In tiefster Nacht näherten wir uns dem Ort. Zwei meiner Männer ließen das mitgetragene Boot, um ganz sicher zu gehen, nicht entdeckt zu werden, einige Hundert Meter oberhalb des Flusslaufes ins Wasser, und nun mussten sie zirka zwei Stunden, kaum paddelnd und überdeckt mit einem Haufen von Grünzeug, Geäst und Sträuchern, sich lautlos in der Mitte des Flusses bis unmittelbar vor der Waschstelle des feindlichen Gebietes treiben lassen. Sie dirigierten das Fahrzeug zum Ende hin so, dass es aussah, als ob diese Anhäufung von Unrat aus Sträuchern und Pflanzen ans Ufer trieb, um sich dort im undurchdringlichen Gebüsch zu verhangeln.
Unser mitgebrachtes Feuer hierorts musste zudem gut versteckt werden. Wir machten dazu eine kleine Feuerstelle hinter einem mächtigen Baum. Als die Sonne sich mit dem bombastischen Stimmenchor der Urwaldvögel einführte, stellten wir zufrieden im durchwachsenen Licht des Morgengrauens fest, dass es geklappt hatte. Nun konnten wir zuversichtlich der kommenden Dinge harren.
Würden sie auch heute kommen? Wir hofften nur, genügend würden es sein, vor allem Frauen.
Endlich ging es los.
Tatsächlich kamen drei Männer und etliche Frauen mit herumspringenden Kindern aus dem grünen Dickicht der Bäume und Sträucher getreten. Die Frauen gingen zum Wasser, beugten sich über ihre mitgebrachten Kleider und begannen sie zu schruppen, während sie sie immer wieder einmal wendeten.
Die Männer postierten sich gut zwanzig Meter hinter ihnen, indem sie zunächst einen Kreis bildeten, irgendetwas in einem Gefäß anzündeten und sich gegen den Mund führten, um danach immer wieder einen Rauch auszublasen. Jeder stützte sich dazu mit seiner rechten Hand auf einen mannshohen Speer.
Erstaunlich, welche Dinge diese Wesen dort vollführten. Wir hatten dafür überhaupt keinen Sinn. In gewissen Bereichen waren sie uns vielleicht haushoch überlegen. Aber im Kampfe auch?
Nachdem sie aufgehört hatten zu rauchen, setzten sich fast alle bis auf einen in den weißen, weichen Sand, noch immer die Speere aufrecht neben sich. Der Stehende stach durch seine dunkle Hautfarbe, seine lange Mähne und des breiten Oberkörper wegen hervor, der mit roten Streifen stromlinienförmig grell markiert war. Zudem überragte er alle anderen um Längen.
Er wirkte am unerschrockensten. Vielleicht hatten unsere Krieger von ihm am meisten zu befürchten. Vorsichtshalber befahl ich meine Bogenschützen, ihre Pfeile annähernd in seine Richtung zu lenken.
Nunmehr konnte man erkennen, dass sich unsere mit dem Baumgefährt herangepirschten Krieger ins Wasser fallen ließen, um in dem undurchdringlichen Pflanzen- und Baumwust des Ufers unterzutauchen. Nach gut einer halben Perlenkettenzeit sahen wir sie zu dem Ort des Geschehens schleichen, fast eingegraben im Sand und wie Leguane herankriechen. Als sie sich nahe genug an den Frauen herangewagt hatten, verharrten sie. Das war das Zeichen für uns.
Zwei Krieger machten sich bereit und spannten die zwei riesigen Bögen, worauf jeweils ein mit einer brennbaren Masse versehener Pfeil stak. Zwei andere mussten die Bögen halten, da sie extra groß und stark konstruiert worden waren, dass ein einzelner dessen nicht habhaft werden konnte. Ich brachte die Pfeilspitzen durch Heranführen eines glimmenden Steckens zum Aufbrennen. Sofort wurden die Bögen losgelassen, erneut mit zwei Pfeilen bestückt und wieder angezündet.
Ein Pfeil verlor seine Feuerzunge, bevor er am anderen Ufer ankam. Aber dafür traf der andere sogar den Hünen am Bein, zufällig, der heftigst aufschrie. Die anderen Krieger, wie erwartet, waren über dieses Gebrüll wohl mehr entsetzt als über die tatsächliche Gefahr, so dass sie entweder ihre Speere auf der Stelle fallen ließen oder mit ihnen losliefen. Jedenfalls kümmerten sie sich keine Sekunden mehr einen Deut um ihre Schützlinge, die Frauen und Kinder. Das war gut!
Mir war sofort klar, dass wir bei unserem Unterfangen mit Glück gesegnet waren. Das war unsere Chance, die wenigen Minuten der Überraschung, die den Feind lähmte.
So sprangen unsere Mannen aus dem Sand hervor, gerade als auch die Frauen fliehen wollten und bevor auch sie im Busch untertauchen konnten, einige Sekunden später als die Wächter, weil sie ja mit dem Wäschewaschen beschäftigt waren. Einige konnten vor Erreichen des Urwaldes noch im Bereich des schmalen Uferstreifens mit Schlägen in Magen- oder Schläfengegend abgefangen werden. Unsere vier Männer handelten blitzschnell und schleppten die vier Frauen im überwältigten, meist bewusstlosem Zustande ans Floß, so dass ein darauf gebliebener Krieger heranpaddelte.
Dieser brauchte allerdings einige Zeit, während die Gefahr wuchs, dass die Übertölpelten wieder Herr ihrer Sinne sein würden. Abschreckungshalber schossen wir noch einige Pfeile in Richtung des Dschungels.
Endlich konnte man die Frauen sowie noch zwei Kleinstkinder aufs Floss hieven und lospaddeln. Ein Kind stürzte jedoch, das ältere, als es sich losreißen konnte, beim folgenden Überqueren in den Fluss und ertrank. Es war aber keine kostbare Zeit und Energie zu verlieren, um auch noch nach diesem kleinen Etwas zu tauchen.
Unterdessen wagten sich die feindlichen Krieger bereits wieder aus dem Dschungel hervor, liefen tatsächlich aufs Wasser zu; wir jedoch hatten damit gerechnet und schossen erneut etliche Pfeile auf sie ab. Da sie den Ursprungsort der Gefahrenzone nicht ausmachen konnten und am Strand völlig schutzlos diesem ausgeliefert waren, kehrten sie um.
Jetzt ging es um jede Perlenzeit. Die Männer auf dem Fluss mussten schnellstens ihre Arbeit getan haben, bevor der Feind mit neuen Waffen zurückkam und unsere Pfeile von hier mit Schildern dort abwehren und diejenigen am Floß mit losgeschleuderten Speeren bedrohen konnten.
Leider wurde noch eine Frau zurückgelassen, da es aus der Betäubung nicht mehr aufwachen wollte, als unsere Krieger das Ufer erreichten und mit Wasser die weggetretene Frau wach zu kriegen versuchten. Hurtig sprangen sie vom Floss an irgend einer Stelle ins undurchdringliche Gestrüpp von Lianen und Baumgeäst, zu der wir hinrannten, und wir griffen uns unsere Beute, je eine Person zwischen zweien, die Kinder unterm Arm geklemmt, und begannen diese den verwinkelten, langen Weg nach Hause zu zerren, schleppen oder zu scheuchen.
Ich ließ meine Leute losziehen, während ich noch das feindliche Ufer beobachtete. Soviel Vertrauen besaß ich in meine Gefährten, dass sie den vorgezeichneten Weg schon einschreiten würden. Was ich aber dann sehen konnte, erfüllte mich mit Angst und Panik.
Die feindlichen Krieger hatten sich Flussgefährte besorgt. Aber es waren keine einfachen Flösse, wie wir sie kannten, sondern aus Baumstämmen gefertigte, die sie behände vorankommen ließen. Es musste ein ungewöhnlich leichter Baum sein, konnten sie doch die federleichten Boote lässig über ihren Köpfen tragen.
Ich schoss zwar noch einige Pfeile ab, aber sie hatten mächtig große Schilder über sich gespannt, so dass ein Pfeil, der traf, in einem solchen Holzschild stecken blieb.
Ich hätte keine Chance gehabt, sie beim Andocken ans Ufer zu hindern. Ich musste mich schleunigst meinen Kriegern anschließen und rannte los. Wenn dies nur gut ging, durchzuckte es mich. Wenn das nur gut geht!
Als ich aufschließen konnte, trieb ich meine Leute umso mehr an. Die Hektik übertrug sich natürlich auf sie. Einige stolperten leider im Folgenden und schlugen sich die Knie auf.
Nachdem wir den Pass erreicht hatten, ließ ich sie weiter ziehen, während ich mich mit Mullix auf die Lauer legte. Von hier oben konnte man gut die Herankommenden sehen und abwehren. Es würde sich wahrscheinlich angesichts deren Übermacht nur um wenige Minuten handeln, wo man sie in Schach halten konnte, aber das war schon eine gute Zeit. Würden sie sich denn durchschlagen, mussten wir diesen Pass für immer aufgeben, indem wir die bereitgelegten Felsbrocken auf den engen Weg herunterrollen ließen. Damit war aber noch lange nicht gesagt, dass wir den Feind aufgehalten hatten. Sich nicht vollends abschrecken lassen, würde er eventuell versuchen, über die Felsen zu klettern, uns weiter zu verfolgen. Es war nicht auszudenken, mussten wir uns ihnen dann im Zweikampf stellen. Sollten wir auch obsiegen, so war doch mit Verlusten zu rechnen. Dies traf ein. Zumindest kurz davor standen wir jedenfalls.
Der mächtigste, jener breite, hochaufgeschossene, furchteinflössend tätowierte und bemalte Krieger kam als erster über die Felsen geklettert. Wie konnte das sein: Er war doch verletzt worden?
Müllix, darin war er noch immer unersetzlich, betätigte die Schleuder und - traf. Der Koloss fiel hintüber. Die Nachkommenden, obwohl man bereits ihre Speere und einzelne Köpfe sehen konnten, tauchten wieder ab.
Wir machten uns auf einen neuen Angriff gefasst, während wir in der Stille ein furchtbares Gebrüll aus der Schlucht heraufhörten. Das Echo, das die Schluchtwände wiedergab, verdoppelte das wahre Ausmaß des Schmerzes. Wahrscheinlich rettete uns dies.
Sie waren doch schließlich in der Überzahl. Aber das Brüllen ihres Führers musste sie davon zurückgehalten haben, einen erneuten Versuch zu starten und sich kundig darüber zu machen, mit wem sie es zu tun hatten. Sie würden nur gegen zwei, alles andere als schreckliche Krieger anrennen müssen.
Aber sie unterließen es doch. Zumindest in der nächsten Perlenkettenzeit.
Wir waren gerettet, dachte ich. Unsere Leute hatten sich nach dieser Zeit einen weiteren Vorsprung geschaffen. Es ging nur noch darum, dass wir jetzt losrannten, um uns ihnen anzuschließen, aber dabei sicher zu gehen, nicht von den anderen verfolgt zu werden.
Ich packte Müllix an den Schultern und riss ihn mit.
Nach einiger Zeit mussten wir stoppen und noch abwarten, ob sie auf dem Weg erschienen. Andernfalls konnten wir uns unseren Leuten gefahrlos anschließen.
Mein Herz schlug höher. Mullix schien es nichts auszumachen. Er hätte wohl gerne noch einmal Zeugnis seiner Gefährlichkeit abgeliefert. Ich musste ihn ständig beruhigen, weil er immer wieder seine Waffe, die Schleuder, hin- und herschlenkerte. Die vermeintliche Gefahr erregte ihn, so dass er sich auf diese Weise abreagieren konnte. Ich legte die Arme um ihn, ihn ruhig zu stellen. Sollten jeden Augenblick die Feinde nahen, konnten sie unsere Gegenwart durch Geräusche entdecken. Damit wäre der Überraschungsvorteil dahin gewesen.
Es war die längste Perlenkettenzeit meines Lebens. Unkonzentriert, nervös und umtriebig. Ich tastete zittrig Perle für Perle meiner Kette ab und sagte jeweils meine Beschwörungsformel: Abkama-Abkamun-Kamaran-Kassatra, wobei ich jeweils die Augen zusammenpresste. Mit jeder Perle riss ich diese aber auch schon wieder lauernd auf. Nichts weiter. Weiter zur nächsten Perle. Mit jedem Augenaufschlag fiel mir ein Stein vom Herzen. Am Ende war der Feind noch immer nicht zu sehen.
Nunmehr konnten wir ganz sicher sein. Schließlich brach sich auch noch ein Regenschauer Raum von oben herab. Alle Spuren würden unweigerlich verwischt werden. So konnten wir uns daranmachen, unsere Brüder aufzuholen, nach langen, bangen Perlenkettenzeiten des Herumirrens und Den vermeintlichen-Verfolger-in-die-Irre-Führens.
Ich schickte also Müllix einstweilen los, blieb selbst noch im Versteck liegen und beobachtete durch die Striemen des Regens verdächtige Bewegungen in der nahen Ferne. Mein schweres Herz befreite sich durch einen tiefen Seufzer, während ich das Gelände taxierte. Es war nicht vom Wildwuchs überzogen, von Stauden, Büschen oder kleineren Bäumen, so dass einigermaßen freie Sicht herrschte, wenngleich der Regen diesen Beobachtungsvorteil wieder vereitelte. Hätte ich sie entdeckt, wäre der Feind schon nahe genug vor mir, um nicht unbemerkt entfliehen zu können.
Im schwarzen Himmel über mir war plötzlich gewaltig lautes Donnergrollen zu vernehmen, wohingegen weiter weg über den hohen Bergkämmen immer wieder Blitze ständig blendend alleshell erleuchteten. Nunmehr würde ich in diesem Lärm auch unbemerkt entfliehen können.
Was war ich glücklich, befreit und zuversichtlich. Nicht nur hatten wir sämtliche von mir ausgedachten Möglichkeiten des Ablenkens angewendet, gut, denn jegliche Offenlegung einer Falle bedeutete die Beraubung einer Möglichkeit für einen neuen Raubzug. Einen solchen erneut zu erwägen, war mangels magerer Beute abzulehnen.
Mir war klar, dass wir bei all dem unsägliches Glück hatten, da es regnete, denn der Regen verwischte sofort alle verräterischen Spuren. Damit wähnte ich uns in Sicherheit. Die Verfolgung des Feindes erschien als Ding der Unmöglichkeit.
Ich biss die Zähne zusammen bei diesem Gedanken und mahlte mit den Kiefern wie ein wildes, träges Tier. Der Raubzug war nicht aufgrund meines Planes gelungen, sondern wegen eines Zufalls, des Regnens. Damit war also überhaupt nicht der Beweis erbracht, dass ich mich bewährt hatte. Die Klugen unter meinen Kriegern würden dies natürlich erkennen und, befürchtete ich, ins Feld führen. Mein Stand als Häuptling und Führer blieb daher so wacklig wie zuvor. Erneute Bewährungsproben standen bevor.
Aber Tatsache war doch, dass niemand kam, dass die Verfolger es aufgegeben hatten; dass wir neue Frauen besaßen; dass unser Bestand vorerst gerettet war.
Ich zog wieder auf.
Die Krieger begrüßten mich mit ängstlichen, fragenden Blicken. Ich konnte sie beruhigen und erlaubte eine kurze Rast.
Waren die Frauen bereits etwas angetan worden? Ich betrachtete sie. Mit Zufriedenheit nahm ich wahr, dass meine Leute diszipliniert vorgegangen waren.
Und ich trieb sie weiter an, ermunterte sie, nicht jetzt fahr- und nachlässig zu werden, jetzt, wo der Plan gelungen schien.
Wir zogen weiter.
Es war nicht mehr weit bis zu unserer Höhle.
Meine Gewissheit, die Gefahr abgewendet zu haben, gab mir Anlass, sogar noch auf einige Vorsichtsmaßnahmen zu verzichten. Beim nächsten Angriff konnten sie uns wieder dienlich sein. Die bereits vorgenommenen davon, das war offensichtlich, waren unbrauchbar geworden, schließlich war nicht damit zu rechnen, dass der Feind nicht aus seinen Fehlern gelernt hatte.
Am schlimmsten gestaltete sich der steile Abgang über den steinigen, steilen Pass des Berges in westlicher Richtung von unserem Lager. Die Frauen, ganz anders als unsere, waren nicht so behände auf ihren Füßen. Die Kleinkinder mussten ja auch noch getragen und mitgeschleppt werden.
Jedenfalls schafften wir es endlich.
Wir hatten unser Ziel erreicht.
Wir waren gerettet – vorerst.