Natürlich konnten wir das nicht untätig geschehen lassen. Soweit diejenigen, die nahe beieinander standen, sich in die Augen blicken konnten, warfen sie sich gegenseitig wütende, ohnmächtige Blicke zu. Aber es geschah doch das Unerwartete: unser Häuptling rannte plötzlich los und das direkt auf den Bären zu. „Ah!“, einen schrillen, markerschütternden, aus den tiefsten Tiefen seiner Organe ausgestoßenen Schrei, stieß er dazu aus. Wir wurden dadurch angesteckt, mitgezogen von unsichtbarer Hand und rannten genauso unbedacht auf das Unglück zu. Ja, wir griffen tatsächlich das wilde, große Raubtier an. Vielleicht hätten wir es ja auch nicht getan, wenn Brüllix nicht vorangestürmt wäre? Denn wir konnten uns doch leicht ausmalen, was geschehen würde. Aber es war zu spät, der Stein war unaufhaltsam ins Rollen geraten. Dies sollte uns später noch viel Kopfzerbrechen bereiten.
Der Bär schlug wie immer zurück. Aber ging noch viel weiter.
Wir rannten und rannten, aber den Kühnsten, Brüllix, erwischte der Bär dennoch und tötete ihn, ohne ihn zu fressen. Er zeriss ihm einfach, zerfetzte Gesicht und Körperteile vor Wut und Verletzung. Danach, befriedigt und wutgestillt und brüllend, sich seine Tatzen mit der Zunge ableckend, tauchte er plötzlich im Dschungel unter.
Wie waren wir geschockt. Wir hatten unseren Führer, Brüllix, dessen zerrissenes, blutendes Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verstellt war, verloren. Wie hatte so etwas geschehen können? In unseren Gesichtern spiegelte sich das blanke Entsetzen, in unseren Herzen wütete die verzweifelste Hoffnungslosigkeit und in unserer Seele die vernichtenste Einsamkeit, die je eine menschliche Kreatur empfinden konnte.
Es konnte nicht mehr mit unserem Stamm weitergehen – ohne unseren Führer, den mächtigen, unerschrockenen und überaus kühnen Brüllix. Dieser Schlag war beinahe noch schlimmer als der des Verlustes unserer Frauen und Kinder. Ein jeder wich den Augen des anderen aus, weil keiner mehr eine Antwort darauf bereit hatte, wie es ohne IHN weitergehen konnte. Einige weinten, jammerten und brüllten sich sogar die Trauer aus ihren Seelen, versteckt hinter Felsen verborgen, den Kopf auf die übriggelassenen Vorratssäcke geworfen, wobei sie die Hände zum Schutz vor unliebsamen Blicken beschützend über diesen gelegt hatten.
Aber es musste ja weiter gehen. Als die Trauer dieser Einsicht wich, trat endlich das Nachdenken auf den Plan. Am Stutzigsten und Anlaß zum Grübeln war folgender Umstand: Dem Menschen Brüllix war nichts anderes geschehen, als dass er zerrissen, anstatt aufgefressen worden zu sein. Diesen Unterschied zu erkennen, war nicht allzu schwierig. Also, das wilde Tier hatte nicht aus Hunger und Überlebenszweck getötet, sondern aus Selbstverteidigung. Der Verlust Brüllix hätte demnach vermieden werden können, ja, der Häuptling selbst hatte alles dazu getan, dass es überhaupt dazu gekommen war, dass er getötet wurde von dieser Bestie.
Es entstand eine hitzige Auseinandersetzung über das Verhalten Brüllix. War es richtig gewesen? Hätte er denn nicht besser einen Angriff unterlassen sollen? Wir hätten keinerlei Verlust erleiden müssen, kein Mensch wäre getötet worden. So aber hatten wir Brüllix, unseren heldenhaften, kühnen Führer, Krieger und Jäger, verloren. Das war furchtbar.
Die Menschlinge trauerten angesichts dieser Einsicht und schrecklichen Erkenntnis noch mehr, eine hilflose, lähmende Trauer nämlich, die uns nicht in Wehklagen ausstoßen ließ, sondern stumm machte.
Nur einer, Krixl, der bislang nicht durch besonders kühne, mutige Taten in den Vordergrund getreten war - sonderbar, frevelhaft, aufrührerisch! - stellte aber weiterhin unangenehme Fragen. „Musste ER denn losbrüllen und losrennen? Wir hätten warten sollen, bis der Bär sich verzogen hätte. Nichts wäre uns zuleide geworden!“
Ein Zittern ging durch die Menschlinge. War Krixl verrückt geworden? Jemand, noch dazu dieses unscheinbares Mitglied da, hatte die Person Brüllix angetastet. Nur unsere zu starke, lähmende Trauer hielt uns davor zurück, sich sofort auf ihn zu werfen.
"Aber nein, Brüllix, der Häuptling musste den großen Krieger mimen, dieser Dummkopf. Er hat damit auch den ganzen Stamm in Gefahr gebracht. Er hätte es nicht tun sollen, nunmehr, wo wir nicht wissen, ob wir das nächste Jahr überhaupt überstehen werden!"
Das Erstaunliche geschah. Einige Krieger wurden nachdenklich, zeigten sich von Krixls Meinung gar beeindruckt. Andere, die meisten, vor allem Brüllix Sohn, wollten sich gleich auf Krixl stürzen, auf diesen Frevler, der nicht imstande war, sein Schandmaul zu zähmen. Aber die Vernünftigeren kreisten die wild entschlossenen Brüllixianer sofort ein, um sie vor einem tätlichen Angriff abzuhalten.
Dennoch drohte Wullix, meist nur genannt Brüllixsohn, Krixl noch. Sein Vater werde nicht ungerächt bleiben. Niemand hatte das Recht, dessen Ansehen ungestraft zu schänden. Eines Tages würde Krixl, dieser Lästerer, dafür bestraft werden und zwar von ihm, den einzigen würdigen Nachfolger und zukünftigen Häuptling dieses Stammes.
Aber so einfach war die Sachlage nicht. Die direkte Nachfolge, die Übergabe der Machtsymbole, Säbeltigerzahn und blauer Oval, vom Vater auf den Sohn, wie dies bislang stets üblich gewesen war, stand mit dem aufkommenden Problem in Frage. Wer war dazu imstande, uns beim Überfall auf den feindlichen, mächtigeren und zahlenmäßig überlegeneren Stamm zu führen?
Krixl hatte auch diese Frage aufgeworfen. Dieses war ganz klar die Folge der Fragen und Anschuldigungen, die er gegen Brüllix Verhalten auf dem Prüfstand gestellt hatte. Krixl, der Chefankläger, der Häuptlingfrevler, hatte dabei einen zuhöchst gefährlichen Stand. Die Heißsporne, Feuerköpfe und Funkelwürmer waren ein paar Mal nahe daran, ihr Waffen gegen ihn zu richten.
Dennoch, es war wahr, dass das Ereignis ein unnötiger Vorfall gewesen war, der einem Stammesmitglied das Leben gekostet hatte. Es war einfach unverantwortlich angesichts des bevorstehenden Raubes von Frauen fremder Völker.
"Wozu überhaupt ein Häuptling, ein Herrscher da sein soll, frage ich euch?", hetzte Krixl weiter. "Um seine Untergebenen in Gefahr zu bringen? Seine eigene Macht zu vergrößern und im Gegensatz dazu, die Angst der Untergebenen vor ihm zu steigern? Oder vielleicht sollte besser die Herrlichkeit eines Häuptlings daran gemessen werden, wie groß seine Macht, Intelligenz und Umsicht ausreichten, die Mitglieder des Stammes zu schützen? Vor allem davor zu schützen, dass sich der Stamm nicht selbst allmählich zersetzte und auflöste."
Die meisten stimmten zu, denn dies war einfach richtig, was hier Krixl sagte. Ein neuer Führer musste sicherstellen, sobald er die Herrschaft erlangte, dass allein das Volk einen Nutzen daraus zog, nicht er selbst, seine Anverwandten und Freunde. So war Brüllix Verhalten überflüssig, der nur seinen eigenen Trieben gefolgt war.
Jedenfalls war diese neue Richtung des Gesprächs angesichts der zugespitzten, bedrohlichen Situation unumstößlich. Eine Art und Weise entstand, langes Überlegen, Nachdenken bevor Handeln, welches bis heute Spuren hinterlassen hat. Es ist bis heute vorbildhaft geworden, hat dazu geführt, dass sich dieser Stamm, als er später selbst einmal von einem anderen Stamm überfallen und geknechtet worden war, so stark war, dass er damit den anderen anzustecken wusste. In dieser bedrohlichen Zeit nun, nicht genug Frauen für den weiteren Bestand des Stammes zu besitzen, wurde dieses "umsichtige" Verhalten, zuerst denken, dann handeln, geboren vom Geburtshelfer Krixl, dem Ersten, der dieses Tun auf den bevorstehenden Raub fremder Frauen und Kindern übertrug.