Jeden Tag ein anderer sein
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Maria thronte mitten in der Halle in einem gemütlichen Sessel. Von dort aus konnte sie jeden Besucher genau inspizieren, ihn betrachten und überlegen, ob sie ihn kannte. Jeder, der die Halle betrat, wurde von ihr gleichermaßen interessiert beäugt und nach Aschenputtelmanier klassifiziert und sortiert. Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen – kenn ich, kenn ich nicht.
Hätte sie eine Margeritenblüte zur Feststellung des Bekanntheitsgrades benutzt, das Ergebnis hätte nicht genauer ausfallen können. Blitzte ein plötzliches Erkennen auf, wenn jemand sie anblickte, erstrahlte ein Lächeln auf ihrem runzligen Gesicht. Dieses Lächeln unterschied sich deutlich von dem weltabgewandten Gesichtsausdruck, der ihr sonst zu Eigen war.
Eine Pflegerin kam näher.
„Hallo Frau Krämer, wie geht’s?“, fragte sie beim Herankommen. Maria wandte sich um und sah hinter sich. Dort schien sie jemanden zu vermuten, vielleicht Frau Krämer. Sie war das jedenfalls nicht. Hinter Maria stand niemand. Sie schüttelte den Kopf, dass die weißen Löckchen flogen. „Frau Krämer ist nicht da!“, erklärte sie. „Hier ist heute viel los, aber sie ist nicht dabei.“ Ihr Kinn zuckte Richtung Aufenthaltsraum.
Dort war tatsächlich eine Menge los. Einige Bewohner saßen auf ihren Stühlen und bewegten sich zur Musik aus dem Radio. Eine der Betreuerinnen saß vor ihnen und zeigte einen Sitztanz. Hoch das Bein, erst links, dann rechts. Die Arme kreisen, die Hände drehen, mit den Füßen im Takt aufstampfen.  Sie hatten sichtlich Freude daran, sich zu bewegen, auch wenn die Fähigkeiten nur noch eingeschränkt abrufbar waren. Maria Krämer war der Trubel zu viel geworden, deshalb saß sie hier draußen.
„Wer sind Sie denn?“, fragte Maria Krämer? „Sind Sie vielleicht ihre Tochter?“ In den Augen glomm Neugier auf.
„Nein, ich arbeite hier. Ich bin Schwester Sabine.“
„Kennen wir uns?“ Maria Krämer hob die Stimme.
„Ja, ich bin Sabine.“ wiederholte die Pflegerin geduldig.
„Nein, ich meine Frau Krämer und ich, kennen wir uns?“
„Ich denke schon!“, bekam sie zur Antwort. Was sollte Sabine dazu auch sagen.
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Die Tür zum Treppenhaus öffnete sich. Ein Mann um die vierzig trat ein und ging zielstrebig auf Maria Krämer zu.
„Hallo Mutter. Mann, ist das wieder kalt draußen.“ Er wickelte sich aus seinem Schal und öffnete den Mantel.
„Hallo Kurt! Schön, dass du deine Schwester auch mal wieder besuchst.“ Der leise Vorwurf und die Verwechslung trafen ins Ziel.
„Ich bin Paul, Mama!“
„Bist du dir da sicher?“, es war nicht der erste Dialog dieser Art, den Mutter und Sohn führten. Die Enttäuschung im Gesicht des Mannes ließ sich nicht verbergen. „Dann kommt Kurt sicher später. Bist du sein Bruder? Ihr seht euch so ähnlich.“
„Wenn Kurt mein Bruder wäre, dann müsste ich doch auch dein Bruder sein, Mama!“ Er wurde ein wenig ungeduldig.
„Ich hab doch gleich gewusst, dass du mein Bruder bist, aber du wolltest ja nicht auf mich hören!“ Maria schien ebenso ungeduldig zu sein, wie er. Vermutlich hielt sie ihn für begriffsstutzig. Vom Alter her kam es aber hin. Maria schätzte, dass er zwei oder drei Jahre mehr auf dem Buckel hatte als sie. Der Mann zog sich einen Stuhl heran und nahm Platz. Auch er hatte kein großes Interesse am Sitztanz.
„Wie geht es dir heute?“
„Das kann ich dir nicht genau sagen. Der Tag ist ja noch nicht vorbei. Frag mich doch morgen nochmal, dann weiß ich es bestimmt.“ Die philosophische Betrachtungsweise der alten Dame lockte ein Lächeln auf die Lippen ihres Sohnes. Er würde ihr ein wenig von daheim erzählen, vielleicht erinnerte sie sich dann.
„Max hat heute ein Fußballturnier, Mama Er steht zum ersten Mal in der Startelf.“
„Fußball hast du früher auch gespielt, Franz!“ Der plötzliche Wechsel irritierte den Mann. Wie immer. „Und wenn ich am Spielfeldrand stand, hast du die meisten Tore geschossen. Spielst du immer noch?“
„Mama, Franz ist mein Bruder. Ich bin Paul, ich habe nicht Fußball gespielt.“
„Nein, du bist der Bruder von Kurt. Das hast du doch vorhin gesagt.“ Er gab es auf, die Zusammenhänge erneut zu schildern.
„Was macht die Mama?“, erkundigte sich Maria jetzt.
„Deine Mutter lebt nicht mehr, Mama.“ Er hatte keine Lust auf noch mehr weitschweifige Erklärungen. Sie starrte ihn an, voller Entsetzen.
„Warum hat mir das niemand gesagt? Was ist mit ihr passiert? Sie war doch letzte Woche noch bei mir.“ Tröstend legte er einen Arm um Maria, die den Verlust der Mutter heute nicht zum ersten und sicher nicht zum letzten Mal betrauerte. Ein paar Tränen liefen ihr über das Gesicht. Er schalt sich. Immer wieder nahm er sich vor, sie im guten Glauben daran zu lassen, dass alle ihre Lieben noch lebten. Wem schadete das schon?
„Wo bleibt denn heute dein Vater?“ Auf einmal hoffte er, sie habe ihn richtig zugeordnet.
„Meinst du Fritz?“
„Man spricht seine Eltern nicht mit dem Vornamen an, Paul. Das gehört sich nicht.“ Der deutliche Vorwurf ihrer traditionellen Erziehung klang aus diesen Worten. Seltsam, er freute sich über die Zurechtweisung, weil sie ‘Paul‘ gesagt hatte.
„Fritz war schon ewig nicht mehr bei mir. Der hat mich abgeschoben. Der wollte mich nicht mehr, hat gedacht, er steckt mich einfach hier rein und muss sich um nichts mehr kümmern.“ Der Ärger brodelte von einer Sekunde zur anderen in ihr auf. Ihre Stirn runzelte sich.
„Der Fritz, ich meine Papa, war gestern bei dir, glaube ich. Diesmal sprach er nicht davon, dass der Vater längst tot war. „Soll ich mal Schwester Sabine fragen?“ Er suchte eine Gelegenheit, den Gedankensprüngen seiner Mutter für Sekunden zu entfliehen.
„Ich habe keine Schwester“, sagte Maria bestimmt. „Meine Mutter mag auch den Namen Sabine gar nicht gut leiden.“
„Ich bin gleich wieder zurück, Mama!“ Er ging in den großen Saal. Inzwischen war der Sitztanz vorbei. Alle hatten ihre angestammten Plätze eingenommen. Manche unterhielten sich mit dem Nachbarn, andere waren von der körperlichen Aktivität erschöpft. Die Frau, neben der seine Mutter für gewöhnlich saß, war eingenickt. Ein leises Schnarchen war zu hören.
„Ist es schlimm heute, Herr Krämer?“ Die Pflegerin unterbrach ihre Tätigkeit und sah ihn mitleidig an.
„Ja, heute ist es schwierig. Erst hielt sie mich für ihren Bruder, dann für meinen.“
„Sie ist leider personell und chronologisch immer desorientierter, Herr Krämer. Sie weiß nicht einmal, wer sie selbst ist, hatte ich den Eindruck. Doch wir können nichts dagegen tun. Sie hätten Sie am Vormittag sehen sollen. Beim Kreuzworträtsel kannte sie alle Lösungen.“ Paul, der immer stolz auf das große Allgemeinwissen seiner Mutter gewesen war, nickte.
„Aber alles andere ist verschüttet. Leider.“ Sonst wusste auch Sabine nichts zu bereden und er kehrte zu seiner Mutter zurück.
„Schwester, haben Sie gesehen, mein Mann besucht mich!“, rief Maria laut.
„Das ist ein wirklich netter Mann, den Sie da haben, Frau Krämer.“
„Ja, den habe ich getauscht. Der andere war schon älter, der passte nicht mehr zu mir. Der hier muss zwar noch arbeiten und kommt nur selten vorbei, aber er ist ein guter Mann.“ Maria Krämer strahlte, als sie das sagte.
Paul schwirrte der Kopf. Er wäre so gern Paul für sie gewesen. Ihr Sohn, nicht der Bruder oder Mann. Trotzdem lächelte er der Mutter zu. Sie konnte ja nichts dafür. Maria erwiderte das Lächeln und fragte:
„Kommst du morgen auch wieder, Paul?“
„Ja, Mama“, lachte er mit einem Mal glücklich. „Ich komme morgen wieder.“
„Dann warte ich hier auf dich, mein Junge!“
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