Kurzgeschichte
Meine Süße - Das Wichtigste im Leben

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"Meine Süße - Das Wichtigste im Leben"
Veröffentlicht am 20. Juni 2013, 18 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

Je älter ich werde, umso weniger gibt es über mich zu sagen :-)
Meine Süße - Das Wichtigste im Leben

Meine Süße - Das Wichtigste im Leben

Beschreibung

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Der bequeme alte Sessel war so positioniert, dass er freien Blick nach draußen in den Garten hatte.

Er saß fast den ganzen Tag in diesem Sessel. Mit fast 100 Jahren bewegt man sich nicht mehr so oft. Seine faltigen Hände, die übersät waren von Pigmentflecken, lagen gefaltet auf der roten Fleecedecke die seine Beine bedeckten. In letzter Zeit brauchte er diese Decke öfter. Die Durchblutung der Beine funktionierte nicht mehr einwandfrei. Er hatte immer noch lange Haare, trotz dass sie nun dünn und fast ganz weiß waren. Er hatte es nie gemocht die Haare abzuschneiden und hat sich allen Überredungskünsten, die das Ziel hatten ihm eine Kurzhaarfrisur aufzuschwatzen, widersetzt. Es ging ihm nicht ums Aussehen, es ging ihm um das Gefühl. Sehr wohl verstand er, dass kurze Haare leichter zu pflegen seien, doch warum er seine langen Haare behalten wollte, das wollte nicht wirklich einer verstehen. Sie taten es als Spinnerei ab. Für ihn waren seine langen Haare so vertraut geworden, wie eine Katze, mit der man schon lange zusammen lebt. Wenn der dünne, lange, weiße Pferdeschwanz über seine Schultern fast bis zur Brust sich schmiegte, spielte er manchmal mit seinen Haaren und fühlte gleichzeitig das sanfte Ziehen an der Kopfhaut. Nein, solange er über sich selbst bestimmen und für sich einstehen konnte, würden diese Haare bleiben.

Er fühlte eine Hand auf seiner Schulter. Er wusste es war die Hand seiner Enkelin. Sie drückte ihm einen Kuss auf seine rechte Wange und fragte ihn, ob sie ihn geweckt habe. Nein, er hätte nur ein wenig gedöst, wie er dies halt immer tun würde. Sie strich ihm liebevoll über den Kopf und fragte nach seinem Befinden. Es ginge ihm gut, so gut, wie es einem alten Mann halt gehen kann, war seine Antwort. „Wie geht es meiner Süßen?“ Seine Süße war seine Enkelin Eloisa. Er nannte sie „meine Süße“ seit er sie das erste Mal auf den Armen hielt. Eloisa störte dies nicht, sie war es gewohnt, dass Ihr Großvater sie so gut wie nie mit dem Vornamen ansprach. Sie war nun mal „seine Süße“.

Er nannte sie nicht nur „meine Süße“, sie war tatsächlich die Süße seiner späten Jahre. Eloisa begegnete ihm mit einer Herzlichkeit, Offenheit und viel Verständnis. Er wusste sie liebte ihn und sie wusste, dass er sie liebt. Und so waren die wenigen Tage, die die beiden längere Zeit zusammensein konnten ein großes Lebensgeschenk. Sie nannte ihn Juri, keiner hatte eine Ahnung wie sie auf diesen Namen kam. Juri war quasi die Erfindung Eloisas. Niemand nannte ihn Juri außer sie. Sein realer Vorname war Franz. Für Eloisa hieß er Juri, das war schon ganz besonders. Anfangs hielt er es für eine merkwürdige Marotte seiner Enkelin und glaubte das würde sich von selbst wieder legen, doch darin hatte er sich getäuscht. Sie behielt es die vielen, vielen Jahre bei bis heute. Es würde sich wohl auch, solange er noch lebt, nicht mehr ändern und Juri klingt doch ganz sympathisch, dachte er bei sich.

Eloisa holte sich aus der Küche einen Stuhl und stellte ihn so neben den Sessel des Großvaters, dass sie gut seine Hand halten konnte und es für ihn bequem war, wenn sie dies tat. Sanft legte sie ihre Hand auf  Juris. Dieser spielte mit seinem Daumen mit ihrem kleinen Finger. Eine große Vertrautheit, Zuneigung und Freude, miteinander einfach so dazusitzen, erfüllte beide. Es verging einige Zeit in der beide so nebeneinander saßen. Er fühlte sie war da und sie dachte darüber nach, wie oft sie wohl noch so mit ihm sitzen konnte. Es könnte das letzte Mal sein, dachte sie und fühlte Wehmut. Er würde ihr sehr fehlen. „Denk nicht so viel!“ Kaum hörbar hatte Juri diese Worte sehr langsam geflüstert. In Ihrem Innern kamen sie einem Donnerhall gleich an. Ja, sie hatte sich in Gedanken verloren. Jetzt ist er ja da, jetzt halte ich seine Hand, jetzt ist wichtig. „Kannst Du Gedanken lesen“, fragte sie, ohne ihn anzuschauen. So entging ihr sein verschmitztes Lächeln. „Ich kenne die Menschen, meine Süße.“

„Juri, was ist das Wertvollste im Leben?“ Eloisa zögerte, sie hatte als sie diese Frage stellte, das Empfinden als würde sie ihrem alten Großvater zu nahe treten.

„Das Wertvollste im Leben? Das wirklich Wertvollste im Leben ist die Liebe. Die Liebe, die dich deiner selbst beraubt. Es mag für dich seltsam klingen, doch es ist wirklich so. Sie lockt, verführt, verlangt alles von dir. Und du gibst und gibst und willst gar nicht aufhören zu geben. Es ist dir die größte Freude zu geben. Doch wehe, du vergisst zu nehmen, dann läufst du leer und entdeckst plötzlich, dass du dich selbst nicht mehr findest. In deinem Geben hast du vergessen zu nehmen und die Liebe will nur geben. Wenn jede Liebe gibt und nimmt, in einem ewigen Fluss, dass keine Liebe mehr weiß ob sie nun gibt oder nimmt, dann ist eine Liebe entstanden. Dies ist das wahre Ziel. Eine Liebe.“

Sie hatte ihm aufmerksam zugehört, doch sie verstand kaum etwas von dem was er sagte. Sie schwieg.

Juri schwieg ebenfalls. Er schaute nach draußen in den Garten. Eine Amsel zog einen Regenwurm aus der Erde. Das Gekrächze der Elstern lenkte seinen Blick auf den Kirschbaum. Der schlanke, fast magere graugetigerte Kater der Nachbarn schlich am Gebüsch entlang.

„Das ist das Leben“, sagte Juri. „Alles das ist Leben.“

Eloisa sagte immer noch nichts.

„Süße, du hast das nicht verstanden, was ich dir sagte, oder?“

„Nein Juri, nicht wirklich“, gestand Eloisa.

„Kannst Du mir das anders sagen?“ fragte sie ihren Großvater.

Er schwieg wieder lange Zeit.

„Als ich 44 Jahre alt war bekam ich eine neue Kollegin.“ Fing er an zu erzählen.

„Sie war fünf Jahre älter als ich. Wir arbeiteten in einem Großraumbüro. Sie saß mir schräg gegenüber. Als sie mir das erste Mal die Hand gab, durchfuhr es mich wie ein elektrischer Strom. Das hatte ich vorher noch nie erlebt. Von diesem Augenblick an dachte ich fast ständig an sie und sah auffällig oft zu ihr hinüber. Sie war keine Schönheit. Sie hatte sehr dünne Beine, einen kleinen flachen Hintern, breite Schultern und einen kleinen Busen. Ein rundes ungeschminktes Gesicht und die ersten grauen Haare waren in ihren ungefärbten Haaren zu erkennen.  Ich verstand mich selbst nicht mehr. Was war denn besonders an dieser Frau, dass ich ständig an sie denken und zu ihr hinschauen musste, fragte ich mich. Doch die Dinge nahmen ihren Lauf. Du musst wissen, ich war damals schon mit Großmutter verheiratet und wir führten eine gute Ehe. Ich hatte nie die Absicht Großmutter zu betrügen. Damals dachte ich sehr schlecht und abfällig über Menschen, die ihre Partner betrügen und hintergehen. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, selbst meine Ehefrau zu betrügen und zu belügen.

Zwei Wochen nachdem diese neue Kollegin kam, gab es Änderungen in der Firma. Ein anderes Programm sollte eingeführt werden. Der Chef bestimmte  mich und Romina, so hieß die Kollegin, zu einem Einführungsseminar zu schicken. Das Seminar war in einer dreihundert Kilometer entfernten Stadt. Wir mussten also übernachten. Wir reisten mit der Bahn und so hatten wir schon während der Bahnfahrt viel Zeit um miteinander zu plaudern. Ich fühlte mich so gut mit ihr, wünschte die Zugfahrt würde niemals enden. Der Klang ihrer Stimme, die Aufmerksamkeit mit der sie mir zu hörte. Ich fühlte mich in allem, was ich von mir gab verstanden. Ihr ging es nicht anders, wie sie mir später sagte. Es war ein zweitägiges Seminar.  Nach dem Seminar saßen wir noch an der Bar für einen Drink.

Ich weiß nicht wie es geschah, wir küssten uns und landeten in ihren Zimmer. Mein Einzelzimmer betrat ich nur um dies oder das zu holen. Beide wünschten wir uns, diese Nacht würde nie enden.

Es war nicht der Sex, es war die Tiefe der Gefühle, die wir füreinander empfanden. Es war, als würden zwei Menschen zu einem zusammenfließen. Freude, dass es genau diesen Menschen gab, mit dem dies möglich war. Ich muss bemerken, dass sie ebenfalls verheiratet war. Sie führte jedoch eine schwierige Ehe. Ihr Mann hatte sie schon mehrmals betrogen, außerdem brauchte er eine Unmenge Geld für Zigaretten, Tabletten und Drogen. Dennoch trennte sie sich nicht von ihm.

Auch jetzt nach dieser gemeinsamen Nacht voller Innigkeit und Liebe, war es für sie klar, dass es eine kurze Affäre sein würde. Dann solle alles wieder „normal“ laufen. Mir zeriss es fast das Herz bei der Vorstellung sie nie mehr so nah bei mir haben zu können. Ich konnte es mir nicht vorstellen dass wir uns wieder „normal“ verhalten könnten.  Ich dachte sogar an Scheidung und staunte über mich selbst. Mein ganzes Denken war anders. Für mich gab es nur Romina und mich. Alles andere spielte keine Rolle. Das war ein sehr egoistisches Denken ich weiß.

Auch der zweite Tag ging vorüber. Wir reisten unmittelbar nach Ende des Seminars zurück. Es blieb uns noch die gemeinsame Zeit der Bahnfahrt. Je näher wir unserer Heimatstadt kamen umso weiter rückten wir auseinander. Sie hatte die Befürchtung, dass zufällig Bekannte oder Nachbarn im Zug sein könnten und uns eng aneinander geschmiegt sehen könnten. Es tat mir weh, ich wollte ihr nahe sein.

Wir trennten uns förmlich am Bahnhof per Handschlag.

Ich ging schweren Schrittes nach Hause. Fing an mich zu verurteilen. Wie konnte ich nur meine Frau betrügen, wie meine Ehe aufs Spiel setzen. Ich war ein sehr strenger Richter. Als ich zuhause war, begrüßte ich meine Frau nur mit einer kurzen Umarmung und einem flüchtigen Kuss auf die Wange.

Ich war noch bei Romina. Meine Frau blieb mein verändertes Verhalten nicht unbemerkt. Sie vermutete, dass ich zu sehr gefordert worden war auf dem Seminar. Ich bestätigte ihr dies und so verstand sie auch, dass ich bald zu Bett wollte um früh zu schlafen. Innerlich hatte ich mich schon von meiner Frau getrennt. Ich war schon weg.

Ich war der Liebe meines Lebens begegnet. Daran gab es für mich keinen Zweifel. Es war nicht die Verliebtheit in etwas Äußeres. Es war ein tiefes Gefühl der Liebe, dieser Liebe wollte ich mich ganz und gar hingeben. Was heißt wollen? Ich musste mich ihr hingeben, ich hatte keine Wahl. Ich sah keinen anderen Weg. Um die ganze Geschichte etwas zu raffen, denn mir fällt das Reden nun doch etwas schwer, es strengt mich an.

Romina und ich taten im Büro unser Möglichstes um nicht aufzufallen. Doch oft trafen sich unsere Augen und wir versanken für kurze Augenblicke ineinander.

So oft es ging, trafen wir uns irgendwo auf einem Parkplatz, oder auch in einem Hotel. Es waren unendlich kostbare Momente. Immer brachte ich ihr etwas mit, um sie zu erfreuen, sie zu beschenken. Wenn sie Geldnöte hatte wegen ihres Ehemannes gab ich ihr Geld. Das war alles ganz normal. Hätte sie damals gesagt, wir ziehen zusammen, oder lass uns gemeinsam leben, ich hätte mich von meiner Frau getrennt. Ich war sozusagen Romina und mich gab es nicht mehr. Ich lebte nur noch für sie. Meine Frau glaubte ich hätte Depressionen, da ich mich zuhause immer mehr zurückzog. Ich ließ sie in diesem Glauben. Es war mir völlig egal. Ich log sie an, was die Zeiten anging, wenn ich Romina traf und auch was die Geldausgaben betraf. Klingt unglaublich Süße, oder?

Doch dann kam der Tag an dem Romina kündigte, ohne es mir zu sagen. Ihr Mann hatte beschlossen eine Entziehungskur zu machen und ihm wurde geraten, wenn möglich das gewohnte Umfeld zu verlassen, wegzuziehen. Romina war ihrem Mann nicht so gleichgültig gegenüber, und beschloss ihn zu unterstützen. Sie zogen weg und sie nahm eine andere Arbeit an. 

Das letzte Mal sahen wir uns im Foyer unserer Firma. Ich bat sie inständig, dass sie mir ihre neue Adresse mitteilen solle. Sie sagte nichts und sie teilte mir diese Adresse auch nicht mit. Wir gaben uns die Hände, mir liefen Tränen über die Wangen, derer ich mich nicht schämte. Es gab kein Denken, nur das tiefe Gefühl der Trauer, des Abschieds. Und tief in mir, auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, wusste ich, dass wir uns nie wieder sehen werden.

Ich lief bis es dunkel wurde einfach herum, auf Wegen, auf denen ich kaum Menschen vermutete.

Als ich mich kurz auf eine Parkbank setzte kam eine alte Frau mit ihrem Rollator, setze sich neben mich und fragte mich, ob jemand gestorben sei. Und sie sagte: „Trauer ist so ein tiefes Gefühl, wie Freude.“ Und ich weinte und suchte das Weite. Mein Schmerz war mir genug, zu viel war er mir.

Als ich nach Hause kam, erzählte ich meiner Ehefrau wieder irgendeine Story. Ging schlafen mit meiner nun echten Depression. Ich brauchte zehn Jahre um zu genesen. Ich brauchte zehn Jahre

um zu verstehen, dass es meine Liebe ist, die fühle und fühlte. Zehn Jahre um zu erkennen, dass Liebe niemals endet, ob dieser geliebte Mensch da ist oder nicht. Heute, meine Süße, bin ich völlig erfüllt von dieser Liebe. Sie ist wirklich das Wichtigste in meinem Leben. Sie ist der einzige Grund, wofür es sich wirklich lohnt zu leben. Eine Achterbahn der Gefühle. Und ich kann sagen, dass ich diese Achterbahn kennengelernt habe, dass ich sie erlebt habe.

Dies ist der Grund, warum ich tiefe Verbundenheit fühlen kann, weil ich weiß, dass alle nur diese Liebe suchen. Diese Liebe, die das Wichtigste im Leben ist. Die Liebe, deren Quelle in jedem von uns sitzt. Um diese Quelle geht es, die muss freigelegt, entdeckt werden.

Ich habe es auf diese Weise erlebt. Du wirst es auf Deine Weise erleben.

Versuche Dich nicht gegen das zu stellen, was Du fühlst. Es ist ein sinnloser Kampf, meine Süße.

Wenn die Liebe anfängt zu sprudeln, und zu sprudeln, dann nützen dir weder Konzepte noch Moralvorstellungen etwas. Und wenn Du sie nur einen Augenblick in ihrer Tiefe fühlen kannst,

dann hat sich dein Leben im Übermaß gelohnt, meine Süße.“

Das lange Reden hat Juri viel Kraft gekostet. Seine Stimme wurde gegen Ende seiner Erzählung immer brüchiger. Eloisa hat dennoch alles verstanden. Nicht über den Kopf, mehr über das Herz. Sie hat verstanden über das, was sie fühlte. Es erschien ihr, als hätte sie eine kleine Kostprobe von der Liebe ihres Großvaters kosten dürfen. Sie fühlte eine Weite in ihrer Brust, eine Freiheit, Dankbarkeit, dass sie am Leben war. Sie lehnte ihren Kopf an Juris Schulter und dicke Tränen tropften auf sein graues Hemd. 

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