Beschreibung
Träume sind ein seltsames Ding.
Wahres verschmilzt mit Befremdlichem, einfache Ereignisse können erschreckende Ausmaße annehmen.
Absurd und häufig mit intensivem Nachgeschmack hängen sie an uns fest, selbst wenn wir sie doch allzu gern von uns schütteln möchten.
Andrea Minutillo
Alles ist gerichtet. Die Eier für die Kinder versteckt, der Tisch halbwegs festlich gedeckt. Ich wollte es nicht auf die Spitze treiben. Umso wohler wird er sich fühlen, denke ich mir.
Meine Eltern sitzen bereits auf der Couch im Wohnzimmer und sehen mich ebenso neugierig wie erwartungsvoll an. Ich schenke ihnen ein Lächeln und husche noch einmal schnell ins Bad.
Durch das gekippte Fenster höre ich die aufgeregten Stimmen meiner Schwiegereltern. Ich stecke meinen Kopf zur Badezimmertür hinaus und will gerade nach meinem Mann rufen, doch da steht er bereits in der Tür, um seine Eltern zu empfangen. Gut so.
Ich ziehe mich zurück und atme erst einmal durch. Der Blick in den Spiegel. Lieber nicht. Der Blick auf die Uhr. Wo bleibt er denn? Er wollte doch zeitig da sein! Ein wenig Pflege auf die Lippen, das beruhigt.
Eilig husche ich in das verborgene Zimmer und nutze die Bodenklappe. Mit den Jahren ist sie ein bisschen eng geworden, aber ich zwänge mich trotzdem durch.
Als ich tollpatschig auf dem Teppich lande, lächelt mir meine Vermieterin entgegen. Sie freut sich, mich zu sehen. So lange hatte ich nichts von mir hören lassen. Sofort errät sie meine Gedanken. Das wird schon, meint sie und nimmt beruhigend meine Hand.
Doch ich achte kaum auf sie und spähe aus dem Fenster. Nichts. Was ist bloß los? Plötzlich schießt mir der erleuchtende Gedanke durch den Kopf. Er weiß gar nicht, wo wir uns treffen! In einem meiner inzwischen vier Zuhause? Oder bei den Eltern? Den Schwiegereltern? Der Schwester? Oder? Oder? Oder? Er kennt sich doch überhaupt nicht aus! Ist zum ersten Mal hier in der Gegend! Wie, um Himmels Willen, konnte ich das vergessen?
Ich eile zum Esszimmerfenster. Der Ausblick aus dieser Wohnung ist ein ganz anderer, als von uns aus. Was ein Stockwerk so ausmacht! Die Sonne spiegelt sich in den Wagendächern. Es blendet mir bunt entgegen. Aber er ist nicht da.
Wir waren mit der Bahn angereist, er hat gar kein eigenes Auto hier! Wie soll er denn … ? Ich wische mir den kalten Schweiß von der Stirn. Ich muss, sage ich und steige auf einen Stuhl, um mich wieder durch die Klappe zu zwängen.
Nur wenige Augenblicke später lockt mich ein Knattern zum Schlafzimmerfenster. Ich beeile mich. Hat er es irgendwie doch geschafft? Ein kleines Moped saust die schmale Auffahrt hoch.
Er ist viel zu groß für dieses Gefährt. Seine Knie höher als der Lenker. Ein weißer altmodisch-runder Helm ziert seinen Kopf. Er trägt einen Anzug. Ich wusste gar nicht, dass er so etwas besitzt.
Noch einmal atme ich durch, dann betrete ich das Esszimmer. Schwester und Schwager sitzen am Tisch mit ihren Rücken zu mir. Rauchschwaden ziehen durch den Raum.
Seit wann raucht er bei uns? Er denkt wohl, bloß weil ich nicht mehr hier wohne, könne er die Luft hier verpesten!
Mein Mann liest in meinen Gedanken. Er grinst hämisch. Nie durfte jemand in meiner Wohnung rauchen! Er fand es anfangs ungastlich. Ich nicht! Ich kann auf den Gestank herzlichst verzichten. Aber im Augenblick gibt es wirklich wichtigeres.
Mein anderer Schwager steht am Fenster und sieht hinaus. Ich stelle mich an seine Seite, meine Hand auf seinem Arm. Schön, dass du da bist. Er lächelt mich sehr breit an. Stets beherrschen seine Zähne in diesen Momenten sein Gesicht. Ich muss grinsen. Er ist so süß …!
Der Neuankömmling sitzt draußen auf der kleinen Bank. Die Beine übereinander geschlagen. Der Helm sitzt direkt neben ihm. Genüsslich zieht er an einer Zigarette. Die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengezogen. Er hustet. Seine Lunge ist den Rauch nicht gewöhnt … Rauchfahnen steigen zum Himmel auf. Er sieht ihnen hinterher.
Die gebräunte Glatze glänzt in der Sonne. Er hat sich frisch rasiert, bemerke ich für mich. Seltsam irritiert wundere ich mich über die vielen herbstlich gefärbten Blätter, die überall herum liegen und ausgesprochen gut zu seinem olivefarbenen Anzug passen.
Mit einem Lächeln und ein wenig Stolz stelle ich fest, dass er nichts unter dem Jackett trägt. Ein schönes Bild. Er sieht gut aus! Für eine Weile betrachte ich ihn.
Na, das wird was geben! Wie konnte ich ihm das alles nur antun! Das wird ein schreckliches Frühstück! Sie werden ihn von allen Seiten beäugen und taxieren, wie ein Stück Vieh, das zum Verkauf angeboten wird! Und warum ausgerechnet hier? Und die Familie meines Mannes! Wie konnte ich es so weit kommen lassen?
Ich kühle meine Stirn an der Fensterscheibe, der Puls rast. Spüre den Blick meines Schwagers. Kurz schaue ich zu ihm auf. Er schüttelt milde grinsend seinen Kopf und schiebt mich von dem Fenster weg. Mit wackligen Knien gehe ich die Stufen abwärts. Mein Schwager begleitet mich. Schweigend. Dennoch liegt schützend seine Hand auf meiner Schulter. Dunkelheit…
Mit Erleichterung tasten meine Augen über die schemenhaften Umrisse des Weinregals. Folgen dem Tropfenverlauf an der Wand entlang. Die Weinkelche zwischen den Buchreihen. Ich bin zuhause.
Nur ein hässlicher Traum. Der Eisenring klappert. Schritte. Ich freue mich. Er ist schon zuhause. Außergewöhnlich früh! Ich rufe nach ihm. Leise und verpennt. Vielleicht. Er lacht sachte. Legt sich zu mir. Ich schmiege mich an ihn. Seine Haut so weich. Und ich so aufgewühlt. Könnte mich in ihm vergraben. Bin unsäglich glücklich. Erleichtert. In diesem Moment. Meine Nacht ist zu Ende, seine beginnt gerade …