Kurzgeschichte
Villa Bertramka

Einleitung

Auf Besuch in Prag... 29.05. - 2.06.2013 Musik: Wolfgang Amadeus Mozart KV 331 Klaviersonate Nr. 11, 1 Satz, Andante grazioso http://www.youtube.com/watch?v=ekq8Z-zj1rQ Pianist: Friedrich Gulda

Villa Bertramka

Wie sehr hatte ich mich auf diesen Tag gefreut, und jetzt spaziere ich im strömenden Regen die schmale Kopfsteinpflasterstrasse zur Villa Bertramka hinauf.
Tief in mir stecken Hektik und Unruhe, welche in den vergangenen Monaten so intensiv auf mich eingewirkt haben. Hier draussen, am Stadtrand von Prag, darf ich meinen Freund besuchen und ich bin mir sicher, er wird mich wieder auf andere Gedanken bringen.
Das grosse Bogentor steht offen. Ich brauche nicht zu klopfen und kann ungehindert den Garten betreten. Der

Schritt über die Schwelle bringt mich in eine andere Welt – die Zeit scheint stillzustehen. Von hier aus führt der Weg noch etwa dreissig Meter weiter leicht nach oben und schon befinde ich mich vor der Treppe zum Hauseingang. Etwas ausser Atem geraten, halte ich einen Moment inne.
„Wie wird er wohl reagieren, wenn ich einfach so unangemeldet auftauche?“, fragt mich mein inneres Ich.
Ach was, er wird sich freuen!“, gebe ich zurück und steige erwartungsvoll die fünfzehn Stufen hinauf. Unter dem Vordach – endlich im Trockenen – ziehe ich die Kapuze runter und schüttle meine Regenjacke ab. Ich bin überrascht, auch

die Haustür steht sperrangelweit offen. Ohne zu überlegen streife ich meine Schuhe über die Fussmatte und trete ein.

Von der Eingangshalle gelange ich über den blank polierten Parkettboden direkt nach links in ein grosses rechteckiges, nur spärlich möbliertes Zimmer. Durch den Türrahmen am andern Ende des Raums blicke ich in den nächsten Saal. Dort flutet zartes Licht durchs Fenster herein und kaum hörbare, feine Klavierklänge dringen zu mir. Sie locken mich magisch an. Doch ausser einem alten Flügel und zwei einladenden Polsterstühlen an der Wand gibt es auch da keine Möbel. Etwas ernüchtert setze

ich mich ins Licht und schliesse meine Augen.

Die leise Musik spricht mich an: „Wie schön, dass du gekommen bist, ich habe etwas für dich komponiert.“
Schwerelos, zwischen Traum und Wirklichkeit sehe ich meinen besten Freund mit einem schmunzeln im Gesicht am Klavier sitzen. Er nickt mir zu und lädt mich ein, gemeinsam mit ihm zu spielen. Obwohl ich das Klavierspielen nie erlernt habe, wandern meine Finger elegant über die Tasten. Mein Sein verschmilzt mit den herrlichen Tönen, die mich an den Ort der Erfüllung tragen. Hier treffe ich auf meine

Seelenverwandten: helles Licht, bunte Farben, duftende Blumenwiesen, frisches Wasser, Ruhe, Frieden, Freude – ein Zustand des vollkommenen Glücks. Es gibt kein Gestern und auch kein Morgen, alles geschieht im Jetzt, das weder Anfang noch Ende kennt. In mir breiten sich ewige Jugend gepaart mit reifer Alterswonne aus. Alles ist umhüllt von der zauberhaften Leichtigkeit der Melodie. Ich bin ein Teil des Ganzen, welches fortlaufend aus Freude heraus neu geboren wird.

Wieder lege ich mich in die Tasten und spüre im selben Moment, wie die Finger auf meine Oberschenkel drücken.

Verwundert öffne ich die Augen. Ich sitze auf einem Polsterstuhl. Ein einsamer Flügel steht im leeren Raum. Es dauert eine ganze Weile, bis ich wieder zu mir selbst finde. Dabei schweift mein Blick über die türkisfarbigen Wände und die Bordüren um den Türrahmen herum bis hin zu den Wandleuchtern; und ich geniesse die wundersame Energie, mit der dieses Haus gefüllt ist.

Hier, wo sich Wolfgang Amadeus Mozart einst ausgesprochen wohl gefühlt hat, durfte ich seiner tiefen Verbundenheit begegnen und pure Lebensfreude tanken.
Es hat aufgehört zu regnen. Zwischen hellgrauen Wolken lugen sogar ein paar

vorwitzige Sonnenstrahlen durch. Gestärkt und voller Elan schreite ich übers Kopfsteinpflaster hinunter Prag entgegen. Meine Vorfreude ist überschwänglich und ich kann es kaum erwarten, denn heute Abend noch wird in der Staatsoper die Zauberflöte aufgeführt.