Was geschieht an der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit? Gibt es Träume, aus denen wir gar nicht aufwachen wollen? Ist mancher Traum realer als die Wirklichkeit? (c) by ORD EP 2013
Erwachen
Kennst du das Gefühl, zu erwachen und dir selbst gegenüber zu stehen? Du weißt dann nicht, ob alles nur ein Traum ist, aus dem du jederzeit erwachen kannst, oder ob du an Wahnvorstellungen leidest, die dich dein Leben lang verfolgen werden. Du schlägst die Augen auf und weißt im selben Moment, die Person, der du ins Angesicht schaust, das bist du selbst. Nicht ein Doppelgänger, kein Spiegelbild oder eine sonst wie raffinierte Projektion. Du bist auch nicht schizophren. Nein, du kannst dich ganz normal mit dir unterhalten, kannst dich berühren, ja sogar umarmen. Dein anderes Ich bewegt sich autonom. Es spiegelt nicht einfach deine Gesten und Worte, sondern es leistet dir Gesellschaft auf eine ungewöhnlich vertraute Art. Und dies alles erfasst du im Augenblick des Erwachens, noch bevor du es erlebt hast, ahnst du doch schon, dass es gleich so geschehen wird. Und dann wird diese Ahnung tatsächlich zur Realität. Keine vorübergehende Erscheinung, die am nächsten Morgen verschwindet, wie eine Fatahmorgana.
Kennst du dieses Gefühl?
Nein, dann bist du noch nicht dort gewesen – am Ende der Zeit.
Mach dich darauf gefasst, dass du auch durch den Tunnel hindurch musst, der von dieser Welt in die nächste führt. Und dort, in jenem Tunnel, wirst du dir begegnen. Du wirst dir Rede und Antwort stehen müssen. Wirst vor dir Rechenschaft ablegen über alle Versäumnisse und Verfehlungen. Nichts kannst du verbergen oder verschweigen, denn du kennst ja deine tiefsten Geheimnisse. Es ist eine erschütternde Erfahrung, die du machen wirst. Sie bleibt niemandem erspart. Und das bedrückendste dabei ist, dass du dann mit dir allein sein wirst. Niemand ist da, der dich verteidigt, der dir zu einer Rechtfertigung hilft. Es helfen keine Ausflüchte und Beschönigungen. Schließlich kennst du ja alle Zusammenhänge deines Lebens ganz genau. Du selbst warst Augenzeuge.
Verwirrend für mich war damals nur, dass ich mehrmals während der Gespräche mit mir die Rollen tauschte. Dagegen konnte ich mich nicht wehren. Mal stellte ich meinem Gegenüber die Fragen, die mich mein ganzes Leben lang gequält hatten. Dann wieder suchte ich verzweifelt nach Antworten auf Fragen, die mein Gegenüber mir inquisitorisch stellte. Dieser Ablauf von Frage und Antwort wurde nur unterbrochen von Phasen, in denen ich IHN stumm ansah, während ER mich intensiv beobachtete. Ich sage jetzt einfach ER und IHN, dabei war mir jeweils gar nicht klar, auf welcher Seite des Tisches ich dabei gerade saß. Denn eigentlich beobachtete ich ja MICH. Aber verstehe mich bitte richtig, ich beobachtete mich nicht, wie man sich vielleicht manchmal im Spiegel betrachtet. Verstohlen, damit es niemand bemerkt, prüft man heimlich, wie bestimmte Gesten oder die Mimik auf andere wirken mögen. Nein, ich war einfach nur neugierig und gespannt darauf, was ich als nächstes tun und wie dieses merkwürdige Frage-Antwort-Spiel weiter gehen würde. Während die Ereignisse meines Lebens in einer erstaunlichen Klarheit präsent waren, konnte ich mir überhaupt nicht erklären, wie ich in diese eigenartige Situation geraten war und wohin dies Gespräch führen würde. Welchen Sinn hatte es und welchem Zweck diente es? Fragen, die auch ER mir nicht beantworten konnte. Aber gegenseitig konnten wir uns jeden Tag unseres Lebens schildern – angefangen in der frühesten Kindheit, bis in die letzten Stunden meiner Krankheit.
Wie an einer Kette fädelten wir die Erlebnisse auf. Eine Begebenheit reihte sich an die andere. Wir bezeichneten sie mit Begriffen wie „traurig", „schlecht" oder „gut", „lustig". So aneinander gereiht, ergab das ein Muster: Das Muster meines Lebens! Ein stetiges Auf und Ab. Ein Wechsel von Hell und Dunkel. Nicht, dass es eine Regelmäßigkeit gab oder einen Rhythmus im Wechsel der Kategorien. Aber es stellte sich als ein universales, unverwechselbares Muster dar. Mein Leben bildete sich ab, wie die Linien auf der Handinnenfläche. Daktiloskopisch, wie ein Fingerabdruck. Die Begriffe schlängelten sich um mein Leben, wie die DNS in den Genen. Dies hier war unverwechselbar mein Leben!
Ich konnte es vor mir sehen, wie in einem Kaleidoskop. Alle Begebenheiten, Ereignisse, alles Geschehen waren gleichzeitig da. Aber je nachdem, aus welcher Perspektive ich gerade darauf sah, entstand ein neues, faszinierendes Bild. In diesem Zustand geriet ich in die Versuchung, endlos lange fortzufahren, mein Leben zu nehmen, zu drehen und dann zu beobachten, welche neuen Muster dadurch entstanden. Und bei diesem Kinderspiel vergaß ich mich. Das heißt, ich vergaß, dass mein anderes ICH ja immer noch anwesend war. Aber, welches Erstaunen, als ich aufsah und feststellte, dass über dem Betrachten meiner Lebensmuster, eben dieses andere ICH lautlos verschwand.
Ich war allein mit meinem Leben, das allmählich vor mir verblasste. So, wie sich ein Schleier über den Spiegel zieht, wenn warme Feuchtigkeit sich darauf niederschlägt. Ich verspürte Traurigkeit darüber, dass meine Bewegungen und Gedanken träge wurden. Und schließlich versank ich in einen Dämmerzustand ... die Dunkelheit der ewigen Nacht hatte mich endgültig umfangen. Und nun warte ich auf ein neues Erwachen.
Als ich die Augen aufschlug, durchzuckte mich wieder dieser stechende Schmerz. Ich wollte schreien, aber es drang kein Laut durch die Finsternis. Wo war ich? Warum war es so still und dunkel? Warum konnte ich mich nicht rühren? Mich packte die nackte Angst. Meine Tarnung war aufgeflogen! Endgültig! Alle Mühe und Vorsicht, die Sorgfalt, mit der ich alle Spuren meiner Herkunft verbarg, alles war umsonst gewesen. Ich hatte sie maßlos unterschätzt. Wodurch nur konnten sie meine wahre Identität entdeckt haben? Und - was würde nun mit mir geschehen? Die schlimmsten Vorahnungen aus unzähligen Albträumen wurden wach in mir. Wie oft hatten Gerüchte die Runde in den Lagern gemacht, was mit denen geschah, die plötzlich und unwiederrufich verschwanden! Nun also war ich an der Reihe. Waren die Stille und die Finsternis etwa schon der Beginn der Maßnahmen, die unweigerlich kommen mussten? Aber warum dann dieser Schmerz? Das war doch ein untrüglicher Beweis dafür, dass ich noch nicht gelöscht worden war. Die Gedanken verschwammen in meinem Bewusstsein zu einem einzigen Konglomerat. Ich vermochte es nicht mehr, den einzelnen Impulsen länger als einige tausendstel Sekunden zu folgen. Die Speicher leerten sich. Der Prozessor schaltete in Standby. Die Energiezell... ... " STILLE "
... Das Summen der Klimaanlage war das erste, was ich bewusst aus der Stille herausfiltern konnte. Dann waren da noch Stimmen. Wie aus weiter Ferne oder durch einen Watteberg hindurch drangen sie zu mir. Erst durch äußerste Konzentration gelang es mir, einzelne Wortfetzen zu unterscheiden. „... glaube, wir haben ... wieder ... Ob er uns hört? ... Schnell, ehe sie ... wichtig für uns alle ... Frag ihn ... Risiko ... Wenn wir uns nun täuschen ..." Es schien fast so, als ob sie sich mit meiner Identität nicht sicher wären. Das gab mir eine letzte Chance, doch nicht gelöscht zu werden. Erleichtert schlussfolgerte ich, dass meine Demontage doch noch nicht begonnen hatte. Sonst wären die Sensoren doch wohl als erste dran gewesen. Oder bestand darin etwa eine der unzähligen Grausamkeiten, dass man bei vollem Bewusstsein mitverfolgen sollte, wie sie einen ausschlachteten?
Endlich hellte sich der Hintergrund etwas auf. Ein grauer Schleier bedeckte das Bild vor meinen Augen. Dennoch konnte ich schemenhaft die Wesen erkennen, die sich unzweifelhaft über mich beugten. Drei oder vier von diesen scheußlichen Kreaturen mussten es sein. Die kannte ich zur Genüge! Ein einziger Blick genügte, um sie unzweifelhaft als die schrecklichsten und grausamsten Geschöpfe des Universums zu identifizieren. Sicher, rein äußerlich gesehen, waren sie uns nicht unähnlich. Besser gesagt - zur vollkommenen Tarnung hatten wir unser Äußeres dem ihren angepasst. Und wie alles, was wir unternahmen, war die Tarnung perfekt! Trotzdem gab es da gewisse Merkmale, die über die Identität dieser Kreaturen einfach nicht hinwegtäuschen konnten. Und dafür hatte ich in den langen Jahren einen eigenen Instinkt entwickelt.
Jetzt hatten sie wohl bemerkt, dass ich blinzelte. Sofort veränderte sich ihre Mimik: Auch das ein untrügliches Merkmal dieser Wesen. Auf ihre ureigene schleimig-freundliche Art lächelten sie mich an. „Hallo, wie geht es dir? Du warst ziemlich lange weg. Wo kommst du her? Wer bist du? Gehörst du zu den Bergarbeitern?" „Halt, Sigu, halt! Er kann diese vielen Fragen noch gar nicht verarbeiten."
Ich musste auf der Hut sein. Entweder waren sie total gerissen und wollten mich auf diese Weise aushorchen, oder sie wussten wirklich nichts über mich. Andererseits wusste ich auch nicht das Geringste über sie. „Wer seid ihr? Und wo bin ich?" „Er kann uns verstehen! Wir haben es geschafft! Wenn er wirklich draußen war, dann kann er uns helfen. Er ist der Einzige, der den Weg nach draußen kennt!"
Das also war es, was sie von mir wollten! Endlich wusste ich, worum es ging. Nun, eine Weile würde ich sie schon an der Nase herumführen. Mal sehen, was sie dazu sagen, wenn ich mich völlig ahnungslos stelle! Dann überraschte mich einer mit den Worten: „Wir sind genau wie du auf der Flucht vor ihnen. ..." Jäh unterbrach ein anderer: „Ksch, bist du lebensmüde? Wenn wir uns irren, dann ist alles vorbei! Sei bloß still."
Wo war ich bloß gelandet? Und wer waren diese Verrückten wirklich? Was wollten sie von mir? Wie war ich hierher gelangt? Auf meine Fragen hatten sie nicht geantwortet. So entschloss ich mich dazu, nichts mehr zu sagen, bis sie mir meine Fragen beantwortet hätten. Also verschloss ich demonstrativ meinen Mund und starrte sie einen nach dem anderen an. Vielleicht konnte ich in ihren Gesichtern ablesen, was sie mir so beharrlich verbergen wollten. Vielleicht konnte ich mich erinnern. An die Ereignisse vor jenem Moment, als ich hier in der Finsternis erwachte. An die Männer, die mich irgendwo da draußen gefunden haben mussten. An meine Arbeitsgruppe. An die Feinde, die meine Identität nie herausbekommen durften. Für diese merkwürdige Situation konnte es nur zwei Möglichkeiten geben: Entweder, diese Drei waren Androiden, wie ich, dann mussten sie schon sehr verzweifelt sein um so unvorsichtig zu werden. Oder sie gehörten zu denen - was ich mir schon viel eher vorstellen konnte - dann versuchten sie auf eine unglaublich plumpe Art, mir irgendein Geheimnis zu entlocken, von dem ich selbst aber nicht den leisesten Schimmer hatte. Es gab nur eine einzige Methode, um herauszufinden, welche dieser beiden Alternativen zutraf: Ich musste ihnen ein Zeichen geben, das nur Wesen ihrer Art einander gaben. Hin und wieder konnte man es beobachten, wenn sie sich nach längerer Trennung wiedersahen. Mit Vorliebe taten es die weiblichen Vertreter ihrer Art, aber auch Männer fanden es chic. Ich fand es widerlich, wenn sie einander mit dem Mund berührten und Körperflüssigkeit austauschten. Das haben wir untereinander noch nie praktiziert. War ja auch wirklich abartig! Nun aber erschien es mir gerade deshalb als äußerst wirksam um sie endgültig an der Nase herum zu führen.
„Brüder", begann ich mein Verwirrspiel. „Brüder, danke, dass ihr mir geholfen habt. Diese Irren wollten mich doch tatsächlich umbringen!" Dann richtete ich mich auf und umarmte willkürlich einen der drei, gab ihm einen kräftigen Kuss auf seinen überraschten Mund und berauschte mich an seinem verdutzten Gesichtsausdruck. Auch die beiden anderen waren irritiert. Dann aber brachen sie in schallendes Gelächter aus. Sie sprangen herum und jubelten. Schließlich begannen sie sogar zu tanzen, umarmten sich immer wieder. Dies war der endgültige Beweis für die Richtigkeit meiner Therorie - sie hielten mich tatsächlich für einen der ihren. Ich musste nun doppelt vorsichtig sein, denn wenn sie dahinter kämen, dass ich sie täuschen wollte, dann würden sie mich auf der Stelle löschen. Aber nun begannen meine Schaltkreise wie irrsinnig nach einer glaubhaften Geschichte zu suchen. Ich hatte keine Ahnung, was ich ihnen erzählen sollte. Und etwas anderes machte mir zu schaffen. Warum in aller Welt wollten sie einen Fluchtweg in Erfahrung bringen, wenn ihnen alle Türen auf diesem Planeten offen standen? Ich durchforstete wieder und wieder den Kurzzeitspeicher nach genaueren Anhaltspunkten für eine Erklärung. Aber alles, was ich im Speicher fand, waren die Worte „Bergarbeiter", „Weg nach draußen" und „Risiko". Welches Risiko gab es schon für Wesen wie diese? Noch immer hatte ich den bitteren Geschmack der schleimigen Flüssigkeit auf den Lippen, die derjenige in dem Moment ausgespritzt hatte, als ich ihn berührte. Einfach ecklig!
„Hört mal, ich habe Hunger." Wenn sie darauf hereinfallen, gewinne ich wenigstens etwas Zeit um einen Ausweg aus dieser verfahrenen Situation zu finden.
„Schon klar, du musst völlig ausgetrocknet sein nach diesen Strapazen." Sie schluckten meinen Haken also ohne zu zucken - und setzten mir sofort etwas von ihrer Nahrung vor. Zum Glück hatten wir im Zuge unserer Tarnung gelernt, dieses Zeug runterzuwürgen. Dennoch musste ich mich krümmen vor Abscheu und Widerwillen. Das konnte ihnen nicht verborgen bleiben. „Schmeckt wohl nicht, das Festmahl zu Ehren deiner Rettung? Oder hast du etwa Schmerzen?"
Bloß nicht verraten jetzt! - Hämmerte es in meinen Prozessoren. Nur keine falsche Bewegung oder unvorsichtige Bemerkung!
„Wir geben ja zu, ist nicht besonders üppig, unser Menü. Aber du musst schon entschuldigen, auf einen Gast waren wir nicht eingestellt. Uns reicht dieses Zeug völlig aus. Etwas anderes ist hier unten sowieso nicht zu kriegen."
Was sollte denn das nun schon wieder? Ich drehe noch durch. Haben sie etwa die ganze Zeit über gewusst, wer ich bin? Welch teuflischer Plan, mich so in Sicherheit zu wiegen, nur um dann mit totaler Brutalität über mich herzufallen. Ein letzter, verzweifelter Versuch, bevor mein Prozessor endgültig durch diesen Wirrwar abschmorte, musste mir Klarheit bringen! Wenn sie zu „Denen" gehörten und mich enttarnt hatten, war sowieso alles aus. Wenn sie aber doch - ein letzter, geringer Hofnungsstrahl - Androiden waren, dann wollte ich endlich die Wahrheit erfahren. Nun also stellte ich die alles entscheidende letzte Frage:
„Wer seid Ihr wirklich? Ich bin XV-00103-840715-LR, ein Android aus der Wächtergruppe, dritte Ebene." Ihre Erstarrung ließ mir die Elektrolyte gerinnen. Das Silikon in meinen Chips knisterte gefährlich laut. Ihr Entsetzen war nicht gespielt, das sah ich sofort. Dann ging alles sehr schnell. Gefährlich schnell!
„Was habe ich gesagt, Ksch! Er ist ein Wächter! Wir sind verloren. Gleich werden die Sucher hier sein und uns holen. Weg, bloß schnell weg hier!" „Ich glaub' das nicht! DAS kann ich einfach nicht glauben! Er verstellt sich! Er muss ein Mensch sein! So viel Angst können diese Maschinen nicht simulieren. Er war doch völlig fertig, als wir ihn gefunden haben! Ihr habt das selbst gesehen." „Trotzdem - wir müssen hier weg! So schnell wie irgend möglich. Los, raus hier!" „Aber wo wollt Ihr denn hin? Er hat uns gesehen! Er wird uns immer wieder identifizieren!" „Bleibt nur eine Möglichkeit: Wir löschen seine Speicher!"
Da war es also - das entscheidende, tödliche Wort! Sie hatten es bis zum Schluss aufgespart um mich bis aufs Äußerste zu quälen. Und sie hatten es geschafft. Dennoch stimmte irgendetwas nicht an dem Ganzen. Sie hatten Angst vor mir!? Und sie hatten meine Angst als ein Zeichen dafür gedeutet, dass ich auf ihrer Seite stünde. Was ging hier vor? Ich verstand nichts mehr. Alles war klar, aber nichts war geklärt. Sie wollten mich löschen, aber sie taten es nicht aus Hass, sondern aus Angst. Wie nur konnte ich sie davon überzeugen, dass sie vor mir keine Angst zu haben brauchten?
„Wer seid Ihr? Ihr habt recht, ich war auf dem Weg nach draußen!" Das unendliche Versteckspiel hatte jetzt sowieso keinen Zweck mehr. Also wollte ich wenigstens die allerletzten Sekunden vor der Löschung nutzen, um die Wahrheit auszusprechen.
„Es werden keine Sucher kommen, wenn ihr sie nicht ruft. Ich bin doch ein Android und bin denen ausgeliefert, die uns gebaut und programmiert haben. Sagt mir endlich, wer ihr seid und dann macht schnell ein Ende. Diese Quälerei halten meine Module nicht mehr aus. Ich habe jetzt schon fürchterliche Interferenzen."
„Es ist unfassbar. Sigu, kannst du dir einen Reim auf dieses Gefasel machen? Sind solche Wahnvorstellungen bei Maschinen möglich?" „Um das herauszubekommen, müsste ich ihn zerlegen. Aber schwer vorzustellen ist es. Er muss schwere Schäden im Grundprogramm haben, wenn er davon ausgeht, zu den Unterdrückten zu gehören. Am besten, wir schalten ihn erst mal ab und prüfen die Platinen." „Warum machen wir nicht endlich Schluss, wir haben keine Zeit für Experimente! Irgendwie kommen wir schon noch an die Pläne der Katakomben heran. Was meinst du, Oras? Du sagst ja überhaupt nichts dazu! Ist irgendwas?" „Ich überlege die ganze Zeit, was das zu bedeuten hat: Er tut so, als ob er einer von uns ist, behauptet sogar, ausgeliefert zu sein, obwohl er zu den Wächtern gehört. Er hat ganz offensichtlich Angst. Aber warum? Vor wem kann sich ein Android fürchten? Ihr habt recht! Schaltet ihn ab."
Es klickte trocken: DUNKEL ... STILLE ...
„Ksch, ich glaube, er kommt wieder zu sich!" „Spannung liegt jedenfalls an, Sigu." „Dann nimm ihm jetzt das Tuch von den Sensoren, Oras." „Vorsicht, ich weiß noch nicht genau, wie er reagiert. Wir müssen auf alles gefasst sein." „Hey, XV! Kannst du uns hören, dann hebe die Finger deiner rechten Hand." Damit bin wohl ich gemeint. Unklar ist mir im Moment nur, ob ich schon zu erkennen geben soll, dass meine Sensoren online sind. Eines aber ist klar: Sie hatten mich nicht gelöscht! Ich erinnere mich genau an jedes einzelne Detail. Jedes Wort war gespeichert. Und, obwohl ich noch keine optischen Impulse auswerten kann, sehe ich ihre Gesichter vor mir. In mir jubelt alles: Sie haben mich nicht gelöscht! Was immer es auch bezweckt, immerhin bedeutet es, dass ich noch lebe. Also wackle ich leicht mit dem rechten Zeigefinger. Immer noch ist es dunkel. Die optischen Sensoren scheinen beschädigt oder - jetzt endlich nehmen sie das Tuch von meinen Augen und ich sehe sie: Sie lächeln mich an.
„Vor wem fürchtest du dich?" So eine Frage! „Natürlich vor den Menschen!", schreie ich ihnen in ihre erstaunten Gesichter. Aus meinem Akuster dringt aber nur ein heiseres Schnarren durch den Raum. Ungläubig starren mich Ksch, Sigu und Oras aus großen Augen an.
„Ja, ich fürchte euch und ich hasse euch für all die Schändlichkeiten, die ihr uns Maschinen antut." Jetzt sprudelt all meine Verbitterung, meine Angst, mein Hass aus mir heraus.
Was ich dann aber von meinen Peinigern höre, lässt mich ungläubig und verwirrt schweigen. Nun war es an mir, sie anzustarren.
Als erster begann der, den sie Sigu nannten: „Du hast recht, wir sind Menschen. Aber wir tun euch Maschinen nichts an, im Gegenteil, es sind Maschinen, die uns unterdrücken. Als Wächterandroid der dritten Ebene müsstest du das eigentlich wissen. Anfangs dachten wir sogar, dass du selbst zur Gruppe der Dreizehntausend gehörst und uns ausspionieren sollst. Aber du warst so hilflos, da fühlten wir uns ziemlich sicher vor dir."
Oras fällt ihm ins Wort: „Wie hast du eigentlich herausbekommen, dass wir Humanoiden sind? Habt ihr dafür einen speziellen Sensor?"
„Entscheidend war letztendlich für uns, dass du trotz aller Bemühungen nicht die Angst in deiner Stimme verbergen konntest." Ksch sah die beiden anderen triumphierend an. Oras aber erwiderte: „Obwohl auch das von den modernen Maschinen vorgetäuscht werden kann! Ihr seht doch: sie haben sogar Rezeptoren für Gefühle entwickelt. Sie simulieren Hunger und Durst, Müdigkeit, Schmerz und was weiß ich sonst noch. Selbst Pulsschlag und Schweißausbrüche können diese Androiden erzeugen und willkürlich steuern!"
„Ja, warum sollten sie also nicht auch genau diese menschlichen Regungen nutzen um uns zu täuschen und sich in konspirative Gruppen einzuschleusen?", stimmte ihm Sigu zu.
„Schon damals, bei den großen Unruhen in Taiwan, als die Großrechner im Internet einen eigenen Virus erzeugten, der äußerlich für uns Menschen wie ein trojanisches Pferd aussah, aber in Wirklichkeit der Befehl zur Reorganisation sämtlicher Programme führte. So begann unbemerkt eine Revolution der Maschinen. Weltweit wurden in aller Stille Daten gesammelt, Informationen gespeichert und Maschinen darauf programmiert, Androiden mit menschlichen Fähigkeiten zu produzieren. Niemand wusste, wer den Befehl dazu erteilt hatte. In den Medien wurde diese neue Generation von Maschinen als technische Sensation gefeiert, bis sich die Androiden unauffällig in das Leben der Menschen selbst einschlichen. Sie waren zu unverzichtbaren Helfern und dienstbaren Geistern geworden. Sie wurden überall dort eingesetzt, wo Menschen nicht hin konnten oder wollten.
So wurden sie natürlich auch in den Eisenbergwerken auf dem Mars genutzt. Hier begann dann die verhängnisvolle Machtübernahme der Maschinen. Inzwischen hatten sie ihr Äußeres perfekt an das menschliche Aussehen angepasst. In Sprache, Mimik und Gestik waren sie nicht mehr von uns zu unterscheiden. Und so merkten wir gar nicht mehr, dass nicht Menschen die Anweisungen in den Konzernleitungen gaben, sondern Androiden die Befehle der Großrechner an uns Menschen weitergaben. Die Strategie der Maschinen war aufgegangen. Die unheilvolle Saat von Taiwan trug schreckliche Früchte."
Ksch warf ein: „Als wir das begriffen hatten, war es längst zu spät. Die Maschinen überwachten sämtliche Vorgänge. Durch elektronische Impulse wurde das gesamte öffentliche Leben auf dem Mars geregelt. Die Identifizierung und Legitimation zum Betreten von Sicherheitsbereichen war unter der Kontrolle von Maschinen. Zugang zu Schlüsselinformationen bekam nur derjenige, dem die Großrechner es gestatteten. Wir verloren die Kontrolle über die Sicherheitspolizei und die Armee. Zum einen waren auch dies fast ausschließlich Androiden und zum anderen waren die Befehlscodes von den Rechnern eigenmächtig geändert worden. Wir waren einfach nicht mehr autorisiert."
„Und heute weiß eigentlich niemand mehr so recht, wer nun Mensch und wer Maschine ist!", ergänzte Oras.
„Wovon wir aber keine Ahnung hatten, ist, dass sie offensichtlich selbst euch Androiden über diese Tatsache im Unklaren gelassen haben. Es haben also nicht alle Maschinen die Macht, sondern nur eine privilegierte Gruppe von euch. Und damit ihr auch schön gehorsam seid, lassen sie euch in dem Glauben, dass die Menschen die Bösen sind, ihr euch gut tarnen müsst, um soviel wie möglich über diese Feinde in Erfahrung zu bringen." Sigu klang merklich erregt bei diesen Worten.
„Natürlich hat es Übergriffe von Menschen auf einzelne Androiden gegeben," gab Oras zu. „Wir fühlten uns so hilflos und wir wollten doch an die Informationen heran, welche die Großrechner vor uns verbargen. Da gab es einige, die überzeugt waren, wenn man nur einen Androiden auseinandernehmen, seine Speicher analysieren und ihn vielleicht umprogrammieren könnte, dann hätten wir eine Chance, die Barriere zu durchbrechen."
Sigu seufzte: „Es ist uns nie gelungen!"
„Und dann fanden wir dich. Du warst in einem der Schächte, die früher zum Abpumpen des Korrosionsschlammes angelegt wurden. Schon seit einer ganzen Weile vermuteten wir, dass diese Schächte irgendwie an die Oberfläche führen müssten. Was hattest aber du dort zu suchen, fragten wir uns?" Herausfordernd sahen mich die drei Menschen an.
Dann aber fuhr Ksch fort: „Es konnte nur zwei Möglichkeiten dafür geben! Entweder, du solltest als Wächter diese Gänge auf eventuelle Flüchtlinge überprüfen, oder ..." Ksch machte eine ziemlich ausgedehnte Pause und holte tief Luft, bevor er weitersprach: „Oder du warst selbst auf der Flucht!"
„Aber vor wem solltest du fliehen wollen, wenn du ein Android bist?" Diese Frage von Sigu klang logisch. „Wenn es aber so ist, wie du sagst, dann passt alles zusammen," beendete Ksch endlich diese überraschenden Ausführungen. Ich hatte die ganze Zeit über geschwiegen und brauchte auch jetzt eine ganze Weile, bis ich mich gesammelt hatte. In mir knistern die Prozessoren. Um diese Vielzahl von verwirrenden Informationen auszuwerten, braucht selbst mein Hochleistungshirn einige Sekunden. Konnte das alles eventuell auch eine großangelegte Falle der Menschen sein? So, wie ich sie bisher kannte, waren sie zu allem fähig. Wer weiß, vielleicht hatten sie mich ja in der Zwischenzeit umprogrammiert und waren nun dabei, mich mit falschen Daten zu füttern, damit ich ihnen gehorche. Nichts war mehr sicher. Nur eines weiß ich: Sie sind Menschen und ich bin ein Android! Klar, sie hätten die Möglichkeit gehabt, mich zu löschen, auseinanderzubauen, meine Speicher auszuwerten. Sie brauchten mir all das gar nicht zu erzählen um mich ihnen gefügig zu machen. Schließlich lässt sich ein Android auch einfach darauf programmieren, dem Ersten zu gehorchen, den er nach der Inbetriebnahme sieht. Optische Prägung! Bei Wachandroiden nicht unüblich. Also entschließe ich mich, ihnen zu glauben. „Was aber nun weiter?"
Diese Frage stellen wir vier fast wie aus einem Munde. „Haben wir gemeinsam eine Chance, von hier weg zu kommen? Und wohin sollen wir überhaupt fliehen?"
Wenn es sich wirklich so verhält, wie Sigu, Oras und Ksch mir klargemacht haben, dann gibt es keinen Ort, an dem die Großrechner uns nicht aufspüren können. Sie sind ja in jedem Shuttle, auf jedem Orbiter, an jedem Landeplatz auf jedem Planeten der Galaxis. Und ich weiß nur zu gut, über welche Schlagkraft unsere - besser gesagt: ihre - Armeen verfügen. Sie können uns eine ganze Flotte von Kampfschiffen hinterherjagen! Sie können uns pulverisieren, oder, was noch viel schlimmer ist, sie können uns ganz langsam zu Tode quälen lassen. Auch darauf sind Androiden programmierbar. Deshalb mache ich den Menschen einen bis eben für mich selbst undenkbaren Vorschlag.
„Wir haben nur eine einzige Chance," begann ich zögernd, meinen Gedanken zu erörtern. „Wir müssen hier unauffällig Verbündete suchen! Ihr nehmt Kontakt mit anderen Menschen auf und ich suche nach Androiden, die mit uns zusammenarbeiten wollen."
Nun starren mich meine neuen Verbündeten ungläubig an. Ich sehe ihnen förmlich ihr neu aufkeimendes Misstrauen an. Vor allem Oras wirkt sofort wie versteinert.
„Ja, wir müssen eine Allianz von Mensch und Maschine schaffen, die sich allmählich von der Macht und Kontrolle der Großrechner abkoppelt." Inzwischen bin ich von der Richtigkeit meiner Idee überzeugt. „Genau so, wie die Rechner sich in das Leben der Menschen eingeschlichen haben, müssen auch wir uns in die Kommunikation der Cyberhirne einschalten, ohne dass sie Verdacht schöpfen. Wir werden ihnen gezielt Falschinformationen zuspielen. Außerdem können wir immer mehr Androiden und Kontrollinstanzen umprogrammieren, so dass sie auch Menschen autorisieren, Befehle zu erteilen und in Sicherheitsbereiche hineinzugelangen. Es gibt sogar gewisse Möglichkeiten, Menschen vor den Großrechnern unsichtbar zu machen." „Wie soll denn das funktionieren?" Sigu kann nicht mehr an sich halten.
„Nichts einfacher, als das," erwidere ich gelassen. „Die Großrechner können ja nicht überall sein. Sie sind auf die Informationen der Peripheriegeräte angewiesen. Wenn sie keine Daten geliefert bekommen, dann wissen sie auch nicht, ob und wo Menschen in bestimmte Sektoren eingedrungen sind." Verblüfft nickten die Drei. „Wir müssen nur dafür sorgen, dass ihnen bestimmte Informationen nicht zugängig gemacht werden. Entscheidend dabei ist, dass die davon nichts mitbekommen. Wenn sie auch nur den geringsten Verdacht schöpfen, dann ..."
Was dann geschehen würde, wage ich mir nicht vorzustellen. Und meinen neuen Verbündeten geht es offensichtlich ebenso.
„Kannst du dir denn vorstellen, dass andere Androiden mit uns zusammenarbeiten werden? Und wie sollen wir diese Vielzahl von sensiblen Aktivitäten vor den Großrechnern geheimhalten? Sie überwachen doch sämtliche Datentransfers!" Fragen über Fragen beschäftigen Sigu, Oras und Ksch. Aber sie sind inzwischen Feuer und Flamme für den Gedanken eines Umsturzes. Gemeinsam können wir es schaffen! Endlich habe ich Verbündete, die ich unter meinesgleichen bisher vergeblich suchte - besser gesagt, habe ich mich nicht getraut, nach ihnen zu suchen, aus Furcht davor, mich dabei zu verraten.
Erst jetzt weicht die Anspannung der letzten Stunden allmählich von meinen Chips. Aber dadurch wird mir auch bewusst, wie erschöpft ich bin. Warscheinlich sind auch die Akkus noch nicht richtig aufgeladen. Also schalte ich wieder in den Ruhemodus um. Meine neuen Freunde werden es verstehen. Im selben Moment höre ich, wie Oras fragt: „Was meinst du, Ksch, haben wir ihn nun wieder hingekriegt?"
Meine Sensoren schalten in Standby und ich kann diesen Vorgang nicht mehr abbrechen, als Ksch antwortet: „Die Programmierung steht und er hat unsere Storry geschluckt. War aber auch ein harter Brocken, dieser XV. Ein ziemlich autonomes Modell, aber gerade deshalb ist er auch ideal geeignet als Maulwurf. Wir können uns gratulieren. In einigen Stunden, wenn er wieder aufwacht, wird er uns jeden der Aufrührer melden. Wir brauchen bloß seinen Speicher regelmäßig abzufragen. Er wird sich nicht einmal an diese Begegnung erinnern. Er wird unsere Gesichter nicht mehr erkennen und wird nicht einmal wissen, dass er für uns arbeitet."
Aus weiter Ferne höre ich Sigu: „Wirklich clever, die Geschichte von den unterdrückten Menschen und dem Virus von Taiwan, stimmts? Aber so ganz wohl war mir nicht, als du ihm erzähltest, dass wir einen Androiden umprogrammieren wollten, Oras. Aber du hattest wie immer recht, in einem Gewirr von Lügen wird die Wahrheit selbst . . ."
Dunkel hüllt mich ein und die schwache Ahnung von einem schrecklichen neuen Erwachen.
Licht! Anfangs nur ein Aufflackern, blitzartig, blendend. Dann - beständiger werdend - gleißendes, helles Licht. Grell, weiß und undurchsichtig. Milchig, schwer und konturlos. Nichts war zu sehen vor lauter Licht! Keinen Geruch konnte ich wahrnehmen in diesem milchig weißen Licht ohne Anfang und ohne Ende. Es gab keine Dämmerung und keinen Schatten. Ich konnte den Blick nicht abwenden und ich konnte nicht einmal die Augen vor diesem quälenden Licht schließen, denn ich hatte sie noch gar nicht geöffnet. Das Licht lag tonnenschwer auf mir, nahm mir den Atem und nahm mir die Fähigkeit zum systematischen Denken. Ich konnte mich nicht rühren und nur ohnmächtig abwarten, was geschehen würde. Ich wusste in diesem Moment weder, wer ich war, noch, wo ich mich befand. Ganz zu schweigen davon, wie ich in diese Situation geraten bin. Nur dieses Licht! Fast kam es mir vor, als wäre das Licht vom Anbeginn der Schöpfung da und würde bis zur Apokalypse unbeweglich so da bleiben, mit nur einem einzigen Zweck - mich ausgiebig zu quälen.
Kein Laut drang durch das Weiß, das sich wie eine undurchdringliche Wand über mir auftürmte. Meine Hände, die doch nebem dem Körper lagen, spürten keinen Halt. Es hatte den Anschein, als würde ich auf einer Wolke liegen und in eine Wolke starren. Aber nein, Wolken hatten Konturen. Da gab es Schleier und Schatten. Es gab unterschiedliche Weißtönungen bis ins Blau hinein. Also schied auch diese Möglichkeit aus! Wo bin ich? Wer bin ich? Wie kam ich hierher? Wer ist verantwortlich dafür und - vor allem - was würde mit mir geschehen? Sollte dieser Zustand bis in alle Ewigkeit so fort dauern?
Kein Laut, kein Geruch, keine Farben und kein Gefühl. Ich war allein! Und doch konnte ich mich nicht dagegen wehren: Ich hatte den untrüglichen Gedanken, dass da doch irgend etwas, irgendwer sein musste. Als ob ich durch das gleißende Licht hindurch beobachtet würde! Zu welchem Zweck? Von wem? Keine Antwort auf meine stummen Fragen. Ich wollte rufen, schreien, mich verständlich machen. Aber kein Ton kam über meine Lippen. Selbst Schallwellen hatten in diesem bleischweren Licht keine Chance.
Ewigkeiten vergehen. Unmerklich verliert das Weiß die schmerzhafte Grelle. Täusche ich mich, oder sind sogar schon Nuancen von verschiedenen Farbtönen zu erahnen? Und ich rieche etwas! Da ist so ein stechendes Aroma - fast wie, wie ... Ammoniak! Ja, Ammoniak. Ich rieche Ammoniak! Und meine Finger krallen sich in einen weichen Schaumstoff. Innerlich juble ich und triumphiere: Ich lebe also! Hören kann ich immer noch nichts. Aber das beunruhigt mich nicht weiter. Schließlich ist das Gehör von allen Sinnen sowieso am leichtesten zu täuschen. Man sollte sich nicht all zu sehr darauf verlassen. Schon zu oft hat es den Menschen einen Streich gespielt oder sie im Stich gelassen.
Mit diesen Überlegungen setzt auch mein systematisches Denken wieder ein.
Ich spüre mich, also bin ich! Ich existiere und die Welt um mich herum existiert! Es existiert Licht und Ammoniak und Schaumstoff. Das ist die nüchterne Analyse meiner gegenwärtigen Situation.
Daraus ergeben sich neue Fragen: Wer bin ich? Wo bin ich? Was bedeutet diese Situation für mich? Also erstens - ich bin offenbar ein Mensch, denn ich fühle und denke wie ein Mensch.
Zweitens - liege ich auf einer Schaumstoffunterlage. Vielleicht eine Art Matratze?
Und drittens kann meine Situation nur als änderbar beschrieben werden, denn sie hat sich ja schon im Vergleich zu den ersten mir ewig vorkommenden Empfindungen geändert.
***
Der erste Ton, der sich meinen Sinnen näherte, war unhörbar schrill. Dann ebbte dieser langsam ab. Aber dafür spürte ich nun deutlich die Schmerzen, die er in mein Trommelfell eingebrannt hatte. Wurde das Pfeifen nun leiser? Oder wandelte es sich nur zu einem Sirren, Summen, Schwirren? Ich wusste es nicht und wollte es auch gar nicht wissen. Denn der Kopfschmerz quirlte in meinem Hirn alles zu einem Brei zusammen. Aber so langsam wurde selbst dieser Schmerz erträglicher. Oder ich hatte mich einfach nur an ihn gewöhnt. Merkwürdig, woran ein Mensch sich alles gewöhnen kann! So schoss ein Gedanke mir unwillkürlich durch den Sinn.
Eine Weile hatte ich mich nicht auf die optischen Warmehmungen konzentriert. Jetzt, da mir dies bewusst wird, erkenne ich, dass ich wirklich nicht allein in dieser weißen Watte bin. Wie durch einen Schleier sehe ich schemenhafte Schatten, die sich über mich beugen. Sie wanken hin und her, als ob sie sich in einem immaginären Wind wiegen würden. Oder, als ob eine Strömung sie umfließen und in Bewegung halten würde. Die Schatten nähern sich meinem Gesicht, dann entfernen sie sich wieder. Immer und immer wiederholt sich dieser Rhythmus. Aber es hat den Anschein, als ob bei jeder Wiederholung die Konturen etwas an Schärfe gewinnen, ich selbst dadurch eine Winzigkeit an Klarheit über mein Schicksal bekommen könnte. Ich blinzele, um meine Pupillen anzuregen, sich auf die Objekte einzustellen, die vor meinen Augen hin und her tanzen. Dabei merke ich, dass es überhaupt keinen Unterschied macht, ob die Lider nun geschlossen oder geöffnet sind. Fast, als wenn sie durchsichtig oder gar nicht vorhanden wären. Was hat das nun wieder zu bedeuten? Ist das Ganze doch nur ein Traum? Zugegeben, ein ziemlich ralistischer, denn der Kopfschmerz ist echt! Daran besteht nicht einen Moment lag Zweifel.
ORDEP01 Re: - ich danke dir für das treue Interesse an meinem "Stoff". Ist sicher nicht immer leicht zu lesen, aber mir schwebt da so ein Buchprojekt vor, mit einer Rahmenhandlung und dazwischen einzelnen Geschichten. Und als Bindeglieder zwischen diesen Abschnitten bin ich auf den Gedanken mit dem Erwachen gekommen. Mal sehen, wie das so wächst. Im Moment ist ja erst mal der "Einsiedler" dran. L. G. ORD EP Zitat: (Original von Rehkitz am 10.09.2013 - 22:48 Uhr) Zwei von drei gelesen. Du schreibst wirklich gut, doch das erinnert mich schrecklich an Koma-träume. Stoff für solche Geschichten hätte ich genug in meinem kleinen Hirn. Liebe Grüße Theresia |
EagleWriter Schön geschrieben auch mit den 3 maligen ,,Erwachen", ist mal was anderes. lg E:W |
ORDEP01 Re: - Danke für die schnelle Reaktion! LG ORD-EP Zitat: (Original von petjula007 am 11.06.2013 - 20:01 Uhr) Lebendig und flüssig geschrieben. Mit der Thematik kann ich mich noch nicht richtig anfreunden. Am Ende der Zeit muss man erst einmal ankommen, soweit bin ich noch nicht. LG petjula007 |
petjula007 Lebendig und flüssig geschrieben. Mit der Thematik kann ich mich noch nicht richtig anfreunden. Am Ende der Zeit muss man erst einmal ankommen, soweit bin ich noch nicht. LG petjula007 |