Kapitel 3 - das Mädchen aus dem Baum
Ein weiterer Schuss, aus nur wenigen Schritt Entfernung, das dürfte sein endgültiges Todesurteil bedeuten. Aber die junge Frau ist unsicher, zu hektisch, legt den Bügel nicht zur Sicherung auf den Unterarm sondern schießt wie ein Cowboy aus der Hüfte. Es wäre ein Wunder gewesen, hätte der Pfeil sein Ziel erreicht. Das Geschoss bleibt laut zitternd im Holz des Baumes stecken, zehn Fuß unter mir, zwei über dem Kopf des Kaiserlichen. Dieser ist nun so von Todesangst ergriffen, das er versucht so schnell es geht nach hinten aus zu weichen. So schlägt er halb von Sinnen mit dem Hinterkopf gegen das harte Holz des Mukka-Stamms, selbst bis hier oben merke ich noch die Vibration die der Aufprall verursacht, und kippt nur wenige Augenblicke später bewusstlos nach vorne über. Besser für ihn, das er beim ziemlich unsanften Aufprall auf dem Waldboden schon im Delirium ist, das laute Knacken des Pfeils in seiner Schulter verheißt, das es eine schwierige Operation werden dürfte, wollte jemand dieses gehässige Stück Hartholz wieder splitterfrei aus ihm heraus bekommen.
Ich frage mich langsam, wo die Königstreuen neuerdings ausgebildet werden. Es ist ein Trauerspiel, was er hier bietet. Wenn der Rest der Truppe ähnlich beschränkt agiert, sollte ich schnell die Gruppen zusammenrufen und zum Angriff auf Lauriton blasen, die Stadt wäre ohne viel Gegenwehr in wenigen Tagen unser. Aus Erfahrung weiß ich aber, das die Soldaten der Kaiserfamilie keineswegs zu unterschätzen sind, das hier ist lediglich ein unausgegorenes Exemplar, welches das Pech hatte, sich mit einer jungen Frau an zu legen die sich gern in Bäumen versteckt. Armer Bursche, ich sollte nach ihm sehen, bevor sie versucht ihm aus nächster Nähe mit dem Griff der Armbrust den Schädel zu spalten.
Behände hangel ich mich an den Ästen nach unten, bis ich auf einer Höhe angelangt bin, in der der Baum darauf verzichtet hat, mir weitere Kletterhilfen aus der Rinde entgegen wachsen zu lassen. Mit einem geübten Sprung lande ich direkt zwischen den Fronten, hinter mir der schwer verletzte kaiserliche Tölpel, vor mir das seltsame Mädchen, welches vor Kampfeslust nur so strotzt.
„wer bist du, und was zur Hölle... “ versuche ich gewohnt diplomatisch ein Gespräch zu beginnen, schaffe es aber nicht, den Satz noch zu beenden, da sie mir wild fauchend ins Wort fällt
„geh weg von ihm!“
Sie hat Biss, das muss man ihr lassen. Der Weg aus der Baumkrone war leicht, was mir jetzt bevor steht, dürfte deutlich schwieriger werden. Ich kann überdeutlich die Mordlust und den lodernden Hass in ihren Augen erkennen. Ein Anblick, der mir nicht fremd ist. So oft habe ich ihn schon gesehen, so oft folgte darauf unermessliches Blutvergießen. Mein Gegenüber ist dieses Mal nur eine junge Frau, vielleicht 16 oder 17 Jahre, sicher nicht älter. Aber das, was ihr Gesicht nur allzu deutlich zeigt, ist erschreckend, verstörend und bei jedem Menschen gleich. Wenn sie könnte, wenn ich nicht zwischen dem Tölpel und Ihr stünde, sie würde ihn zerfleischen, in rasendem Blutrausch in Stücke reißen. Aber warum?
„verschwinde! Er gehört mir!“ fletscht sie mich wieder an, wie ein Wolf der verbissen seine Beute verteidigt
„er ist fast tot, Mädchen. Selbst wenn er wieder ...“
Das „Mädchen“ hätte ich mir verkneifen sollen, denn nun zielt die Coccio auf mich, nicht mehr auf den Kaiserlichen. Aber noch ehe sie auch nur den Finger krümmen kann, um den stählernen Abzugshebel zu betätigen, bin ich schon mit wenigen, geduckten Schritten auf sie zu gerannt, und hole sie recht unsanft von den Beinen. Als sie es schlussendlich doch noch schafft, den Pfeil auf seinen Weg zu schicken, geht er ins Leere, durchschlägt zischend das Blattwerk über mir und wird irgendwo weit im unergründlichen Wald seine letzte Ruhe finden.
Die Armbrust ist nun keine Gefahr mehr. Einen weiteren Pfeil ein zu legen wird die junge Frau nicht schaffen, denn ich drücke sie mit aller Kraft in den modrigen Waldboden.
„was denkst du denn was du hier tust!?“ schreie ich sie an, vor aufkeimender Wut lauter als ich eigentlich beabsichtigt hatte, aber es reicht aus, um die hässliche, blutrünstige Grimasse fast vollständig aus ihrem Gesicht zu wischen. Nun ist sie wieder ein Mädchen an der Schwelle zur Frau, die Raserei ist Angst gewichen. Angst vor mir.
„Mörder“ wimmert sie leise, als sie sich wieder etwas gefangen hat. „MÖRDER!“ plötzlich lauter, viel lauter, schrill und voller Hass. Ich lasse sie verwirrt los, nicht ohne ihr aber im gleichen Atemzug die Armbrust aus den dafür noch viel zu kleinen und zierlichen Händen zu reißen, und sie in sichere Entfernung hinter mich zu werfen.
Ja, ich bin ein Mörder. Wie viele Kaiserliche habe ich schon auf dem Gewissen? Ich zähle schon lange nicht mehr, niemand zählt noch in diesem verdammten Krieg, außer der Schöpfer vielleicht. Sollte ich ihm tatsächlich irgendwann gegenüber treten, und mich für all die grausamen Tode rechtfertigen müssen, wenn er aus all den gesichtslosen Leichen die meine Jahre pflastern Menschen macht, indem er ihre Namen herunter betet, werde ich mich dafür verantworten, für jeden Einzelnen. Vor ihm, aber nicht vor diesem Mädchen.
Sie zieht sich langsam an einem knorrigen Ast, der müde über ihr baumelt, wieder auf die Beine, nicht ohne mich dabei wie eine Schlange zu fixieren, jeder Zeit zum Sprung bereit. Dabei entdecke ich etwas Sonderbares in ihren Augen, etwas, was es nicht geben dürfte, nicht hier draußen in den Wäldern. Ein weiteres Puzzle-Teil, und auf jeden Fall ein Grund um ab jetzt noch deutlich vorsichtiger zu sein.
„wir sind alle Mörder, Mädchen“ höre ich mich halb gedankenversunken sagen. Es klingt wie eine Rechtfertigung, aber das ist ihr wohl egal. Definitiv reagiert sie auf „Mädchen“ aber recht ungehalten, was schon fast ein wenig komisch ist, wäre die Situation nicht todernst. Man kann die Wut förmlich in ihr aufkochen sehen.
„halt, warte, ich nenne dich bei deinem richtigen Namen, wenn du ihn mir verrätst, und du sagst mir was du hier machst?“ - ein etwas erbärmlicher Schlichtungsversuch, zugegeben
„dich jagen, du Mörder“ platzt es aus ihr heraus, begleitet von einem unsicheren, dämonischem Grinsen. „und dich töten, so wie du... „
Ein elendes Stöhnen ist plötzlich hinter mir zu hören. Der Tölpel erwacht wieder, erstaunlich zäh, wie schon gesagt. Die interessante Konversation zwischen dem alternden Krieger und der rachelüsternen Furie ist damit erst einmal beendet.