Kurzgeschichte
Über alle Grenzen

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"Über alle Grenzen"
Veröffentlicht am 13. Juni 2013, 30 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Über den Autor:

1953 wurde ich in Husum geboren. Ich bin an der Nordsee und in Frankfurt aufgewachsen. Meine große Leidenschaft sind die Literatur und das Schreiben. Zahlreiche Gedichte und Geschichten von mir haben in Anthologien und Gemeinschaftsbüchern ihren Platz gefunden. Seit zehn Jahren schreibe ich Romane, von denen bislang sieben veröffentlicht wurden. In meinen Büchern zeichne ich menschliche Grenzsituationen, die immer von einem Funken Hoffnung ...
Über alle Grenzen

Über alle Grenzen

Einleitung

Dies ist eine ältere Geschichte von mir. Angesichts der schrecklichen Flutkatastrophe fiel sie mir wieder ein und ich habe sie ausgekramt und abgetippt. Nach einer (fast) wahren Begebenheit, ein Ereignis, das mich sehr berührt hat.

 

Wahrheit sagt nicht unbedingt etwas darüber aus, wie die Dinge wirklich sind. Die Zeitungen sind voll von der angeblichen Wahrheit über das Unglück. Man hat lange versucht, vor mir jene Artikel fernzuhalten, die sich mit dieser Wahrheit befassen. Es werde mich belasten, meine Genesung verhindern. Das habe ich einen Arzt zu meiner besorgten Mutter sagen hören. Aber letztlich hat mich diese Äußerung hellhörig gemacht und Freddy, mein Schulfreund, hat es geschafft, mir einiges von dem Geschreibsel der Journalisten in die Klinik zu schmuggeln. Es ist schrecklich gewesen

zu lesen – nicht die Tatsachen an sich, die sie recht gut recherchiert haben – die kenne ich besser als jeder andere, bin ich doch ein Hauptmitspieler in diesem Stück gewesen. Vielmehr beunruhigt mich – und insofern hat der Arzt Recht – dass sie mich als eine Art Helden hinstellen.

 

„14-jähriger Schüler hält Wache bei seinem verletzten Freund und riskiert sein eigenes Leben.“

So ähnlich lauten die Schlagzeilen in jedem dieser Artikel.
Sie schreiben, es sei kein Wunder, dass ich mich nun in einem schwer traumatischen Seelenzustand befinde. Mir ist klar, dass dies natürlich Gerede provoziert. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie alle Nachbarn meine Eltern belagern, ihr Mitleid, aber auch ihre Anerkennung bekunden.

Über Marlin ist wenig geschrieben worden – anscheinend gibt es hier nichts mehr zu berichten, außer, dass ich ihm in tiefer Freundschaft verbunden gewesen sein musste.

 

 

Und hier liegt schon die erste falsch gedachte Wahrheit. Man hat Schlüsse gezogen aus einer Begebenheit, hat hinein interpretiert, was sich eben gut den Lesern verkauft – eine rührselige Geschichte von Zusammenhalt und Freundschaft.
In Wirklichkeit ist Marlin keineswegs mein Freund gewesen – außer vielleicht für wenige Stunden, in denen sich das Wort „Freund“ als weitaus bedeutsamer herausgestellt hat als eine Freundschaft, die jahrelang gewachsen ist.

Kurz, Marlin ist nicht mein Freund gewesen. Wir haben uns nicht gemocht. Eher ist er das Gegenteil gewesen. Nun benutze ich das Wort Feind nicht, ich habe es aus meinem gedanklichen Wortschatz verbannt. Feinde bekämpfen sich, trachten danach, einen Sieger zu küren.

 

 

Nichts liegt mir ferner, was Marlin angeht. Ich neige eher dazu, die Menschen, die ich nicht mag, zu ignorieren oder ihnen aus dem Weg zu gehen. Überhaupt bin ich kein Kämpfertyp, keiner, der gern Stellung bezieht, ich schwimme eher so mit, was bedeutet, dass ich weder abgelehnt noch besonders gemocht werde.

Anders Marlin. Als er neu in unsere Klasse gekommen ist, hat er sofort polarisiert. Binnen weniger Tage hat er eine Gruppe von Anhängern um sich geschart, aber auch eine ebenso große Gruppe von Gegnern. Wenn ich ehrlich bin, spielt wohl auch Neid eine Rolle.
Marlin ist aus gutem Hause, sportlich, wagemutig, er hat es verstanden,  sich überall in Szene zu setzen. Seine Eltern sind betucht, so sagt man wohl, der Vater Anwalt, die Mutter Ärztin, sie haben ein wunderbares Anwesen, die Villa steht in einem herrlichen Park und

 

 

Marlin ist zuweilen von dem Privatchauffeur seines Vaters abgeholt worden. Das macht Eindruck.
Für mich ist er ein Angeber gewesen, wäre ich nicht gut erzogen, müsste ich sagen, ein Arschloch, denn er hat auch sehr gezielt die Schwächen anderer ausgenutzt und sie klein gemacht.

Aber ich will von dem Unglück erzählen, von der Wirklichkeit, welche die Wahrheit nicht verstellt. Ob es zum besseren Verständnis beiträgt, kann ich nicht sagen. Allzu oft lassen wir Menschen uns ja nicht beirren, wenn wir meinen, die Wahrheit entdeckt zu haben. Aber Dr. Schalber hat gemeint, es werde mir helfen, wenn ich meine Sicht der Dinge aufschriebe.

Nun, Marlin und ich mochten uns nicht, dafür schätzten sich unsere Eltern umso mehr. Vielleicht kann ich es sogar verstehen, dass meine Eltern auf ihn bzw. sein Umfeld abfuhren

 

und daher versuchten, uns irgendwie zusammenzubringen. Meinen Freund Freddy mochten sie nicht besonders – er habe keinen guten Einfluss auf mich, warum, das haben sie nie gesagt. Ich vermute, hier liegt die Wahrheit in der Tatsache, dass Freddys Vater Maurer ist und die Mutter mit Putzen dazu verdient, was bei einer Familie mit fünf Kindern auch notwendig scheint. Freddy hat nichts zu bieten als sein natürliches, grundehrliches Wesen.

Marlins und meine Eltern hatten sich also angefreundet und an jenem Wochenende wurde beschlossen, dass beide Familien drei Tage in unserem Wochenendhaus verbringen sollten.
Alle Versuche, mich dem zu entziehen, schlugen fehl. Mein Vater sprach ein Machtwort, ich musste mit.
Die ganze Idee fand ich hirnrissig, denn seit Tagen regnete es, das Wetter war auf gut

 

 

Deutsch beschissen und mir graute davor, von Freitag bis Sonntag zusammen mit Marlin quasi in einem kleinen Domizil eingesperrt zu sein.

Als wir alle Freitag Abend am Wochenendhaus eintrafen, versank die Landschaft in triefender Nässe und einer grauen Nebelwand, so trostlos wie meine Stimmung und auch Marlin schien nicht begeistert, denn ausnahmsweise hielt er seinen Mund und versuchte nicht, sich dauernd in den Vordergrund zu stellen.
Beim Abendessen schon wurde mir klar, dass Marlins Vater seinen Sohn mit Blicken dirigierte, ein Wächter über Benehmen und Worte. So zeigte sich Marlin höflich, eher ungewohnt zurückhaltend, was wiederum meiner Mutter sehr gefiel. Ihre Blicke sprachen Bände und ich konnte ihre Gedanken in ihren Augen lesen. So ein netter höflicher Junge, und du, lieber Luca, zeigst dich so abweisend. Reiß dich zusammen....

 

 

So ähnlich sprangen ihre Gedanken mich an.

Das Wochenendhaus lag an einem kleinen Fluss, der normalerweise friedlich dahinplätscherte. An trockenen, sonnigen Tagen konnte man durchs Wasser hinüberwaten zu einer winzigen Insel, die Brutplatz und Refugium für Vögel und andere kleine Tiere war.
Manchmal nahm mich mein Vater mit hinüber in unserem kleinen Ruderboot. Diese Momente genoss ich immer, die Stille, die Unberührtheit der Natur. Man musste sich seinen Weg durch das Dickicht bahnen und wenn man Glück hatte, entdeckte man sogar die beiden Schildkröten, die hier lebten. Weiden säumten das Ufer, es gab nur wenige Plätze, um mit dem Boot anzulanden.

Jetzt aber war die kleine Insel nahezu im Nebel und hinter der Regenwand verschwunden, nur

 

schattenhaft tauchten die Bäume aus dem Dunst auf und das friedliche Flüsschen schien zu einem reißenden Strom geworden. Schmutzig-braun wälzten sich die Wassermassen flussabwärts. Nichts von der Idylle, der Stille, die ich hier sonst so liebte.
Als Marlin sich umschaute, sah ich Geringschätzung in seinem Blick und in einem Moment, in dem wir allein waren, meinte er: „Welch ein trauriges graues Einerlei! Was fängt man nun hier an? Ich wünschte, ich wäre zu Hause, da könnte ich wenigstens fernsehen oder in der Halle Tennis spielen oder in den Reitstall gehen. Alles besser als dieser Mist. Wie hältst du das aus?“
Kurz dachte ich daran, ihm zu erzählen, wie wunderschön es hier sein konnte. Aber ich verwarf diese Absicht sofort wieder, er würde es nicht verstehen.
So zuckte ich nur mit den Schultern und ging hinein ins Haus.

 

 

Am nächsten Mittag beschlossen unsere Eltern, in den nächsten größeren Ort zu fahren um ein Naturkundemuseum zu besuchen. Marlin und ich, wir waren uns einig, nicht mitzufahren. Regen hin oder her, ich dachte, ich könne die Zeit nutzen, um ein wenig durch die Gegend zu streifen – ohne Marlin. Schließlich fühlte ich mich nicht für sein Wohl verantwortlich, ich hatte ihn nicht eingeladen. Aber kaum waren unsere Eltern fortgefahren, schlug mir Marlin auf die Schulter.

„Sag mal, hast du eine Idee, wie wir diese öden Stunden verbringen sollen? Gibt es denn nichts Spannendes hier?“ Ich schüttelte den Kopf, zog meine Regenjacke an und schlüpfte durch die Tür nach draußen.

„Was ist das da drüben?“, fragte Marlin, der wohl beschlossen hatte, beharrlich an mit zu kleben. Er zeigte mit dem ausgestreckten Arm zur Insel, wo die Bäume immer mal wieder 

 

hinter rasch dahinziehenden Nebelschwaden schemenhaft auftauchten.
„Nichts Besonderes“, murmelte ich. „Eine kleine Insel.“
„Und wie kommt man dahin?“, insistierte er.
„Normalerweise mir dem Boot“. Ich wies auf den kleinen Schuppen, an dessen Frontseite schon das Wasser des Flusses anschlug. „Aber bei dem Wetter und diesen Regenmengen kannst du das vergessen.“

Marlin schwieg einen Moment. Dann breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus.
„He, das wär’s doch. Lass uns mit dem Boot rüberfahren. Interessiert mich schon, was  sich hinter diesem Grau verbirgt.“
„Spinnst du?“ Ich war echt von den Socken. Allein die Vorstellung im strömenden Regen gegen die reißenden Wassermassen anzurudern, schien mir völlig abwegig.

 

 

Doch Marlin ließ sich nicht beirren.
„Hast du Schiss?“, fragte er und sein Grinsen wurde noch breiter. „Es ist doch keine große Sache, diese paar Meter zu bewältigen.“ Er lief zum Schuppen und rüttelte an der Seitentür, die auch sofort aufsprang.
„Marlin, lass das, mein Vater bekommt die Krise, wenn wir da jetzt rüberfahren. Es ist wirklich gefährlich.“ Ich spurtete hinterher, doch Marlin war schon im Schuppen.
„Gefährlich? Ich finde, gefährlich ist nur das, was man sich nicht zutraut. Traust du dir so wenig zu? Möchtest du nicht manchmal bis an deine Grenzen gehen? Oder sogar darüber hinaus?“ Nein, das mochte ich nicht, ich wusste, wo meine Grenzen lagen.

Es ging noch eine Weile so hin und her. Als er schließlich ins Boot kletterte, das in der Wasserwanne schaukelte und als er sich gar anschickte, die Leine loszumachen, bekam ich es wirklich mit der Angst.

 

 

 „Los!“, rief er, „mach die Tür vorn auf!“ Ich blieb stehen, sagte nichts. Da sprang er aus dem Boot und lief den schmalen Steg entlang um die Tür selbst zu öffnen. Als er die Flügel auseinander drückte, schoss sofort das Wasser hinein.

„Wow!“, rief Marlin. „Los komm!“ Er hechtete zurück ins Boot und löste die Leine. Im letzten Moment – ich weiß wirklich nicht, warum ich das tat – sprang ich hinterher und sofort wurden wir von dem strömenden Wasser hinausgezogen. Marlin hatte die Ruder gepackt. Ehrlich, ich muss zugeben, dass er sich sehr geschickt anstellte. Natürlich wurden wir mitgerissen und trieben flussabwärts, aber es war nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte. Schließlich ruderten wir beide, legten all unsere Kraft hinein und schafften es sogar, die Insel zu erreichen. Wir waren klatschnass, nicht nur vom Regen, sondern

 

auch von dem Wasser, das ins Boot schlug. Aber wir waren am Ufer der Insel.
Wir sprangen heraus und gemeinsam machten wir das Boot an einem tief hängenden Ast fest.
„Und nun?“, fragte ich. „Jetzt erkunden wir die Insel!“ Und schon verschwand Marlin zwischen dem dichten Gestrüpp. Was blieb mir übrig, als hinterher zu kriechen?
Alles war nass, der Boden schlammig und aufgeweicht und als wir auf der anderen Seite ankamen (die Insel ist wirklich sehr klein) stellte ich fest, dass ein großer Teil schon von den Wassermassen überflutet war.
„Lass uns zurückfahren“, drängte ich. Ein sehr merkwürdiges Gefühl durchzog meinen ganzen Körper. Nicht gerade Angst, aber doch eine starke Beunruhigung. Das hier war ungut, ich konnte es einfach nicht einschätzen. Die Wassermassen klatschen gegen das Ufer und ich meinte, in jeder Sekunde ein Stück der Böschung verschwinden zu sehen.

 

 

Marlin jedoch reagierte überhaupt nicht, rutschte hinunter zum Wasser.
„Luca!“, schrie er gegen den Regen und das Tosen des Wassers an, „das musst du....“ Weiter kam er nicht. Er rutsche ab, seine Arme zappelten kurz in der Luft und beinahe im selben Moment wurde er von dem Fluss mitgerissen. Ich sah seine leuchtend rote Regenjacke tanzen, wie ein Ball wurde die Gestalt hin und her geworfen.
Ich schrie, glaube ich zumindest und da tauchte aus den Fluten der kleine Felsen auf.

Es ging so rasch, als ich es kommen sah, war es auch schon passiert. Marlins Körper prallte gegen die Steine und wie durch ein Wunder schien er daran hängen zu bleiben.
Ein markerschütternder Schrei durchschnitt die Naturgeräusche, dann war es still, so still in meinem Kopf, dass ich nichts mehr hörte. Wie

 

 

in Zeitlupe sah ich durch das Grau Marlins rote Jacke, die an dem Felsen klebte, auf und ab tanzte.

Irgendwie fehlt mir hier ein Stück in meiner Erinnerung. Ich musste wohl ins Wasser gestiegen sein und mich die drei Schritte zum Felsen durchgekämpft haben, denn letztlich hatte ich ihn gepackt an einem Arm und versuchte verzweifelt ihn ans Ufer zu ziehen.
Wie ich es geschafft habe, weiß ich nicht, aber schließlich lagen wir beide an der Böschung und ich klammerte mich an einem Ast fest, um nicht weggerissen zu werden. Nun kehrte auch meine Wahrnehmung wieder zurück, denn ich hörte ein Wimmern. Ohne Marlin loszulassen,  zog ich mich etwas höher um sicheren Boden zu haben.
„Marlin, wir müssen hier weg, das Wasser reißt uns beide mit“, keuchte ich, packte fester zu und versuchte ihn vorwärts zu ziehen.

 

 

Marlin selbst war nicht in der Lage mitzuhelfen. Als ich ihn anschaute, durchfuhr mich ein Schrecken, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Seine Jacke war rot, aber darunter, wo seine Beine herausragten schien sich das Rot der Jacke fortzusetzen, breitete sich aus in rasantem Tempo, über seine Hose, über das graubraune Gras und  es tränkte den Boden.
Er musste sich an dem Felsen das Bein aufgerissen haben. Bei dieser Menge Blut vermutete ich sogar eine Verletzung der Schlagader. Das Entsetzen packte mich, durchfuhr meinen ganzen Körper und für einen Moment gab ich jedes Denken auf.
Dann überlegte ich, ob ich zurückrudern sollte, um Hilfe zu holen. Würde ich es allein schaffen? Konnte ich Marlin sich selbst überlassen? Er würde verbluten. Aber nichts zu tun, das  hieße, jede Hoffnung von vornherein aufzugeben.

 

 

Gerade als ich mich entschlossen hatte, wieder rüber zu rudern, schlug Marlin die Augen auf und sah mich an. Er stöhnte nicht mehr. Seine Hand tastete nach meiner und seine Finger krallten sich um mein Handgelenk. Wo nahm er nur die Kraft her, streifte mich eine recht unsinnige Überlegung.
„Bitte“, seine Stimme war nur mehr ein Flüstern. „Geh nicht weg...“ Sein Blick ließ mich nicht los.
„Marlin, ich hole Hilfe, wir können hier nicht liegen bleiben. In kurzer Zeit wird diese Stelle überspült sein. Ich versuche, dich etwas höher zu ziehen, dass du außer Gefahr bist und dann beeile ich mich.“ Ich versuchte, meiner Stimme einen festen Klang zu geben, merkte aber, wie schwach und unsicher die Worte kamen. Marlin reagierte nicht, vielleicht war er in eine gnädige Bewusstlosigkeit gefallen. Ich sah, dass das Bluten aufgehört hatte und die Hoffnung, alles sei vielleicht gar nicht so schlimm, verdrängte

 

 

meine Angst für einen Augenblick. Doch sein Bein war merkwürdig verdreht. Ich erhob mich und packte Marlin unter den Achseln und kroch rückwärts, ungeachtet der Äste, die mir ins Gesicht schlugen. Im selben Moment stieß Marlin wieder einen Schrei aus, der unmenschlich war und bis in mein Innerstes hineinfuhr, all meine Organe vibrieren ließ. Nach etwa zwei Metern, die ich ihn weggezogen hatte, fiel ich erschöpft neben ihm auf den Boden. Nur eine Minute, dachte ich, ein kurzes Innehalten.... Dann sprang ich auf, kämpfte mich durch dass Gestrüpp zum Platz, an dem wir das Boot festgemacht hatten. Da war nichts mehr, das heißt, natürlich war da etwas. Wasser, gurgelndes, tobendendes, schießendes Wasser. Den Platz gab es nicht mehr, auch das Boot natürlich nicht. Ich glaube, ich habe geschrien, gebrüllt wie ein Stier, um Hilfe gerufen. Mein eigenes Geschrei vernahm

 

ich nicht und eigentlich wusste ich, dass es sinnlos war. Wer sollte mich hören? Das nächste Haus stand mindestens 500 Meter entfernt und Spaziergänger waren bei diesem Wetter bestimmt nicht unterwegs. Aber man handelt in derartigen Situationen manchmal instinktmäßig. Am Ende schrie ich wohl nur noch nach innen. Dann umfing mich das Rauschen des Regens und des Wassers, das sich seinen Weg bahnte.

Dies war der Moment, in dem ich wohl resignierte. Es gab keine Gedanken mehr, nur eine verzweifelte Leere. Wie eine Marionette kroch ich zurück, als werde ich von unsichtbaren Fäden gezogen.
Marlin lag unverändert, gekrümmt, mit verdrehten Gliedmaßen. Ich drückte mich an ihn und mein Zittern versetzte  auch seinen Körper in Bewegung.

 

 

„Weißt du, dass ich gern dein Freund gewesen wäre?“ Ich glaubte, mich verhört zu haben. Was sagte er da? Oder hatte ich es mit nur eingebildet? Doch er sprach weiter. „Weißt du, wie es ist, wenn man immer der Tollste, Beste, Größte sein soll, sich immer beweisen muss....“ Er hielt inne, keuchte und stöhnte. Irgendwie drangen die Worte nicht bis zu mir durch. Marlin war nun still, minutenlang. Dann öffnete er die Augen und in dem Dämmerlicht sahen sie ganz dunkel aus in dem bleichen Gesicht.
„Sei mein Freund, Luca, ja?“ Es lag etwas Dringliches in seiner Stimme und meine Worte formten sich wie von selbst. „Ich bin dein Freund, Marlin“, sagte ich und er schloss die Augen.
Ich weiß nicht, wie lange wir da lagen. Kurz streifte mich der Gedanke, dass ich hätte hinüberschwimmen sollen. Doch irgendetwas hielt mich fest hier – bei Marlin. Ich musste mit

 

 

ihm zusammen warten – worauf spielte keine Rolle mehr.

Und dann kamen sie, ich hörte Stimmen, Rufe tönten durch die Dämmerung und ich erblickte plötzlich Lichter, die auf die Insel zukamen. Fast bedauerte ich, dass die Stille aufgehoben war, die Marlin und mich umfangen hatte. Der Nebel schien dünner zu werden, noch einzelne Fetzen flogen vorüber, doch ich sah plötzlich alles klar – das was geschah und was geschehen war. Ich zitterte, ohne dass die Kälte mich erreichte.
Sie hatten es eilig, sich um mich zu kümmern, schirmten Marlin vor mir ab, brachten mich weg, hüllten mich in Decken und versuchten vergeblich, ihren Schrecken vor mir zu verbergen.

Sie dachten wohl, ich wisse nicht, dass er tot war.


 

 

Jetzt liege ich immer noch in dieser Klinik, weil sie meinen, ich brauche eine Behandlung meiner Seele. Vielleicht haben sie Recht und ich wehre mich auch nicht. Sie werden versuchen, mich von jeder Schuld freizusprechen. Dies jedoch kann ich nur selber tun, ob es mir je gelingen wird, das weiß ich nicht. Was aber gewiss ist, ich habe eine Grenze überschritten und hier liegt wohl auch meine Schuld.
Das Wochenendhaus ist nahezu von den Fluten zerstört worden. Auch die Häuser etwas weiter flussabwärts haben großen Schaden erlitten und wenn ich überlege, dass einige keine Wochenendhäuser sind, sondern dass hier Menschen dauerhaft wohnen, sonst kein Zuhause haben, dann möchte ich weinen.
Aber ich kann es nicht.

So ist das gewesen. Ich habe meine Wahrheit, mein wirkliches Erleben geschildert.

 

 

Hätte Marlin es gekonnt, seine Wirklichkeit hätte sich bestimmt ebenfalls von der in den Medien unterschieden, aber auch von meiner eigenen Wahrheit.

Eines aber wäre sicher eine gemeinsame unbestrittene Wirklichkeit gewesen, der Hauch von Freundschaft für einen Moment und ich hoffe nichts mehr, als dass er diesen Hauch wahrgenommen hat über seine Grenze hinaus.

 

 

Impressum

Text: (c) Enya K.

Coverbild:

m-o-d / pixelio.de

http://www.pixelio.de/media/257560

 

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Hörbuch

Über den Autor

Enya2853
1953 wurde ich in Husum geboren. Ich bin an der Nordsee und in Frankfurt aufgewachsen. Meine große Leidenschaft sind die Literatur und das Schreiben. Zahlreiche Gedichte und Geschichten von mir haben in Anthologien und Gemeinschaftsbüchern ihren Platz gefunden. Seit zehn Jahren schreibe ich Romane, von denen bislang sieben veröffentlicht wurden. In meinen Büchern zeichne ich menschliche Grenzsituationen, die immer von einem Funken Hoffnung begleitet werden. Letztes Jahr wurde mein erstes autobiografisches Werk veröffentlicht: Wenn der Raps blüht.
Zurzeit arbeite ich an der Fortsetzung. Arbeitstitel: Storchenjahre.
Ich habe Mathematik, Psychologie und Pädagogik studiert und war im Bildungsbereich tätig.
Inzwischen genieße ich das Rentendasein und die Beschäftigung mit meinen Enkelkindern. Ich bin außerdem als Lektorin und Korrektorin tätig.

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Enya2853 Re: -
Zitat: (Original von schnief am 13.06.2013 - 21:45 Uhr) wunderschön geschrieben



Wieder mal danke, Schnief. ich freue mich sehr.
Einen lieben Wochenendgruß
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Re: -
Zitat: (Original von Brigitte am 13.06.2013 - 18:23 Uhr) Du bist eine Meisterin der Erzählkunst liebe Enya. Es kommt keinen Augenblick Langeweile auf. Von vorn bis hinten mit Spannung geladen. Liebe Grüße Brigitte



Liebe Brigitte,

ein dickes Dankeschön an dich, meine treue Leserin.
Ich freue mich, dass dir die Geschichte gefallen hat.
Hab ein schönes Wochenende!
lg
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Re: Liebe Enya -
Zitat: (Original von Gelixx am 14.06.2013 - 08:42 Uhr) ich hatte schon an anderer Stelle...... du weißt

Was mich an dieser Geschichte so fesselt - sie ist so anders. Man liest sie und findet eine Menge darin, was einen auch selber betrifft und das hat mit der Handlung nichts zu tun.
Diese Geschichte hat ein Echo - lieben Gruß von Geli



Auch hier meinen Dank, liebe Geli.
Ja,vieles betrifft einen selber - auch wenn das reale Erleben anders ist, die menschlichen Probleme wiederholen sich doch.

Ich freue mich sehr, dass du auch hier noch mal gelesen hast, du treue Seele.

Ganz liebe Grüße
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
Enya2853 Re: liebe enya -
Zitat: (Original von derrainer am 14.06.2013 - 08:45 Uhr) 25 seiten , nicht gerade wenig ,
aber ich las es mit unterbrechungen --- einteilung aufteilung .
ein längeres zwiegespräch , oder die gedanken deiner probantin , als sie merkte dass der junge verstorben war , und ob sie es merkte .hatte ich vermißt.
aber du verstehst es vieles miteinzubauen und den leser mitzunehmen .
so als würde er es miterleben
lieben gruß zu dir rainer



Lieber rainer,
umso mehr erfreut es mich, dass du es trotz der Fülle gelesen und dir deine Gedanken gemacht hast. Ein großes Dankeschön dafür.

Meine Protagonistin ist ein ER, also ein Protagonist. Luca ist auch ein Jungenname.
Ich bekam diese geschichte von ihm erzählt, ist schon etliche Jahre her. Vielleicht würde ich sie auch anders schreiben - heute, in der Rückschau. Aber ich habe versucht Lucas Erzählen möglichst authentisch wiederzugeben.

Er wusste, dass Marlin tot war. Das wird ja in einem Satz auch deutlich gesagt.
Ich denke, er wusste in dem Moment als er resignierte, als etwas ihn unbedingt zu Marlin zog, dass er sterben wird.
Seine Gedanken könnte man viel tiefer herausarbeiten,da gebe ich dir Recht.
Aber es ging vermehrt um seine Schuldgefühle und um die verstellte Wahrheit durch die anderen, die er so für sich nicht annehmen kann.
Vielleicht könnte ich eine zweite Geschichte schreiben, mit Hauptaugenmerk auf einer anderen Sicht.

Nochmals: herzlichen Dank fürdeine kritischen Worte. Das hilft mir wirklich.
lg
Enya
Vor langer Zeit - Antworten
derrainer liebe enya - 25 seiten , nicht gerade wenig ,
aber ich las es mit unterbrechungen --- einteilung aufteilung .
ein längeres zwiegespräch , oder die gedanken deiner probantin , als sie merkte dass der junge verstorben war , und ob sie es merkte .hatte ich vermißt.
aber du verstehst es vieles miteinzubauen und den leser mitzunehmen .
so als würde er es miterleben
lieben gruß zu dir rainer
Vor langer Zeit - Antworten
Gelixx Liebe Enya - ich hatte schon an anderer Stelle...... du weißt

Was mich an dieser Geschichte so fesselt - sie ist so anders. Man liest sie und findet eine Menge darin, was einen auch selber betrifft und das hat mit der Handlung nichts zu tun.
Diese Geschichte hat ein Echo - lieben Gruß von Geli
Vor langer Zeit - Antworten
schnief wunderschön geschrieben
Vor langer Zeit - Antworten
Brigitte Du bist eine Meisterin der Erzählkunst liebe Enya. Es kommt keinen Augenblick Langeweile auf. Von vorn bis hinten mit Spannung geladen. Liebe Grüße Brigitte
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