Beschreibung
Judith genießt die Ruhe eines einsamen Sommertages. Ein gutes Buch und ein gefüllter Picknickkorb, absolute Ruhe und eine wunderbare Blumenwiese.
Dann aber wird ihr die Einsamkeit zum Verhängnis...
Gefährliche Natur
Judith lag auf der Sommerwiese. Es war eine Blütenpracht hier draußen, wie man sie nur auf einer wilden Wiese finden konnte. Mohnblumen, Kornblumen, Kamille, winzige Gänseblümchen, Gras in allen Formen und Größen, Löwenzahn, Wiesenschaumkraut.
Es gab vieles, was Judith kannte, aber auch einige Wildblumen, die sie nicht benennen konnte. Egal – ihr gefiel es hier jedenfalls.
Sie hatte sich eine weiche Decke mitgebracht, ein Kissen für die Bequemlichkeit und natürlich auch ein kleines Nachmittagspicknick. Jetzt hoffte sie nur noch, dass sie allein bleiben würde, denn der Krimi auf ihrem Schoss schrie förmlich danach, dass sie Muße zum Lesen fand.
Endlich einmal Ruhe. Kein Radiogedudel, kein störendes Gekreisch von Jugendlichen, die sich im Stadtpark Wasserschlachten und ähnliche Kämpfe lieferten. Nichts als eine stille Blumenwiese, auf der höchsten ein paar Hummeln und Bienen um die Wette summten.
Judith ließ sich entspannt auf das Kissen zurücksinken und hob das Buch in die Luft.
Die Mörderin kam mit leisen zarten Flügelschlägen. Umrundete Judith in immer kleineren konzentrischen Kreisen. Sie kam heimlich, doch war sie darum nicht weniger tödlich. Dabei nutzte sie die Deckung durch die hohen Gräser.
Judith war arglos. Sie hatte ihre Tasche geöffnet, griff ab und zu – immer zwischen den Absätzen der Geschichte – in ihre Picknickvorräte. Erdbeeren, Ananasstücke, Möhren. Judith aß wahllos alles durcheinander, was sie vorbereitet hatte. Hauptsache es war gesund. Bioerzeugnisse. Darauf legte Judith großen Wert.
Das Kapitel war zu Ende und es wurde Zeit für einen weiteren Schluck kühlen Eistee, den sie selbst gemacht hatte. Sie griff nach der Flasche, las noch einmal den letzten, außerordentlich gelungenen und spannungsgeladenen Satz auf der Seite und trank gedankenverloren einen tiefen Schluck. Die Hornisse in ihrer Teeflasche übersah sie dabei völlig. Es war ein riesengroßes Exemplar, so eines, wie man es in der Stadt nur höchst selten antraf. In freier Natur hingegen kamen Hornissen häufig vor. Diese schwamm gerade noch an der Oberfläche, suhlte sich in der süßen Flüssigkeit, tauchte ihren Rüssel testend hinein und gelangte so in Judiths Mund.
Hinein gespült in die weiche Dunkelheit der Mundhöhle fühlte sich das Tier augenblicklich bedroht.
Sie fuhr den langen Stachel aus der Drüse am Hinterleib zu voller Länge aus. Dann durchstach sie damit mühelos den Gaumen, an der Stelle kurz bevor der Rachen begann. Ihr Gift lief langsam aber sicher durch die Schleimhäute in die Blutbahnen, die sie durchdrangen, verteilte sich gleichmäßig im selben Augenblick, da Judith den stechenden Schmerz spürte.
Ein Reflex zwang Judith, den Fremdkörper mit dem Tee hinunterzuschlucken. Die Mörderin starb, ehe ihr Werk vollendet war. Was dann kam, war Horror pur. In Judiths Mund vollzog sich eine Explosion voller Schmerz, das Gewebe schwoll zu doppeltem Umfang an. Eine
kurze Weile floss der hektische Atem noch an der Schwellung vorbei, doch bald schon war sie zu übermächtig, füllte Judiths Hals aus und zwang sie, auf der weichen Decke niederzusinken.
Die Hände um den Hals gepresst, als könne sie sich so Erleichterung verschaffen, lag sie dort. Vor ihren Augen, die sie nur mühsam offen halten konnte, erschienen schreiend bunte Farben und Formen wie bei einem LSD-Trip. Ihr letzter unsinniger Gedanke galt nicht sich selbst, sondern ihrem Krimi. Sie erkannte, dass sie nie erfahren würde, wer den grausamen Mord begangen hatte. Ihre eigene Mörderin jedoch hatte sie selbst auf dem Gewissen. Die schwamm während der letzten quälenden Atemzüge bereits tot in der Magensäure. Judiths Augen brachen in dem Schein der sinkenden Sommersonne.
Weitere Texte von Anja Ollmert gibt es auf www.anjaollmert.jimdo.com