Kurzgeschichte
Bald bin ich zu Hause

0
"Bald bin ich zu Hause"
Veröffentlicht am 31. Mai 2013, 8 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Though much is taken, much abides; and though. We are not now that strength which in old days moved earth and heaven, that which we are, we are; one equal temper of heroic hearts, made weak by time and fate, but strong in will to strive, to seek, to find, and not to yield. ~ Alfred Tennyson
Bald bin ich zu Hause

Bald bin ich zu Hause

Beschreibung

Die Geschichte eines Mädchens, bei dem Endstadium Krebs diagnostiziert wird. Die Freude und den Schmerz, aus denen diese Worte geboren wurden. Sie nahmen diese Worte - dann nehmen sie auch den Schmerz! ~ Der Dieb der Worte ! Coverbild von silver.penny aus BX kreiert !

 

"Wie lange?" Ihre schmale Mundpartie bebt bei der Frage. "Höchstens ein Jahr." Der Doktor schaut sie ernst an, sie erkennt kein Mitleid in den klaren, blauen Augen des älteren Mannes. Sie ringt sich zu einem gequälten Lächeln ab, "Also macht es nichts aus, wenn ich nächtelang Party mache und kiffe?" Ihr Gegenüber runzelt die Stirn, verneint jedoch. "Du bist 13, Clarisse." Unbeirrt fährt sie fort: "Ich kann saufen, stehlen, Sex haben." Ihre Augen fangen an zu leuchten. "Es wird keinen Unterschied machen, nicht wahr? Es ist egal, was ich mache. Es gibt keine Grenzen, weil es für mich nur noch eine Option gibt." Sie atmet aus und fragt schließlich mit leiser Stimme "Glauben sie ans Paradies? Sie wissen schon?" "Ich bin Atheist", erwidert er knapp. "Also nein." Ihr Blick ist auf ein kleines Fenster gerichtet. Unscheinbar und doch ein klarer Wegweiser.

 

 

 

"Es tut mir leid", bricht das Mädchen die unangenehme Stille, die sich über sie gelegt hat. Tränen sammeln sich in den haselnussbraunen Augen. "Meine Eltern haben so viel für mich gemacht. Sie haben mich behütet, ich habe kaum Freizeit. Hatte, meine ich. Ich habe immer gute Noten geschrieben. Ich bin Einzelkind ..." "Wohl oder übel werde ich deine Eltern benachrichtigen müssen. Ich bezweifle, dass eine Chemotherapie oder Bestrahlung helfen wird, weil du bereits im Endstadium bist." Niedergeschlagen schaut Clarisse auf ihre abgekauten Fingernägel. "Nur noch eine Option", wiederholt sie leise für sich. "Ich sehe schlecht aus, oder?", fragt sie ihn direkt.

Dass sie dünn ist und eine Glatze hat, weiß sie. Eine Kappe ziert ihren kahlen Kopf.


 

 

"Ich war in den Bergen, bei meinem Opa. So wie jedes Jahr. Sie haben es mir gerade noch erlaubt, mit dem Zug zu fahren. Sie werden ihm die Schuld geben. Ich war über einen Monat bei ihm. Die Sommerferien sind fast um." "Ich will nicht mehr", ergänzt sie und ihre Stimme klingt fest. "Bitte sagen sie ihnen nichts", fleht sie ihn, während sie mühsam aufsteht an. "Meine Pflicht als Arzt-", beginnt er sich träge herauszureden, "Scheißen sie auf Ihre Pflicht. Sie sind ein Mensch und haben die Chance ein Leben zu retten."

"Es soll kein Traum sein, aus dem ich nicht mehr erwache, ich will kein Morphin gespritzt bekommen. Ich will nicht leiden, um dann zu sterben!" Als sie ihm den Rücken zukehrt, flüstert sie: "Es soll so sein, als würde ich leben."

 

 

Daraufhin schreitet sie zum naheliegenden Bahnhof und kauft sich ein Ticket in den Südschwarzwald. In vier Stunden wäre sie da. Im Zug ruft sie ihre Mutter an und antwortet auf das besorgte Gerede lediglich mit: "Bald bin ich zu Hause." Du wirst sehen.

Als sie am anderen Bahnhof ankommt, zu dem es nur wenige verschlagen hat, ist ihr Akku leer. "Shit", flucht sie. Als ihr hilfesuchender Blick auf einen schmalen Pfad fällt, beschließt sie ihm zu folgen. Verlieren kann sie ohnehin nichts mehr. Und um etwas zu riskieren ist es nie zu spät, redet sie sich ein.

In Erinnerungen schwelgend läuft sie immer tiefer in das Labyrinth der Natur.

Schwer hechelnd kommt sie an einem Felsvorsprung an. Erleichtert setzt sie sich auf harten Stein. Wolken ziehen.

 

 

 

 

Ein endloser, fulminanter Ausblick bietet sich ihr. Sie erkennt Siedlungen, Felder, Hügel, Tiere. So muss sich Gott fühlen, denkt sie sich staunend.

 Aus freiem Impuls heraus fischt Clarisse die Tageszeitung aus ihrer Tasche und reißt ein Blatt ab. Dieses faltet sie zu einem stattlichen Papierflieger. Bewundernd hält sie ihn in der Hand und zielt auf die helle Himmelsdecke. Als er sanft und sicher gleitet und sich immer weiter von ihr entfernt, bis nur noch ein ferner weißer Punkt zu erkennen ist, erfüllt sie eine Woge tiefer Schwermut. Und doch ist da auch irgendwo mütterlicher Stolz.

Wie das kleine Mädchen von früher, breitet sie ihre Arme aus und springt. Richtung Paradies.

 

 

 

http://www.mscdn.de/ms/karten/beschreibung_91166-0.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/beschreibung_91166-1.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_1113404.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_1113405.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_1113406.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_1113407.png
http://www.mscdn.de/ms/karten/v_1113408.png
0

Hörbuch

Über den Autor

gedichteengel
Though much is taken, much abides; and though. We are not now that strength which in old days moved earth and heaven, that which we are, we are; one equal temper of heroic hearts, made weak by time and fate, but strong in will to strive, to seek, to find, and not to yield.

~ Alfred Tennyson

Leser-Statistik
38

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
Zeitenwind Zeit zum Träumen - Hmmm... solche Gedanken von einem dreizehnjährigen Mädchen ...? Vielleicht hätte ich sie in der Geschichte etwas älter gemacht. Dennoch hat sie mir etwas klar gemacht. Wenn einem nur noch wenig Zeit bleibt, versucht man sie zu nutzen, sie mit Leben zu füllen. Warum erst dann? Mir zeigt die Geschichte, dass man schon jetzt leben soll und nicht erst dann, wenn man ohnehin keine Zeit mehr hat.

Gruß vom Trollbär
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
1
0
Senden

91166
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung