Kurzgeschichte
Blizzard

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"Blizzard"
Veröffentlicht am 13. Juni 2013, 14 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Blizzard

Blizzard

Blizzard

Es gibt Dinge, die man nicht einfach ignoriert.

Zum Beispiel, wenn der kleine Bruder mitten in einer Schneeballschlacht, bei der er am Gewinnen ist, plötzlich in seiner Wurfbewegung innehält, hinter einen guckt, sich nicht darum kümmert, dass er einen Schneeball mitten ins Gesicht bekommt und sagt: "Oh mein Gott."

Er sagte es nicht einmal laut, nicht einmal aufgeregt. Er klang eher, als würde er seinem Tod ins Auge blicken.

Das war der Augenblick, in dem ich mich umdrehte.  

Ich erwartete einen Angreifer. Im Moment gab es in unserer Gegend einen Serienmörder und Mama hatte uns eingetrichtert, dass wir das Haus nicht verlassen durften. Dann war sie weg gewesen, zum nächsten Ort gegangen, wo sie als Schneidergehilfin arbeitete.

Kurz darauf waren mein Bruder und ich uns sofort einig gewesen, dass das Wetter viel zu schön war, um den Tag drinnen zu verbringen. Heute war es das erste Mal seit Tagen wieder warm genug, um nach draußen zu gehen, ohne dass man Gefahr lief, halb zu erfrieren. Der Himmel war klar, wunderschöner Pulverschnee lag auf dem Boden, der dazu einlud, Schneeengel zu machen. Schnell vergaßen wir die Warnung unserer Mutter bei der Schneeballschlacht und lachten bei diesem eiskalten Vergnügen.

So kam es, dass ich bei den Worten meines Bruders sofort an einen Serienmörder dachte, dem ich, lediglich mit einem Schneeball bewaffnet, gegenüber treten musste. Doch es war niemand hinter mir. Auf den ersten Blick sah alles wie immer aus. Die Getreidefelder, jetzt mit Schnee bedeckt. Vielleicht hundert Meter von uns entfernt unser kleines Farmhaus und daneben der große Baum, alles in Weiß.

Schon wollte ich mich wieder zu meinem Bruder umdrehen und setzte zu einer Frage an.

"Joey, was...", doch die Worte blieben mir im Halse stecken, als ich nach oben schaute. Eine gigantische Wolkenfront türmte sich vor uns auf und kam in unsere Richtung gerast.

"Oh mein Gott!", flüsterte ich nun meinerseits.

"Joey komm zu mir!", schrie ich gegen die aufkommenden Windböen an. Ich sah, wie er sich zu mir herankämpfte und kam ihm entgegen, auch wenn das die entgegengesetzte Richtung des Hauses war. Ich fasste ihn am Handgelenk und zog ihn an mich.

Eine Sekunde später wären wir verloren gewesen, denn nun brach das Unwetter über uns herein. Pulverfeiner Schnee und Eiskristalle wirbelten durch die Luft und nahmen uns die Sicht. Wir konnten keine zwei Schritte mehr weit sehen.

"Bedeck dein Gesicht mit deinem Schal.", wies ich ihn an, doch ich wusste, wir hatten ein weit schwerwiegenderes Problem, als lediglich ein paar Schwierigkeiten beim Luftholen. Wir konnten das Haus nicht mehr sehen. Ich wusste zwar die ungefähre Richtung, wo es liegen müsste, doch ich würde es erst sehen können, wenn ich direkt davor stand.

"Liah, was ist das für ein Sturm?", fragte Joey mich ängstlich.

"Das ist ein Blizzard.", meinte ich. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck schlecht erkennen, aber ich war mir sicher, dass er angsterfüllt sein musste. Unser Großvater hatte mal einen Blizzard miterlebt, jedoch ist er in einem Haus gewesen und hatte genügend Heizmaterial bei sich gehabt. Trotzdem waren seine Erzählungen angsteinflößend gewesen. Unser Urgroßvater war damals erfroren. Und nun steckten wir mitten in solch einem Sturm. Es war genau, wie in seiner Erzählung. Doch es war keine Zeit, um in Erinnerungen zu verweilen, denn die Temperaturen sanken rasch. Wenn wir nicht erfrieren wollten, mussten wir zurück zum Haus. Ich packte Joey fester und zog ihn in die Richtung des Hauses. Wir kämpften gegen die starken Winde an. Es war so kalt, so schrecklich kalt. Mama hatte wohl eine Vorahnung gehabt, dass sie uns nicht zur Schule schickte.

Weiter, immer weiter gingen wir, doch es kam uns wie ein Dauerlauf vor. Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir schon unterwegs waren. Es kam mit wie Stunden vor. Unter meinen dicken Klamotten schwitzte ich schnell, doch der eisige Wind drang durch alle Kleidungsschichten hindurch und kühlte den Schweiß so stark ab, dass ich befürchtete, er könnte eine Eisschicht bilden. Eigentlich müsste das Haus inzwischen in Sicht gekommen sein, doch ich konnte es nirgendwo sehen. Doch das war kein Kunststück. Die Sicht betrug ja kaum zwei Meter. Joeys Hand zitterte in meiner und auf einmal sank er auf die Schneedecke. Panisch beugte ich mich zu ihm herunter.

"Ich kann nicht mehr.", flüsterte er so kraftlos, dass ich ihn selbst mit meinem Ohr direkt an seinem Mund kaum über den heulenden Wind verstehen konnte.

Was sollte ich jetzt tun? Auch ich war mit meinen Kräften am Ende, konnte kaum mehr laufen und das Haus war nicht in Sicht, ich wusste ja noch nicht einmal mehr, in welcher Richtung es lag! Aber ich wusste, dass ich keine Wahl hatte. Ich musste ihn tragen, zurücklassen kam nicht in Frage und mitschleifen konnte ich ihn auch nicht, sonst würde er noch einen Erschöpfungstod erleiden.

Also nahm ich ihn huckepack. Sofort sank ich tiefer in den Schnee ein. Das Gewicht von uns beiden wurde jetzt nur auf meine beiden Füße verteilt. Jeder Schritt machte jetzt doppelt Arbeit. Ich schleppte mich vorwärts, in die Richtung, in der ich das Haus vermutete. Doch Joey dachte etwas anderes.

"Du, Liah, bist du sicher, dass dort das Haus liegt?" Ich stöhnte auf. Das hatte mir gerade noch gefehlt.

"Nein.", meinte ich. Wie denn auch, wir irrten hier durch das Schneechaos, wussten nicht, ob wir schon Stunden oder nur Minuten unterwegs waren, ohne markante Umweltmerkmale wie Bäume, hatten keinen Kompass dabei und konnten keine Entfernungen abschätzen. Theoretisch hätten wir auch, seitdem uns der Blizzard erwischt hatte, die ganze Zeit im Kreis herumlaufen können. Wir konnten es nicht wissen, da unsere Fußspuren sofort verwischt wurden.

"Das Haus ist nämlich dort drüben!", meinte er.

Ich schaute ihn zweifelnd an. "Bist du dir sicher?", fragte ich ihn. Er nickte heftig.

Also änderte ich meine Richtung. Nicht, dass es irgendetwas geändert hätte. Ich konnte immer noch nichts sehen. Wir gingen und gingen, Ewigkeiten lang und immer durch die gleiche Landschaft. Das Gehen fiel mir immer schwerer. Plötzlich strauchelte ich und landete mit dem Gesicht im Schnee. Es war so schön, sich auszuruhen. So sanft. Ich wollte für immer hier liegen bleiben. Warten, bis der Schlaf kommt.

Joey rettete mir das Leben. Er rüttelte mich an meiner Schulter und schrie mich verzweifelt an: "Liah, du darfst nicht liegen bleiben! Du erfrierst!"

Na und?, fragte ich mich. Was ist denn so schlimm am Erfrieren?

"Liah! Liah, schlaf nicht ein! Ich werde mit dir sterben, wenn du hier bleibst!"

Das war es, das mich dazu brachte, mich wieder aufzurappeln. Er war doch noch so jung, gerade einmal acht Jahre alt. Ich konnte ihn nicht sterben lassen, er war schließlich mein Bruder und hatte noch sein ganzes Leben vor sich. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich auch noch nicht alt genug zum Sterben war. Ich musste leben. Leben. Leben! Es war so unglaublich schwer, mich wieder aufzuraffen. Ich war mit meinen Kräften völlig am Ende. Schließlich schaffte ich es. Doch Joey konnte ich nicht mehr tragen und das wusste er. Tapfer kämpfte auch er sich gemeinsam mit mir weiter. Immer weiter stapften wir durch den Schnee, völlig orientierungslos.

Ich bemerkte, dass ich meine Fingerspitzen nicht mehr spüren konnte und wusste sofort, dass sie erfroren waren. Wenn wir nicht bald das Haus erreichten, würden wir sterben.

Kleine Eiskristalle bildeten sich auf meinen Wimpern. Ich konnte mir gut vorstellen, wie mein Gesicht jetzt aussehen musste. Bleich, mit blutleeren, blauen Lippen. Schatten unter den Augen. Eisverkrustete Wimpern. Die Schneeflocken tauten nicht mehr auf meinen Wangen. Das inzwischen wirre, braune Haar, das unter der Mütze hervorlugte war ebenfalls von Eis verkrustet. Die Mütze, ursprünglich grün, jetzt weiß.

Ich begann, weiß zu hassen. Falls ich das hier überleben sollte, wollte ich nie wieder weiße Blusen tragen. Vielleicht cremefarbene. Aber auf keinen Fall weiße. Sie würden mich nur an diesen schrecklichen Blizzard erinnern.

Hinter mir hörte ich leises Schluchzen. Es war Joey. Ich beugte mich zu ihm herunter und wischte ihm eine Träne von der Wange, bevor sie gefrieren konnte. "Joey, du musst aufhören, zu weinen. Deine Tränen gefrieren." Er nickte und eine weitere Träne kullerte ihm über die Wange, die er schnell wegwischte.

Wir gingen weiter. Ich weiß nicht wie lange. Wir hatten keine Möglichkeit, die Zeit zu messen und keine Orientierung. Verzweifelt gingen wir mal in die eine, mal in die andere Richtung und die Hoffnung, dass wir das Haus jemals wiederfinden würden, schwand immer weiter. Irgendwann brach Joey zusammen. Er sagte nichts, konnte nichts mehr sagen und fiel einfach hin. Kaum hatte ich ihn angesehen, wusste ich, dass es keinen Zweck mehr hatte. Er war so erschöpft, dass er nicht mal mehr gehen konnte. Ich selbst konnte ihn nicht tragen. Schon seit ich hingefallen und wieder aufgestanden war, tanzten mir bei jedem Schritt schwarze Pünktchen vor meinen Augen und ich taumelte mehr, als dass ich ging. Ich konnte ihn nicht tragen. Aber ihn zurücklassen konnte ich auch nicht. Also setzte ich mich neben ihn und drückte ihn fest an mich. Ich hoffte, dass ich, unterkühlt wie ich war, trotzdem noch etwas Körperwärme an ihn abgeben konnte.

Dann kam mir eine Idee. Ich begann, im Schnee ein Loch zu graben.

"Hilf mir mal.", wies ich Joey an. Doch er konnte nicht. Er musste seine gesamte Kraft darauf konzentrieren, nicht bewusstlos zu werden. Also schaufelte ich alleine weiter. Der Schnee und die Kälte brannten auf den Fingern, die noch nicht erfroren waren. Meine Handschuhe waren schon bei der Schneeballschlacht durchweicht gewesen und jetzt waren sie eigentlich nutzlos.

Ich schaufelte immer weiter. Zum Glück war der Schnee weich und leicht. Trotzdem brauchte ich, entkräftet wie ich war, gefühlte Ewigkeiten für ein ungefähr ein Meter tiefes und breites Loch. Dann kletterte ich hinein und Joey krabbelte hinterher.

Er machte einen jämmerlichen Eindruck. Gefrorene Tränenspuren und Eiskristalle waren auf seinen bleichen Wangen, seine Lippen waren blau und seine Nase musste gelaufen sein, denn auch unterhalb der Nase war alles eisverkrustet. Er bibberte heftig. Auf einmal sagte er: "M...mir i...ist warm" Doch das konnte nicht sein, denn er zitterte heftig und sah halb erfroren aus. Da dämmerte es mir. Ich hatte mal gelesen, dass Erfrierenden warm wurde und sie sich manchmal sogar auszogen, weil sich ihre Körpertemperatur der Außentemperatur annäherte.

"Nein!", rief ich entsetzt. "Joey, dir ist nicht warm! Du erfrierst!"

Der Gedanke erfüllte mich mit Entsetzen. Er durfte nicht sterben! Er war mein kleiner, süßer Bruder! Ich war diejenige gewesen, die vorgeschlagen hatte, nach draußen zu gehen. Ich wäre Schuld an seinem Tod. Er war doch noch so klein!

Schnell zog ich mir die Socken aus und zog sie Joey an. Dann öffnete ich meinen Mantel und legte ihn ihm um. Er durfte nicht sterben. Ich war schuld, ich würde es ausbaden müssen. Meinetwegen würde ich sterben, auch wenn mich der Gedanke mit schrecklicher Angst erfüllte.

Nur bloß nicht Joey. Joey, der immer mit mir Fangen gespielt hat. Joey, der im Sommer mit mir sein Eis geteilt hatte, nachdem mir meins heruntergefallen war. Joey, dem ich früher immer Abenteuergeschichten mit bösen Drachen und edlen Rittern vorgelesen habe. Joey, der eines Nachts bei einem Gewitter zu mir ins Bett gekrochen kam. Joey. Bloß nicht Joey.

Er musste leben. Ich nahm ihn in den Arm und drückte ihn ganz fest. In seinen Augen sah ich, dass er wusste, dass ich für ihn sterben würde. Er wollte protestieren, doch ich legte ihm einen Finger auf die Lippen. Ich spürte nichts mehr mit dem Finger.

"Du musst mir versprechen, dass du lebst.", drängte ich ihn. "Du musst leben, verstanden? Bleib hier drinnen, in dem Loch bist du vor den Winden geschützt. Komm erst wieder heraus, wenn sich der Sturm wieder gelegt hat. Wenn du zugeschneit wirst, mach in regelmäßigen Abständen ein Loch in die Schneedecke, damit du nicht erstickst." Er weinte.

"Nein! Nein! Liah, nicht", rief er verzweifelt.

"Ich habe dich lieb. Sag Mama, es war meine Idee, nach draußen zu gehen. Ich bin Schuld." Er schüttelte immer wieder in Verzweiflung den Kopf.

"Versprich mir, dass du lebst! Ich lasse mich sowieso nicht mehr umstimmen. Aber du musst leben, verstanden?" Er schüttelte wieder den Kopf.

"Tu das nicht, Liah.", bat er mich.

"Versprich es mir. Du musst leben. Das ist das einzig wichtige. Lebe!"

Ich wiederholte es immer wieder. Schließlich nickte er und nahm mir das Versprechen ab. Zu dem Zeitpunkt konnte ich kaum noch denken. Ich hielt ihn fest und er weinte an meiner Schulter. Ich hörte ihm zu und spürte, wie mein Herz immer langsamer schlug.

Mein letzter Gedanke galt Joey.

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Jadekralle

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