Beschreibung
Vorgaben: Vergänglichkeit
Pflichtwörter: Perlenkette, Herbstzeitlose, Gretchenfrage, Alibi, Schierlingsbecher, Nebelwand, Fluss, Grenze, Siegel, Wagnis.
Zitat: Songtext aus: Der König der Löwen - Er lebt in dir
Sie war also schon da. Schon von weitem hörte ich ihre Stimme, ihr schrilles Lachen, die gekonnten Pausen zwischen den Sätzen, so war es immer gewesen und so würde es auch heute wieder sein. Meine kleine Schwester und ich, sie der glanzvolle Mittelpunkt jeder Gesellschaft, ich als Randfigur gerade noch geduldet.
Dabei hatten wir uns als Kinder ganz gut verstanden. Ich, als die Ältere von uns beiden, wollte sie immer beschützen, bemuttern und trösten, wenn sie mal Kummer hatte, ja, ich habe sie wirklich gemocht und irgendwie mag ich sie ja noch immer, obwohl...
Egal, ich würde mich heute, an Mutters Geburtstag wie immer im Hintergrund halten, mag sie doch ihren Auftritt genießen.
"Komm nur, du als Erste", meinte mein Mann. Beruhigend legte er seinen Arm um meine Hüfte und schob mich behutsam in den Saal.  Wie gut, dass er da war, ich fühlte mich immer sicher, wenn er bei mir war. Er war beruflich sehr eingespannt und oft bis spät nachts
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unterwegs, doch den heutigen Tag hatte er sich extra frei gehalten. Mutters Ehrentag war eben etwas ganz Besonderes.
Mit meiner Tochter an der Hand betrat ich lächelnd den Saal und mein Blick fiel sofort auf diesen riesigen Strauß roter Rosen. Ob es wohl tatsächlich sechzig Stück waren, dem Alter unserer Mutter entsprechend? Sie konnten nur von ihr kommen, niemand sonst würde wohl so übertreiben. Wie mickrig sah daneben unser Sträußchen Astern aus.
Freudestrahlend überreichte unsere Kleine mit einem kurzen Gedicht ihrer Oma die Blumen. Mutter freute sich augenscheinlich sehr darüber und sparte nicht mit Lob.
" Oh, wie niedlich! Aus dem eigenen Garten?" Der spöttische Unterton in der Stimme meiner Schwester war nicht zu überhören, als wir uns kurz begrüßten.
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Gratulationen, Ansprachen, die Feier nahm ihren Verlauf und irgendwann nach dem Essen zeigte mir Mutter ihre Perlenkette: "Schau, die habe ich von Chris bekommen, zusammen mit den Rosen. Ist sie nicht schön?"
"Wunderschön, wirklich", ich wollte meiner Mutter die Freude nicht verderben, sie hatte sich so auf diesen Tag gefreut. So sehr ich sie auch liebte, mit diesen Geschenken konnte ich nicht aufwarten, bei unseren bescheidenen Mitteln gab es eben nur eine Torte. Doch die war mit Liebe zubereitet und stand der feinsten Konditorware um nichts nach.
Später, mein Mann unterhielt sich gerade angeregt mit seinem Sitznachbarn und unsere Tochter spielte mit den anderen Kindern auf der Wiese, ging ich kurz auf die Terrasse.
Meine Schwester war bereits bei ihren zahlreichen Urlaubsreisen angekommen, ihr Redefluss war kaum zu stoppen, ich brauchte dringend frische Luft.
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Wie verschieden wir doch sind, kam mir so in den Sinn, als mein Blick die letzten Herbstzeitlosen auf der Wiese streifte.
Sie, strahlend wie eine Rose, perfekt geschminkt, langes blondes Haar und eine tadellose Figur, ein Gesamtkunstwerk, wie mein Mann früher einmal spöttisch bemerkte.
Ich, farblos wie diese Herbstzeitlose, zwar nicht in Kittelschürze, aber leider nur Hausfrau und Mutter und vielleicht auch ein bisschen zu mollig geworden.
Egal, mein Mann liebt mich wie ich bin, versuchte ich mich zu trösten.
"Das ist alles, das wäre mir zu wenig, nur Mann und Kind...", meinte sie vor Jahren einmal in Anspielung auf mein Leben, nachdem ich meinen Beruf meiner Tochter zuliebe aufgegeben hatte.
Bald darauf ging sie mit ihrem Freund, einem Manager einer großen Firma, nach Hamburg. Wie viele Jahre mag das wohl her sein, begann ich nachzurechnen.
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"Hallo Ulla, hier finde ich dich also, Schwesterherz", riss sie mich plötzlich aus meinen Gedanken. "Ich habe dich schon überall gesucht. Erzähle, wie geht es euch immer? Die Kleine hat sich ja prächtig entwickelt. Du, ich freue mich so, euch endlich wieder zu sehen."
Bereitwillig erzählte ich aus unserem Leben, mein Mann, meine Tochter, unser Häuschen mit Garten,
all das was mir wichtig war, versuchte ich auch ihr näher zu bringen.
Nach einigen banalen Höflichkeiten stellte sich zu meinem eigenen Erstaunen bald wieder die alte Vertrautheit ein, wir waren eben Schwestern.
"Und du, wie geht es dir in Hamburg? Was macht dein Job? Warum ist dein Freund nicht mit gekommen?"
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"Ach was, Ulla", verlegen blickte sie zu Boden, "du erfährst es ja sowieso, man hat mir gekündigt."
"Wie das, was sagt denn da dein Freund dazu?" Ich war überrascht.
"Lass mal, der feine Herr hat doch längst eine Jüngere im Vorzimmer sitzen. Ich war nur noch Klotz am Bein."
"Und das Auto?"
"War nur ein alter, klappriger Firmenwagen", ergänzte sie meinen Satz.
"Aber er hat dir doch ein Apartment versprochen, oder?"
"Ja, sicherlich, aber es bestand aus einem dunklen Kellerloch. Durch ein winziges, vergittertes Fenster konnte ich die Beine der vorbeigehenden Passanten sehen. Dass es ein Wagnis war mit ihm zu gehen, habe ich von Anfang an gewusst, doch dass es so enden würde, habe ich nicht geglaubt.
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Ich beneide dich, Ulla. Du hast einen Mann, der dich liebt, eine wunderbare Tochter und ein eigenes Daheim. Du hast dein Leben fest im Griff und weißt wo du hingehörst. Ich habe alles falsch gemacht. Du hast das bessere Los gezogen."
Weinend fiel sie mir nach diesen Worten um den Hals.
Nachdem sie sich einigermaßen erholt hatte, gingen wir schweigend zurück in den Saal.
Ihr Geständnis machte auch mich tief betroffen. Sie tat mir leid. So also sah das große Glück aus, das sie sich in der Ferne erhofft hatte. Ich hätte ihr gerne geholfen, doch wie?. Ich konnte nur da sein für sie.
Und plötzlich kam mir wieder ins Bewusstsein, wie glücklich ich selbst eigentlich war.
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Es war bereits Mitternacht, als es an der Tür klingelte.
Nur mit dem Nachthemd bekleidet, etwas verschlafen, öffnete ich.
Zwei Polizisten mit sehr ernsten Gesichtern standen vor mir.
Nach bangen Minuten des Schweigens eröffnete einer das Gespräch:
"Ihr Mann...",
"Was ist mit meinem Mann, er ist unterwegs, müsste aber bald hier sein", unterbrach ich ihn.
Wieder Schweigen, beide blickten zu Boden.
"Ihr Mann hatte einen schweren Verkehrsunfall und", wie durch eine Nebelwand vernahm ich diese Worte.
"Was ist mit ihm? Lebt er?"
Instinktiv suchte ich Halt und sank auf einen Stuhl.
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Mein Gott, wie oft hatten wir als junge Mädchen, diese Frage theatralisch vor dem Spiegel geübt. Oft genug sahen wir uns ja im Kino diese schnulzigen Heimatfilme an. Doch das hier war nicht Kino, sondern schonungslose Wirklichkeit.
Wie erbärmlich hört sich diese Frage an, wenn man sie selbst stellen muss.
Ihre versteinerten Mienen ließen mich die Antwort ahnen.
"Aber...", verzweifelt suchte ich nach Worten, nach einem letzten Fünkchen Hoffnung, doch...
"Er hatte keine Chance. Ein Lastwagen kam ins Schleudern..."
Die Polizisten bekundeten mir ihr Mitgefühl und gingen wieder. Ruhelos lief ich die Treppe auf und ab, immer wieder rauf und runter. Irgendwann kamen meine Eltern und kümmerten sich um meine Tochter.
Ich fiel in ein tiefes Loch, fühlte nichts wie Leere und wieder Leere. Wie viel Leid kann ein Mensch ertragen, wo liegt die Grenze?
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In den nächsten Tagen bemühte sich meine Schwester sehr um mich, und es waren nicht nur banale kurze Alibihandlungen. Nein, sie half mir wirklich wo sie nur konnte, spielte mit der Kleinen und nahm mir Behördenwege ab.
Wer am Ende das bessere Los gezogen hatte, auf diese Gretchenfrage fanden wir jetzt beide keine Antwort mehr.
Stumm zogen die Tage an mir vorüber.
Trost gab mir nur meine kleine Tochter. Ihr zuliebe musste und wollte ich weiterleben und griff nicht nach dem Schierlingsbecher, den mir manche dunkle Stunde so verführerisch anbot.
"Du hast ein Recht auf Leben. Dein Vater ist nicht tot. Er lebt in dir." Diese Worte kamen mir immer wieder in den Sinn, sooft ich meinem Kind in die Augen blickte.
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Unsere Eheringe, das Siegel unserer Liebe, trug ich an einer Kette um den Hals, als ich nach einigen Tagen zum ersten Mal wieder mein Elternhaus betrat.
Da waren sie noch, die roten Rosen.
Traurig, verwelkt, halb entblättert....
... wie mein Leben
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