Bis zum letzten Keks
Rüdiger war unterwegs nach Hause. Endlich mal wieder. Seine neue Arbeit als Abteilungsleiter in einer großen Firma für Elektrogeräte beanspruchte ihn voll und ganz. Er liebte seine neue Tätigkeit. Das einzige Manko war, dass die Firma 200 Kilometer von zu Hause entfernt war und er deshalb ein kleines Appartement mieten musste und dass er eben selten nach Hause kam. Aber jetzt war es wieder so weit. Er hatte
Weihnachtsurlaub und war auf dem Weg nach Hause. Im Radio spielten sie: „driving home for christmas.“ Er schmunzelte. Ihm gefiel dieses Lied, es war außerdem gerade so passend. Es war bereits dunkel und es begann zu schneien. Wenn man im Dunkeln bei Schneefall Auto fährt, sehen die Schneeflocken aus, wie kleine Sterne und man hat das Gefühl, als ob man in der Schwerelosigkeit durchs Weltall schwebt. Das jedenfalls dachte sich Rüdiger, als er durch den immer dichter werdenden Schneefall fuhr. Leise summend und den Takt aufs Lenkrad trommelnd gleitet er durch die Winternacht. Plötzlich
hatten die Räder keinen Fahrbahnkomtakt mehr. Er hatte die Schneeverwehung auf der Straße nicht bemerkt. Instinktiv trat er auf die Bremse, was er lieber hätte bleiben lassen sollen, denn dadurch brach das Heck des Wagens aus. Auch Gegenlenken half nichts mehr. Das Auto schliderte rückwärts in den Straßengraben. Rüdiger versuchte durch abwechselndes rückwärts und vorwärts fahren das Auto aus seiner misslichen Lage zu befreien. Doch alles schalten und kurbeln am Lenkrad half nichts. Er grub sich nur noch tiefer in den Schnee.
Verdammt. Es waren nur noch 20
Kilometer bis nach Hause. Er holte also sein Handy heraus, um seinen Vater an zu rufen. Der hatte einen schweren Geländewagen mit Seil winde. Der könnte ihn da in Null Komma Nichts herausholen. Nur seine Mutter würde sich furchtbar aufregen, wenn sie erfährt, dass er einen Unfall hatte. Natürlich hatte er mal wieder keinen Empfang, aber das kannte er ja von dieser gottverlassenen Gegend, die mal seine Heimat war. Er musste es eben später noch einmal probieren und das Beste aus seiner Situation machen. Er schadete die Standheizung ein. Verhungern
musste er auch nicht. Neben ihm auf dem Beifahrersitz stand die Keksdose, die ihm seine Vermieterin in letzter Minute noch aufgedrängt hatte. Ein liebes, altes Mütterchen, das ihn inzwischen behandelte, wie einen eigenen Sohn. Außerdem hatte sie ihm noch ein Buch mitgegeben. Ein Vampirbuch. `Biss zum... Irgendwas` , oder so ähnlich. Er machte sich nicht viel aus diesen `Biss zum...` Büchern, weil sie ja doch immer die gleiche Story enthielten. Mädchen verliebt sich in Jungen, der ein Vampir ist, unmögliche Liebe, bla bla bla... und so weiter. Aber seine Vermieterin
stand auf solche Storys und , um sie nicht zu enttäuschen, nahm er das Buch eben mit und versprach ihr es zu lesen. Er kramte es aus dem Handschuhfach hervor und schaltete die Innenbeleuchtung ein. Er schlug das Buch auf und las: „Es war Bellas erstes Jahr auf der Uni...“ `Natürlich`, dachte er sich, `Bella, wie denn auch sonst. Gleich wird sie sich in einen geheimnisvollen Jungen verlieben`. Er blätterte ein paar Seiten um und tatsächlich, da stand es: „ ... verliebte sie sich in den Jungen, der etwas Geheimnisvolles und Unnahbares an sich hatte.“ Mit einem Seufzer blätterte er wieder
zurück und begann das Buch von vorne zu lesen. Er hatte es nun mal versprochen und würde sein Versprechen auch halten. Die Fahrt hatte ihn doch müder gemacht, als er dachte. Vielleicht war es auch die wohlige Wärme der Standheizung. Jedenfalls fingen die Buchstaben vor ihm an plötzlich zu tanzen. Er rieb sich die Augen und las weiter, bis er durch ein Klopfen an der Seitenscheibe aufgeschreckt wurde. Er blinzelte nach draußen und erkannte ein Gesicht. Schulterlange, schwarze, leicht gewellt Haare, dunkle Augen und ein voller, roter Mund. Nur der Teint war etwas blass.
„Brauchen sie Hilfe?“, fragte die Frau. Rüdiger schaltete die Zündung ein, damit er das Fenster herunterfahren konnte. „Ich hänge hier fest. Hab versucht meinen Vater an zu rufen, damit er mich da raus holt. Ist gerade mal 20 Kilometer von hier, krieg aber kein Netz.“ Die Frau überlegte kurz. „Kommen sie doch raus und wärmen sie sich erstmal in meinem Haus da drüben auf.“ Dabei deutete sie auf die andere Straßenseite. Rüdiger hatte das Haus , das eher aussah, wie ein kleines Schloss, überhaupt nicht bemerkt. Er konnte sich auch nicht erinnern, es jemals gesehen zu haben. „Haben sie
Telefon?“, fragte er. Die Frau zog die Schultern etwas hoch und antwortete: „Leider nein. Der Sturm letzte Nacht muss wohl irgendne Leitung beschädigt haben, aber vielleicht klappts da ja mit ihrem Handy.“ Rüdiger ließ das Fenster wieder hochfahren, schaltete Zündung und Standheizung ab und stieg aus. Er folgte der Frau über die Straße zu ihrem Haus.
Innen erwartete ihn genau der Anblick, den das Haus von außen vermuten ließ. Schwere, dunkle, alte Möbel, ein wuchtiger Kristallkronleuchter und alte Ölbilder an den Wänden. Rüdiger sah
sich etwas um, als eine andere Frau die knarrende Treppe herunterkam. „Wer ist das?“, fragte sie die Schwarzhaarige. Sie hatte ebenfalls schulterlange, gewellte Haare, allerdings in Blond. Auch sie sah ziemlich blass aus und ihr voller roter Mund unterstrich diesen Eindruck sogar noch. Rüdiger streckt ihr die Hand entgegen. „Rüdiger“, stellte er sich vor. „Ich hatte einen Unfall und ihre...“. „Schwester“, sagte die Schwarzhaarige. „Ihre Schwester war so nett, mich hier etwas aufwärmen zu lassen.“ Die Blonde gab ihm die Hand. „Schön sie kennen zu lernen, Rüdiger.“ Säuselte sie,
während sie ihn anlächelte und zu zwinkerte. Ihre blasse Hand war eiskalt. Die Schwarzhaarige bemerkte die Flirtversuche ihrer Schwester, ergriff ihren Arm und zog sie von ihm weg. „Entschuldigen sie. Ich muss mal kurz mit meiner Schwester reden.“ Mit diesen Worten zog sie ihre Schwester in die angrenzende Küche. Rüdiger war neugierig, was die Beiden zu bereden hätten und lauschte hinter der angelehnten Tür. „Sehr nett, der Kleine“, sagte die Blonde. „Kann ich ihn haben?“ „Vergiss es“, zischte die Schwarze. „Ich hab ihn gefunden. Er gehört mir.“ Rüdiger war es nicht
unangenehm, dass sich zwei hübsche Frauen um ihn stritten. Doch dann verging ihm das Lächeln. Die Blonde fauchte wie eine Katze und Rüdiger sah die zwei langen spitzen Eckzähne. „Vampire“, schoss es ihm durch den Kopf. Er stürzte zur Eingangstür und rüttelte panisch am Türknauf. Natürlich war abgeschlossen. Die Schwestern hörten auf zu streiten, da sie das Geräusch gehört hatten und begriffen, dass ihr Opfer fliehen wollte. Gleichzeitig stürmten sie ins Wohnzimmer und sahen gerade noch, wie sich die Tür zu einem Nebenraum schloss. Rüdiger verriegelte die Tür
von innen. Die Schwestern schritten langsam, lächelnd, vor die verschlossene Tür. Wissend, dass ihr Opfer in der Falle saß. „Rüdiger?“, säuselte die Schwarzhaarige, während sie an die Tür klopfte. „Könntest du bitte da raus kommen?“ Rüdiger schüttelte verneinend den Kopf, obwohl die Schwestern das gar nicht sehen konnten. Langsam bewegte er sich rückwärts von der Türe weg, die die Schwestern inzwischen ein zu treten versuchten. Plötzlich klopfte jemand am Fenster. „ Rüdiger!“, rief eine Stimme von draußen. Rüdiger riss schlagartig den Kopf herum. Noch ein Vampir? Sein
Herz pochte wie wild. „Rüdiger, hallo, Rüdiger!“, rief unaufhörlich die Stimme.
Rüdiger brauchte etwas Zeit, um zu realisieren, dass er sich immer noch in seinem Auto befand. Sein Vater klopfte von außen an die Scheibe und rief seinen Namen. Rüdiger rieb sich die Augen und stieg aus. „Wie... wieso weißt du , dass ich hier bin?“, stammelte er. Sein Vater deutete auf eine junge Frau, die neben ihm stand. Schulterlange, gewellt Haare, dunkle Augen und ein bezauberndes Lächeln im Gesicht. „Darf ich vorstellen? Belinda“, fuhr sein Vater fort. „Sie wohnt bei uns in der Ferienwohnung.
Kam hier vorbei und sah dein Auto. Da sie nicht anhalten wollte, du weißt ja, junge Frau, ganz allein in der Nacht und so, hat sie mich informiert und da bin ich.“ Rüdiger bedankte sich bei Belinda, in dem er ihr die Hand gab. Sie fühlte sich angenehm warm an. „Eigentlich sagen alle Bella zu mir“, verriet sie ihm. Sein Vater brachte inzwischen das Seil an der Abschleppöse an. „Freut mich, dass du hier bist, Junge“, sagte er. „Deine Mutter hat Kekse gebacken. Du weißt schon, die mit den Schokostreuseln, die du doch so gern magst. Ich hoffe du kannst doch etwas länger bleiben, Junge. Wie
lange kannst du denn bleiben?“ Rüdiger lachte. „ Bis zum letzten Keks“, antwortete er. Jetzt mussten auch sein Vater und Belinda lachen. Rüdiger stellte erleichtert fest, dass Belindas Zähne ganz normal und ihre Eckzähne nicht lang und spitz waren.