sie müssen tierische Schmerzen haben." Während Kalle auf der einen Seite begann zu melken, schnappte sich Bernie Melkhocker und Eimer. "Kann ich auch, war als Kind jeden Sommer auf dem Land im Urlaub." Während alle schweigend arbeiteten, sagte Kalle: "Wisst ihr, wir können die armen Tiere nicht sich selbst überlassen. Ich bleib hier, bis man eine Lösung gefunden hat, und kümmere mich um die Kühe. Man sollte mir nur nicht den Bauern herschicken. Ich weiß nicht, was ich dann tue!" Die Männer wussten, es war ihm ernst.
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Als die Arbeiten verrichtet waren, hörten die Männer im Stall die Rufe von Chris und Max. "Hey, seid ihr da auf dem Hof?", rief Max. Und als man bejahte, stapften auch die beiden in den Stall. Bernie sah sich in der Zwischenzeit im Haus um. Der Strom war abgestellt und der Feuerwehrmann hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Hier stimmte was nicht und sein Gefühl hatte ihn noch nie irregeführt. "Hallo?", rief er leise. "Ist hier wer?", fragte er weiter, und ging dabei in die Küche. Wieder rief er und lauschte und richtig, er hatte sich nicht verhört. Da war ein Stöhnen! "Jungs, schnell kommt her, ich brauche Licht. Hier ist jemand, wahrscheinlich verletzt!" Chris und Max stürmten ins Haus und leuchteten die Wohnküche aus. Dabei fanden sie eine ältere Frau in Gummistiefeln und Schürze. Sie lag mit dem Gesicht auf dem Boden, das Bein unnatürlich verdreht. Chris kniete nieder und sprach die Frau an. "Hallo, können sie mich hören?" Als die Helfer die Frau in eine stabile Lage drehen wollten, schrie sie auf. "Meine Kühe, meine Kühe ertrinken!", waren ihre ersten Worte. "Keine Angst, wir haben uns um ihre Kühe gekümmert. Nun sind sie dran. Sie haben sich wahrscheinlich das Bein gebrochen. Sind sie schon mal mit dem Heli geflogen?" fragte Max, um die Frau bei Bewusstsein zu halten. "Was ist denn ein Heli?", fragte sie auch promt.
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Während Max und Bernie ihr das erklärten, forderte Chris Hilfe an und erklärte die Situation. Nach etwa einer Stunde war die Bäuerin im Helikopter auf dem Weg ins Krankenhaus. Kalle hatte ein schlechtes Gewissen, weil er so voreilig geurteilt hatte und er blieb, wie versprochen, auf dem Hof um die Tiere zu versorgen.
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"Kommt Jungs, wir fahren heim, war ein langer Tag!", sagt Leon. Er wollte seiner Truppe nicht noch mehr aufhalsen. "Was ist denn mit dir los? Gehste zu Hause auch um zehn ins Bett Alter?", fragte Bernie spöttisch. "Ich denke, ihr habt heute genug getan und wer weiß ...!"Leon vervollständigte den Satz nicht, aber jeder wusste, was er meinte. "Das überlass mal uns, ob wir genug haben oder nicht!", meinte Andreas. "Es ist nicht mehr weit in den Auenwald. Vielleicht begegnen wir ja Herrn Beutlin oder finden einen Schatz!", schloss Tristan sich an.
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Die drei Boote waren etwa fünf Minuten unterwegs, da erhob sich ein Schatten mit gespitzten Ohren und der Nase im Wind. Der Bär hatte Witterung aufgenommen. Was er da witterte, kam ihm bekannt vor. Seine Unruhe breitete sich auf die anderen Tiere aus. Dann plötzlich konnte er zuordnen, was er da roch und der Bär heulte laut, wie ein Wolf. "Hier, Herrchen, ich bin hier! Ich wusste, du würdest mich suchen und finden. Hiiiiier Herrchen!", hallte es durch den überschwemmten Auenwald und die anderen Tiere auf der Hügelspitze fielen mit ein! Das konnte keiner überhören.
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Die Boote leuchteten den Hügel an und wie in einem Märchen, ragte ein eigenartig geformter Schatten von einem riesigen Ungeheuer hervor, das sich hin und her bewegte und unheimliche Laute von sich gab. Leon schrie, als er seinen Teddy erkannte. "Da ist mein Teddy, mein Guter! Ich wusste, du bist stark genug!" Leon schluchzte und weinte wie ein Kind und als der Hund ins Wasser sprang, um bei seinem Herrchen zu sein, rollten auch bei den anderen Männern die Tränen. Leon umarmte seinen Teddy und auch der tapfere Hund bekam sich vor Freude nicht wieder ein.
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Ole und Aiden waren die Ersten auf dem Hügel und staunten nicht schlecht, als sie Reinecke Fuchs und die Ricke mit ihrem Kitz nebeneinander stehen sahen. Wie sich die die zwei Schweine und der Ziegenbock dorthin verirrt hatten, war allen ein Rätsel. Auf dieses winzige Fleckchen hatten sich insgesamt achtzehn Tiere gerettet, die nun von ihren Rettern vorsichtig verladen wurden. Leon war kaum in der Lage sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Immer wieder sah er auf seinen Teddy. Tristan hatte recht behalten. Es war ein Schatz, den sie da im Auenwald auf dem kleinen Hügel gefunden hatten.
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© Simone Scheuing 2013