Liebe
DAS ELIXIER DES LEBENS
Es gibt kein Wort, über das seit Menschengedenken so viel nachgedacht, geredet und geschrieben wird, wie dieses kleine Wort Liebe. Dieses Wort bewegt uns Menschen direkt wie indirekt, leitet uns und führt in die Irre. Es ist Mittelpunkt unseres Glaubens, Denkens, Fühlens und Handelns. Unzählige Phantasien drücken sich darin aus, und beschreiben einen Bruchteil dessen, was sie für uns bedeutet. Zu Urzeiten war sie Dreh- und Angelpunkt menschlichen Denkens und Strebens, und bis heute hat
sich daran nichts geändert. Nichts bewegt die menschliche Phantasie mehr als das kleine Wort Liebe. Nichts hinterlässt so tiefe Eindrücke, Erlebnisse und Erfahrungen - kein anderer Gedanke, kein anderes starkes Gefühl. Ungezählte Dichter und Denker aller Epochen haben sich um ihr wahres Bild bemüht, und ein Staubkorn im Weltall oder ein Sandkorn in der Wüste gefunden.
Jeder Mensch strebt sein Leben lang danach, Liebe zu erfahren. Keiner hat sie bisher endgültig erkannt. Alle erdenklichen Worte sind nicht genug, um das Gefühl zu erklären. Jeder Mensch versucht ihr auf seine Art entgegenzugehen: in geschriebener, in
gedachter wie gelebter Weise. Die einen fordern sie heraus und suchen sie verbissen. Andere versuchen sie einzufangen, wenn sie sie gefunden zu haben glauben. Es ist die einzige Suche, die den Menschen sein Leben lang beschäftigt. Unser ureigenes Ziel scheint die Erfahrung der wahren Liebe zu sein. Andere Ziele werden fallengelassen; diese Suche niemals.
Die Liebe klebt nicht an einem Menschen, einem Ding oder einem Zustand. Sie ist mit den fünf Sinnen nicht zu erfassen. Man kann sie nicht greifen, nicht sehen, hören, schmecken, riechen. Doch ist sie da, allgegenwärtig und mächtig: unscheinbar wie ein kleines
Pflänzchen unter einem Stein oder groß und mächtig wie ein Berg inmitten anderer Berge. Sie ist wandelbar wie ein Chamäleon, schwach wie ein Blatt im Wind, stark wie ein tosender Orkan, bunt wie die Farben des Regenbogens, grau wie der Nebel um den Novembermond, hell wie der Schein der Sonne. Sie hat die Kraft zu heilen und zu zerstören. Liegt sie direkt vor einem, sieht man sie nicht. Ihr Gesang ist leise, dass man sie nicht hört, und laut, dass man taub zu werden droht. Man hört nicht ihr leises Atmen, ihr gewaltiges Tosen, sieht nicht ihre zaghaften Bewegungen und riecht nicht ihren verführerischen Duft. Und wenn sie ganz nah bei einem ist, kann es
sein, dass man sie nicht bemerkt. Begegnet man ihr bewusst, will man es nicht glauben. Die Liebe lässt sich nicht einsperren, nicht binden. Sie ist frei, frei von Fesseln und Zwängen. Sie lebt von der Freiheit, Grenzen zu überwinden, neue zu setzen und zu beseitigen. Als Freund und Feind des Menschen lebt sie direkt in ihm oder Lichtjahre entfernt, gebunden an die Fähigkeit des Menschen, ihre Freiheit zu akzeptieren. Sie ist die einzige Hoffnung, die uns bleibt, wenn alles andere geht, Beginn und Ende unserer Seele, unserer Phantasien und unseres Lebens. Genährt aus den Tränen der Verzweiflung und dem Blut der
Hoffnung.
Die Liebe begleitet uns ein Leben lang als Bindemittel von Körper, Geist und Seele. Ohne sie ist das Leben undenkbar. Wer liebt, lebt.
Der Facettenreichtum der Liebe ist ein Regenbogen der Gefühle und Gedanken. Jeder erlebt sie anders, weil sie sich jedem anders zeigt: Liebe ist Leidenschaft, Intellekt, Egoismus, Bescheidenheit und Erotik; Lust, Irrationalität, Erfahrung, Bewusstsein und Erwiderung; Logik, Intuition, Erlebnis, Bedürfnis, Empfindung; Last, Inspiration, Ewigkeit, Brücke, Enthusiasmus; Lüge, Inkarnation, Ekstase, Bedrückung, Erleichterung …
und vieles mehr. Sie vereint das gesamte Sein des Menschen und beschränkt sich nicht auf eine Dimension. Sie braucht das Zusammenspiel der Dreieinheit Körper, Geist und Seele.
Solange sie lebt, geht sie ihre eigenen Wege, wandert umher und versucht, Handeln, Denken und Fühlen aufeinander abzustimmen. Die Liebe ist das erste, was uns begegnet und was wir sofort verlieren. Anschließend verbringen wir unser gesamtes Erdendasein damit, sie wiederzufinden. Ob es uns gelingt, ist unserem Geschick überlassen. Den wenigsten Menschen ist es vergönnt, Ableger dieser vertrauten wie fremden, bekannten wie unbekannten Pflanze zu
erkennen. Viele suchen ihr Leben lang vergeblich. Man glaubt, das muss sie sein; ob sie es ist, wissen wir nicht. Sie erklärt sich durch das Gefühl, das sie in uns entstehen lässt. Sie entscheidet, wie sie sich für uns definiert.
Als Säugling treibt sie uns der Quelle der Freude zu, dem Mutterbusen, aus dem das Leben quillt. Später treibt sie uns zu einem Menschen, von dem wir annehmen, dort dieses unergründlich schöne, geborgene und sättigende Gefühl zu finden. Frei wie ein Säugling an der Brust der Mutter, sind wir dann nicht mehr. Wir haben erfahren, dass es außer Liebe Tausend anderer Dinge gibt. Sie lassen uns vergessen, wie es war. Die
vage Erinnerung daran lässt uns auf die Suche nach dieser ursprünglichen Liebe gehen.
Die Ausdrucksformen menschlicher Liebe sind vielfältig. Sie hat keine endgültige Form. Von der Nächstenliebe über das Gefühl freundschaftlicher Verbundenheit zu einem oder zu mehreren Menschen, die Eigenliebe, die zarten Keimlingen der Zuneigung, die tiefe Freundschaft und Verbundenheit, bis hin zur alles erfassenden Liebe für den einen Menschen.
Das Gefühl, das sich seit jeher Liebe nennt, ist das wichtigste „Nahrungsmittel“ für jeden Menschen, für seinen Körper, seinen Geist und seine
Gefühlswelt. Die Liebe erfüllt sich in der Liebe des Anderen, der bereit, sie anzunehmen und wiederzugeben. Sie wächst mit den Gedanken, Gefühlen, Phantasien und Formen. Je mehr ich von mir erfahre, desto eher kann ich mich dem Anderen zu öffnen und anzunehmen. Die Verschmelzung von Körper, Geist und Seele macht Liebe vollständig. Die Liebe bedingt die Existenz eines anderen. Eine Liebe, die sich auf sich fixiert, ist keine.
In der Gefühlswelt des Menschen mischen sich die unterschiedlichsten Nuancen und Farben, die sein Handeln bestimmen. Und die Liebe, gleichgültig in welcher Form, treibt uns zu neuen
Taten, sowie unsere Taten, Gedanken und Worte uns zu dem Gefühl Liebe treiben. Liebe, Hingabe und Zuneigung bleiben nicht auf zwei Menschen, auf die eigene Familie oder die Freunde beschränkt. Sie zeigt sich ebenso in Menschen, die für andere sorgen, die es nicht mehr können. Sie zeigt sich auf der Straße, wenn man seinem Mitmenschen freundlich begegnet und dort hilfsbereit ist, wo Not herrscht. Sie ist da, wo man es weniger vermutet, in ihrer speziellen Schattierung: bunt wie der Regenbogen, vielgestaltig wie das Firmament in der Nacht, beständig wie eine Wanderdüne und wankelmütig wie ein Granitfelsen. Sie durchzieht die Erdgeschichte wie ein
genetischer Fingerabdruck und verändert die Welt, ohne dass sie sich ändert.
Der Mensch strebt sein Leben lang nach Anerkennung; sei es im Beruf, wo er erfolgreich sein will, wo die Anerkennung seiner Leistung für ihn das wichtigste ist; sei es in der Freizeit, im Privatleben, wo er die Anerkennung durch Freunde und Verwandte benötigt, um sich gut zu fühlen; sei es in einer Partnerschaft zu einem Menschen, mit dem er sein Leben teilt und gestaltet. Die Erfahrungen, die er in diesen Bereichen macht, prägen sein Gefühl, sein Denken und seine äußere Erscheinung. Die Liebe spielt eine große Rolle, wenn nicht die Schlüsselfunktion schlechthin. Und der
Mensch kann nicht sicher sein, ob er sie erobern wird. Doch er gibt die Hoffnung nicht auf – die Liebe ist es, die ihn leben lässt.