“Hab ich das richtig verstanden? Du meinst also, ich sei eine dumme, unordentliche und oberflächliche Person? Da habe ich mich doch wohl verhört! Erich, wie kommst du eigentlich dazu, mich derartig zu beschimpfen? Und das an unserem Hochzeitstag! Ich glaube nicht, dass ich mir irgend etwas vorzuwerfen hätte. Ich bin seit 40 Jahren deine Frau und all die Jahre habe ich geduldig deine Launen und deine Unbeherrschtheit ertragen. Nein, unterbrich mich jetzt bitte n i c h t, wenigstens dieses eine Mal wirst du mir ruhig zuhören”, sagte Annamarie leise, doch ihre Stimme klang bestimmt wie noch nie bisher in ihrem langen Eheleben. Sie öffnete ruhig das Päckchen,
das sie erst diesen Morgen im Drogeriemarkt erstanden hatte, und wandte sich wieder ihrem vor Erstaunen sprachlosen Gatten zu: ”All die Jahre”, nahm sie den Faden wieder auf, “all die Jahre habe ich auf so vieles verzichtet, nur damit der gnädige Herr zufrieden war, kam ich all seinen Wünschen nach. Du aber hast mich nie gefragt, was i c h wollte, welche Träume i c h hatte. Auf so vieles musste ich verzichten …
Ja, Erich, ich hätte so gerne Kinder gehabt, einen Jungen und ein Mädchen, Kinder, die meine Liebe gebraucht und auch gerne angenommen hätten. Aber du wolltest ja nie welche, Kinder hätten ja deine Ruhe und deine Bequemlichkeit gestört, und dein Wort war ja stets Gesetz in diesem Hause. Und ich
war so dumm, so dumm, so unglaublich dumm, dass ich immer feige nachgegeben habe, in allem mich dir untergeordnet habe. Wenn ich jetzt zurück schaue, so muss ich sagen, dass ich eigentlich nicht wirklich gelebt habe, kein eigenes Leben geführt habe, im Grunde nur durch dich existiert habe.
Oh ja, mein lieber Erich, das konntest du schon meisterhaft, vor allem in den ersten Jahren unserer Ehe, mir all die Pläne ausreden, die zu haben ich damals noch wagte. Du wusstest doch ganz genau, wie gerne ich arbeiten gegangen wäre, weil ich mich langweilte in unserem großen Haus, weil ich so wenig Lust auf Hausarbeit hatte. Da schlug die Stunde des großen Redners, der mir mit einschmeichelnden und schönen
Worten auseinander setzte, wie wichtig es für dich und dann auch für mich wäre, dass ich dir ein schönes Zuhause schaffte und dir den Rücken freihielt von allen alltäglichen Widrigkeiten und Niedrigkeiten. In den schönsten Farben maltest du mir aus, welch herrliches Leben wir in wenigen Jahren führen würden, wenn du erst in die Direktion aufgestiegen wärst. So redetest du immer wieder auf mich ein, bis ich schließlich selber glaubte, dass meine Berufstätigkeit wirklich purer Egoismus wäre.
Ja, lieber Gatte, und dann hattest du es schließlich geschafft, mich zu dem zu machen, was ich bis auf den heutigen Tag bin: eine langweilige, unscheinbare Frau, die sich längst in ihr ebenso langweiliges Leben
ergeben hatte. Meine Jugendfreundin Elisabeth, die ich einmal in der Woche zu uns einladen durfte, wenn du dich mit deinen Freunden zum Doppelkopf trafst, beklagte immer wieder, wie sehr ich mich von dir beherrschen ließ, und versuchte mir einzureden, du hättest womöglich längst die eine oder andere Geliebte. Ach, wenn sie doch recht gehabt hätte!!! Aber selbst dazu warst du zu träge, zu bequem, ein Doppelleben zu führen.
Oh wie ich es hasste, wenn du in geselliger Runde grölend verkündetest, dass ein von mir zubereitetes Festessen weitaus aufregender sei als jeder Seitensprung! Und leider war dies die reine Wahrheit. Aber auch ich war im Laufe der Jahre, die ich mit dir Ungeheuer der
Durchschnittlichkeit verbrachte, gleichgültig und träge geworden, und alleine die zwei Wochen, die wir jedes Jahr in Salzburg Urlaub machten, gaben meinen Tagen ein wenig Farbe und Glanz. Um so überraschter war ich daher, mein lieber Erich, als du mir vor ein paar Tagen mitteiltest, du hättest vor, in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen, um dich ‘noch mehr verwöhnen zu lassen von der kleinen lieben Frau’. Da, bester Erich, traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag: Ich würde dich nun an jedem Tag 24 lange, endlos lange Stunden um mich haben, und das, das wusste ich in diesem Augenblick, würde ich nicht ertragen können!
Und ein Gedanke, kühn und schrecklich, aber wundervoll, ergriff immer stärker von mir
Besitz- wir würden uns trennen, ohne Aufregung, ohne Streit, wie gute alte Freunde. Erich, du schaust mich so verwundert, ja entgeistert an, verstehst du mich denn nicht, mein Guter? Erich, du brauchst jetzt nichts zu sagen, ich lese in dir wie in einem Buch, zwischen uns gibt es ja schon lange keine Geheimnisse mehr. Glaub mir, es ist die beste Lösung für uns beide!” Lächelnd blickte Annamarie ihrem Erich ins Gesicht. Sanft strich sie ihm eine Strähne seines schütteren grauen Haares aus der eiskalten Stirn, legte die Päckchen mit den grünen Bohnen und den Karotten auf ihn, schloss mit energischem Druck die Tiefkühltruhe, ergriff ihre Handtasche und den kleinen Handkoffer und verließ leichten Fußes
für immer das Haus.