Der Mörder ist immer der …
Konzentriert sitzt John an seinem Laptop und versucht die Geschehnisse der letzten Tage festzuhalten. Er liebt seinen Job und versucht stets sein bestes zu geben. Er hat etwas Geheimnisvolles an sich, das detektivisches Gespür verlangt, alles bis ins Kleinste zu analysieren. So, dass am Ende ein perfektes Ergebnis daraus entsteht. Also schreibt er sich jede noch so winzige Kleinigkeit auf, um nichts außer Acht zu lassen. Mit weißen Glaceehandschuhen streicheln seine verhüllten Finger die Tastatur, so als ob diese eine Geliebte wäre, die er sanft berühren würde. „Nur keine Spuren hinterlassen“, sind seine Gedanken, die an Präzision grenzen. Dem Verbrechen auf der Spur sozusagen. Kurz liest er seine Aufzeichnungen durch und speichert diese in einem extra dafür vorbereiteten Ordner auf seinem Computer.
Zufrieden lehnt er sich zurück und verschränkt seine Hände in den Nacken. Er steht vom Stuhl auf und holt sich ein Glas Ginger Ale, das für ihn wohl belebendste Getränk. Eine Packung scharf gewürzter Erdnüsse füllt er in eine schwarze Müslischale und stellt sie auf seinen Schreibtisch, neben sein Getränk. Dann setzt er sich wieder und startet seinen Internet Browser auf dem PC. In die Taskleiste tippt er eine ihm wohl bekannte Adresse ein und wirft einen Blick auf den Besucherzähler, der tagtäglich höhere Websitebesucherzahlen zeigt. „Muss wohl an der viralen Kampagne bei webtube liegen“, fährt in erfreut durch den Kopf während ein breites Schmunzeln über seine Mundwinkel kommt. Rasch scrollt er durch die Unterseiten dieser zugegeben pikanten Internetseite, seiner Website wohl gemerkt. Gebannt haften seine Augen an den Notizen, die die User in seinen Blog kommentiert haben. Es sind eigentlich nur Gedankengänge, die aus verschiedenen Perspektiven dargestellt sind. Gedanken, die die Phantasie abnormaler Gehirne wiederspiegelt. Aber was ist schon abnormal? Alles was nicht der Norm entspricht, könnte man sagen. Also könnte man aus diesen niedergeschriebenen Gedanken deuten, dass die Masse der Menschheit abnormal ist. Abnormal im Sinne von grausam, gewalttätig, ja fast blutrünstig. Die Meute, die das Opfer hetzt. Doch wer ist das Opfer? Ein Hirngespinst aus massenhaft abnormalen Denkern? Lassen wir es mal im Raum stehen.
John bereitet sich vor und schreibt die Neuigkeiten seiner Analyse ins Netz:
„Hi, ihr Denkenden, um kurz zusammen zu fassen, was bereits geschehen ist, hier die News: Die Gedanken der Denkenden sind zu einem Resultat gekommen. Alle wollen nur das Eine und zwar einen Mord in feinsinniger, detailliert grausamer Form. Aus vielen Gedanken ist eine Vision entstanden, die uns ein Opfer manifestiert hat. Widerwärtige Gesichter aus denen die Angst spricht und durch die der Hass seine Wirkung zeigt. Ein Rektum, dessen breiiges Fäkal ums Überleben winselt. Je mehr Gedanken dies umkreisen, desto rascher wird dies Realität werden. Manifestiert es euch, denn es wird ein köstliches Spektakel geben. Auge um Auge, Zahn um Zahn, wird es die Niederträchtigkeit des Sadismus gebären, um mit phantastischeren Geistesblitzen die Bestie im Täter zu entwickeln. Den Täter, der aus unendlichen Verbindungen gestärkt ist und mutig sein Ziel trifft. Ein Ziel dessen Kreatur des Opfers sich bald zeigen wird *g*. Gedankensprung - Wortspur“.
Gestärkt durch die vielen Botschaften im Blog, schließt er die Website und fährt den Computer herunter. Nun entledigt John sich seiner Glacéhandschuhe und schließt die Augen. Fiktive Gedanken kann man am besten ohne visuelle Ablenkung in die gewünscht Form bringen. Stolz durchfährt seine Sinne, als er sich bildhaft die Tat ins Gedächtnis ruft. Selbstzufriedenheit überwältigt ihn, dass er es endlich geschafft hat, er der bisher nur ein winziger, unbedeutender Wurm war. Ein Wurm der parasitären Wegwerfgesellschaft, die nach den Mündern der Hysterie spricht. Doch nicht mehr mit ihm, denn er war jetzt wer und zwar jemand, den man Beachtung schenkt. Beachtung in unendlichen Gedankengängen, die ihn scheinbar nicht mehr los ließen, die einen absoluten Plan folgten, nämlich den, alle wurmartigen Parasiten zu vernichten. Er wäre dann als Einziger in der Lage alles zu steuern und zu dem Wohlgefallen zu wenden, wie die Gedanken es wählten. Freiheit im Geist der Entfaltung, wie wahr. Abnormal anders, vernichtend und erschaffend in einem, welch eine Genialität. Ohne zu leugnen, er, John, ein Genie…
Er ein Einzelner ist in der Lage die Welt zu verändern, durch die Anwendung des elementaren Gesetzes der Anziehung. Würde er zukünftig bestimmen, dass der Himmel grün ist, würden sich unendliche Gedanken der Vernetzung darauf richten, dies zu visualisieren, so dass es sich in der Materie zeigen würde, früher oder später. Oh ja, diese Emotion gefiel ihm. Und so vertiefte er seine Gedanken in Dinge, denen Taten schlussendlich folgen mussten. Taten, die den Stein des Kreislaufes ins Rollen bringen und die automatisch ihre Opfer forderten, ohne weiteres Zutun. Ein Grinsen durchzieht sein Profil, während im Gehirn weitere Vernetzungen vorgenommen werden. Es lokalisiert schon jetzt ein unendliches Netzwerk das ins Unermessliche wachsen würde. Er, der eigentliche Impulsgeber, das Metronom des Gedankens das unaufhörlich im Takt schwingt, den es vorgibt.
Dass er wohl die ganze Nacht in seinem Bürostuhl geschlafen haben musste, bemerkt er jetzt, nachdem ihm alle Glieder schmerzen und die Sonne den Raum erhellt. Ein Blick auf die Uhr 7:50 Uhr lässt ihn erschrecken. In einer halben Stunde sollte er im Büro sein. Eilig hetzt er ins Bad, um sich frisch zu machen. Er traut seinen Augen nicht, als er im Spiegel die Fratze entdeckt. Kreidebleich mit tiefen Furchen auf den Wangen, sieht in ein fremdes Gesicht entgegen. Ein Gesicht mit nur einem erkennbaren Auge. Dort wo das zweite sein sollte, befindet sich eine tiefe, dunkle Höhle, ein Nichts, das ihn erschaudern lässt. Automatisch und entsetzt schiebt er sich die Zahnbürste in den Mund aus dem beim Öffnen einige Zähne klirrend ins Waschbecken fallen. „Auge um Auge, Zahn um…“, dämmerte es ihm. „Halt, stopp“, schreit er voller Panik, als ihm die Wörter seiner eigenen Website wie ein Speer durch die Gedanken schießen. Weiter konnte er nicht denken, denn wie in einer Lawine überrollten sie ihn, die Abermillionen Visionen der Täter, die ihr Opfer gefunden hatten. Die Täter, die aus den gedachten Bruchstücken ein Manifest erschaffen hatten. Und nun ihr erbarmungsloses Ziel verfolgten. Nicht eher zu ruhen, bis das Leben daraus entschwunden ist. Gewaltsam, aggressiv, grausam, unaufhörlich, sadistisch…
Das Telefon läutet, eine schwache Stimulanz durchfährt den fast regungslosen Körper von John. Stille. Ein Klopfen an der Tür. Letzte Gedanken folgend ein Krach, ein lautloses Knirschen eines Gegenstandes in der Weite des Alls… Kein Atem des Auf und Abs im zerquetschten Brustkorb. Völlige Leere…
„Kommen Sie schnell, Herr Inspektor“, ruft der Polizeibeamte, der die Wohnung von John nach der Vermisstenanzeige seiner besorgten Mutter geöffnet hat. Fassungslos stehen die Beamten vor der bis aufs Unkenntliche zugerichtete Leiche von John Minth. John, einen einfachen Bürger und Büroangestellten und einem bisher unbekannten Hobbyautoren. „Wissen Sie“, sagt Brown, der Polizist „er wäre mir in diesem Falle wirklich lieber, wenn der Mörder immer der Autor ist“. „Man weiß nie“, gibt der Inspektor zur Antwort und verständigt die Spurensicherung. „Nehmen wir uns fürs erste die Aufzeichnungen und den Computer des Opfers vor und beginnen dann mit der Recherche, mein lieber Brown“. „Wie Sie meinen, Herr Inspektor“, wirft Brown ein und fährt den Computer hoch.
„Also doch ein Hinweis“, ruft er aufgeregt und zeigt auf die im Speicher befindliche Website.
„Hier ist unser Indiz mit großen Buchstaben: Der Mörder ist immer der Autor...“
Silvia J.B. Bartl