Die intergalaktische Konferenz ist beendet. Bis zum Abflug meines Schiffes bleibt noch reichlich Zeit. Wie so oft auf fremden Planeten, genieße ich es, mich mit dem Strom von Touristen treiben zu lassen - egal wohin. Meist geht es bei solchen spontanen Ausflügen mit einem Touristengleiter sowieso zu außergewöhnlichen Attraktionen. Für mich ist dabei das Erlebnis der vielen verschiedenen Universalen* von Bedeutung. Es gibt mir jedes Mal ein tiefes Gefühl der Ruhe, sie alle so friedlich vereint zu sehen - nach den vielen Jahrzehnten oder Jahrhunderten von Kriegen und gegenseitigem Misstrauen. Auch ich habe dazu meinen Teil beigetragen. In anstrengenden Verhandlungen ist es mein Auftrag, den Standpunkt der Ozonier** einzubringen.
Entspannt lasse ich mich in die Polster des Gleiters sinken, der uns nun an den Rand der Äquatorialwüste bringt. Dort, so verrät unterwegs die freundliche Stimme meines Translaters, können wir ein Baudenkmal von gigantischem Ausmaß bewundern: „...Inmitten der Einöde stehen im Wüstensand einige riesige gläserne Würfel, übriggeblieben aus der inzwischen überwundenen Epoche einer Klassengesellschaft. In diese Käfige wurden damals Andersdenkende eingesperrt. ..." Nun werde ich so richtig neugierig. Sofort ist mein fachliches Interesse geweckt und ich kann es kaum noch erwarten, endlich mit eigenen Augen zu sehen, was da aus einer Broschüre des Reiseveranstalters zitiert wird.
Der Gleiter schwebt inzwischen über dem Landeplatz. Nachdem sich meine Augen an das intensive Türkis der Abendsonne gewöhnt haben, suche ich das Umfeld vergeblich nach den Käfigen ab. Erstaunt stelle ich fest, dass es den anderen Passagieren ebenso zu gehen scheint. Dabei sind unter ihnen bestimmt nicht wenige mit Ultraschallwahrnehmung.
Während wir irritiert auf dem Platz umherlaufen und eine Orientierung suchen, entfernt sich der Gleiter, der uns hierherbrachte. Ganz allmählich beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Wir haben doch bei einem seriösen Reiseunternehmen gebucht! Dafür können wir doch auch angemessene Betreuung und Sicherheit erwarten. Zu spät werde ich mir bewusst, das ich versäumt hatte, vor dem Einchecken nachzufragen, wie lange der Ausflug überhaupt dauern würde. Was, wenn ich nun am Ende mein Schiff in die Heimat verpasse? In diese entfernte Region der Galaxis werden nicht regelmäßig Passagierschiffe geschickt. Nur zu besonderen Anlässen, wie eben dieser Konferenz gibt es den Transit. Ansonsten fliegen nur in größeren Abständen Lastenschiffe hier vorbei. Der Flug mit einem solchen Transporter ist immer sehr anstrengend. Es gibt kaum Abwechslung, denn die Besatzung besteht oft nur aus stumpfsinnigen Robots. Manche Transporter besitzen nicht einmal Strahlenschutz, geschweige denn Schlafcontainer.
So in meine Grübelei vertieft, merke ich nicht, dass sich alle anderen Touristen bereits in beträchtlicher Entfernung befinden. Da muss ich mich sputen, um nicht ganz allein in dieser Einöde stehen zu bleiben. „Was soll das Ganze? Kriecht da etwa Angst in mir hoch? Nicht doch, da habe ich schon ganz andere Situationen hinter mir! Wie zum Beispiel in den Quecksilberminen von Loc auwa. Als ein Schürfroboter außer Kontrolle geriet. Das war gefährlich! Da hätte alles in die Luft fliegen können. Aber hier? Was ist diese langweilige Wüste schon gegen Loc auwa," - versuche ich mir selbst einzureden. Dennoch bleibt der dumpfe Druck in meiner Magengegend. Langsam schiebt er einen Watteklumpen den Hals hoch. Das Atmen fällt von Schritt zu Schritt schwerer, obwohl die klimatischen Bedingungen optimal sind. So garantiert mir jedenfalls der Mobilanalyser.
* (Bewohner der unterschiedlichen Galaxien)
** (Sauerstoffatmende)
Instinktiv beschleunige ich meine Schritte, trotz der Anstrengung, die damit verbunden ist. Die Angst, den Anschluss an die Gruppe zu verlieren und damit den letzten Halt in dieser fremden, unheimlichen Situation, ist doch größer. Und sie wächst in mir, um so mehr ich erkenne, dass ich die Gruppe kaum einholen werde. „Halt! Wartet doch auf mich!" Mit heiserer Stimme rufe in die Wüste hinein. Natürlich kann mich keiner hören. Dennoch scheint die Gruppe jetzt zu stoppen. Ja, richtig, sie bleiben stehen. Erleichtert kann ich wieder durchatmen. Mit kräftigen Schritten eile ich auf die anderen zu. Sie scheinen sich sehr über irgendetwas zu wundern. Einige gestikulieren wild mit ihren Extremitäten herum. Andere wiegen bedächtig den Oberkörper hin und her. Dann teilt sich die Gruppe. Während einige langsam, tastend nach links gehen, kriechen, hüpfen oder schweben, entfernen sich andere nach rechts. Drei aus der Gruppe kommen nun zurück - direkt auf mich zu. Gleich werde ich wohl erfahren, was sie dazu veranlasst hat, umzukehren.
Was ich dann aber höre, verschlägt mir den Atem. Eine für ihre Rasse ausnehmend hübsche Canonierin lispelte etwas von: „... Mauer, die man nicht sieht. ... Keine Substanz zu spüren.
... Weiterkriechen nicht möglich." Schließlich entnehme ich aus den Bruchstücken der übersetzbaren Teile ihrer Darstellung, dass sich dort vorn so eine Art gläserne Mauer befinden muss. So groß, dass man die Begrenzung weder zu den Seiten hin, noch nach oben erkennen kann. Sie muss außerdem aus einem unbekannten Material sein, dass keiner der Reisenden identifizieren kann. Aber dennoch undurchdringlich. Um die Abmessungen zu erkunden, hatten die Touristen beschlossen, sie nach rechts und links abzusuchen. Irgendwo muss doch mal eine Ecke oder das Ende der Mauer kommen. Diejenigen, die zurückgekommen waren, sollten aus größerer Entfernung versuchen, eine Begrenzung der Mauer zu entdecken. Nach meinem Empfinden müssen inzwischen zwei oder drei Stunden vergangen sein. An unserer Situation hat sich nichts geändert. Noch immer sitzen wir hier verlassen in einer uns unbekannten und abgelegenen Gegend. Wir haben keinen Proviant, kein Wasser und keine Nerven mehr. Einige von uns beginnen unter den für sie ungewohnten klimatischen Bedingungen zu leiden. Da ist zum Beispiel die junge Canonierin - sie heißt übrigens (in unsere Sprache übersetzt) Atlanta - die von ihrem Heimatplaneten her wesentlich wärmere Abende gewöhnt ist. Nachdem die Sonne hier hinter dem Horizont verschwunden ist, sinkt die Temperatur auch von Minute zu Minute. Über uns schimmern matt einige verstreute Sterne zwischen den Schwaden der Türkiswolken. Auch mir wird allmählich kühl. Größere Sorgen bereitet mir allerdings die Ungewissheit unserer Situation.Die beiden Gruppen, die seitwärts ausgeschwärmt waren, um das Ende der Wand zu finden, sind zurückgekehrt, ohne ein Ergebnis vorweisen zu können. Ratlos sitzen wir nun alle auf dem Landeplatz und warten darauf, dass etwas - irgendetwas - passiert. Aber nichts tut sich.
Am Nachthimmel zeigt sich kein Gleiter. Auch sonst nähert sich kein Fahrzeug, um uns hier wegzuholen. Mir kommt diese ganze Situation so unsinnig und unwirklich vor, dass ich immer wieder die Augen schließe und mir fest vornehme, beim Öffnen der Augen aufzuwachen. Im Hotel, auf dem Abflugterminal oder, noch besser: im Schiff, bereits auf dem Heimflug zur Erde. Aber es ist kein Traum. Ich sitze mit ungefähr 20 anderen Touristen von allen möglichen Planeten nachts im Wüstensand und weiß nicht, wie ich hier wegkommen soll.
Mit einem Mal beleuchten grelle Scheinwerfer unsere Gruppe. Von allen Seiten scheint plötzlich Motorengedröhn und Turbinenlärm zu kommen. Achtung, Achtung! Bitte begeben Sie sich umgehend in das Informations- und Dokumentationszentrum. Es befindet sich in zirka 20 Meter Entfernung Richtung Süden. Tatsächlich ragt dort nun ein glitzernder Zylinder aus dem Sand, der mit Sicherheit vor einigen Minuten noch nicht da war. Zitternd und unsicher hasten wir darauf zu, obwohl wir doch nicht wissen, was uns dort erwartet. Aber immerhin ist es eine Veränderung der bisherigen Situation. Wir sind jedenfalls nicht allein hier. Wir wurden nicht von einem unaufmerksamen Piloten einfach vergessen, wie einige schon vermutet hatten. Im Innern des Zylinders umgeben uns wohliges Licht und angenehme Wärme. Es gibt für jeden Gast seinen Bedürfnissen entsprechende Nahrung. Und Sauerstoffduschen. Und Wirbelstrommassagen. Und Gravitationszentrifugen. Und und und. Ich kann all die Wohltaten der modernen Zivilisation nicht aufzählen, die uns nun überreich zuteil werden. Was mich bei all den schönen Dingen dennoch stört, ist die bohrende Frage nach dem Warum. Warum erst das stundenlange Umherirren in der Wüste und nun die überfreundliche Bewirtung? Warum sagt uns immer noch niemand, was hier eigentlich los ist? Es gibt keine Erklärung des Reiseunternehmens, keine Entschuldigung des Servicepersonals. Keine Andeutung darüber, was zum offiziellen Programm gehört und was nicht. Allmählich wird mir fast so unbehaglich wie vorhin im Sand der Wüste. Diese Ungewissheit ist zum Wahnsinnig werden. Dieses hin und her gerissen sein zwischen Faszination und Verunsicherung. Diese Unsicherheit über Zweck und Verlauf der Ereignisse. Diese aufsteigende Wut über die spürbare Abhängigkeit, ja das völlige Ausgeliefertsein ohne jemanden zu haben, an den man sich mit den berechtigten Beschwerden wenden kann. Von den Verantwortlichen ist weit und breit niemand zu sehen. Ich kann nicht mal jemandem mitteilen, dass ich allmählich wirklich Sorge haben muss, mein Schiff zu verpassen.
Im Stillen nehme ich mir ganz fest vor, sofort nach der Ankunft in der Stadt eine saftige Beschwerde loszulassen. Einfach unverschämt, wie respektlos hier mit weitgereisten Gästen umgegangen wird! „Wenn ich hier rauskomme, dann...!" Da ertappe ich mich tatsächlich bei dem Gedanken daran, die Möglichkeit einzubeziehen, dass ich hier eventuell auch nicht rauskomme! Das ist doch wirklich schon schlimm. Was aber, wenn dies ganze hier eine geschickt eingefädelte Entführung ist und eine Gruppe von Terroristen es darauf abgesehen hat, meine Rückkehr zur Erde zu verhindern? Immerhin, wir befinden uns inzwischen unter dem Boden der Wüste. Ein Suchkommando hätte kaum eine Chance, uns zu orten. Niemand wusste, wo ich die Zeit bis zum Start verbringen wollte. Panik kriecht in meinem Hals hoch. Ich bekomme Atemnot und mir wird schwarz vor Augen.
. . .
Als ich wieder zu mir komme, beugt sich ein Einheimischer neugierig über mich. Erstaunlich gut artikulierend teilt er einem Dritten, für mich nicht sichtbaren mit, dass ich wieder bei Bewusstsein wäre. Aha, mein Verdacht bestätigt sich also! Ich bin in der Hand von Entführern. Was macht man in einer solchen Situation? Zuerst muss ich in Erfahrung bringen, was sie überhaupt von mir wollen. Was bezwecken sie mit der Entführung eines Abgesandten der Erde? Erst einmal scheinen sie sich aber zu freuen, dass ich am Leben bin. Das ist schon wichtig, denn daraus schließe ich, dass sie mich lebend brauchen. Langsam versuche ich, mich unauffällig umzusehen. Scheinbar bin ich in einen anderen Raum gebracht worden, denn von den anderen Touristen ist keiner mehr zu sehen. Ich weiß auch nicht, wieviel Zeit inzwischen vergangen ist. Ich weiß nur, dass mir der Schädel brummt und ich keinen Knochen rühren kann. Als wäre ich festgeschnallt oder gelähmt. Hatten sie etwa Drogen in das schmackhafte Essen gemischt? Denkbar wäre es schon. Am besten, ich analysiere erst mal, was ich alles über diesen mysteriösen Entführungsfall zusammenbekomme. Etwas anderes kann ich im Moment sowieso nicht tun. Also erstens, die Konferenz war für unsere Delegation erfolgreich verlaufen, was man nicht von allen Verhandlungspartnern sagen konnte. Wer könnte also ein Interesse daran haben, die guten Beziehungen aufs Spiel zu setzen oder die Vertragsabschlüsse doch noch zu verhindern? Zweitens: Mein Ausflug hierher war völlig spontan und ich hatte vorher mit niemandem darüber gesprochen. Ich war auch von keinem auf diese Sehenswürdigkeit aufmerksam gemacht worden. Meines Wissens hatte mich auch niemand verfolgt oder beobachtet. Wie also, bei allen Kometen, konnte hier das ganze Szenario so exakt vorbereitet und inszeniert werden? Und es war offensichtlich, dass alles hier bis in das kleinste Detail aufeinander abgestimmt worden ist. Der Gleiter, der uns ganz unauffällig hierherbrachte und absetzte, danach aber spurlos verschwand. Das war Phase 1. Phase 2 sollte uns völlig verwirren und ermüden. Schließlich, genau zum richtigen Zeitpunkt kam dann mit Phase 3 die scheinbare Rettung, die mich aber nur reif dafür machen sollte, das Betäubungsmittel auch zu schlucken. Ja, so könnte es gewesen sein. Aber da bleibt immer und immer wieder die bohrende Frage, warum das Ganze? Als sich der Einheimische mit seinen neugierigen Augen wieder über mich beugt, schleudere ich ihm diese Frage brüllend entgegen: „Was wollt ihr von mir?" Erschrocken zuckt er zusammen. Dann wechselt er einen Blick mit dem mir noch immer Verborgenen. Sicher ist das einer der Auftraggeber und er bleibt deshalb außerhalb meines Blickwinkels, damit ich ihn nicht erkenne. Damit ich ihn nicht erkenne? Oder vielleicht - wiedererkenne? Sicher kenne ich ihn von einer Tagung oder einem Kongress! Ich muss nur intensiv nachdenken. Dann kriege ich das Puzzle zusammen. Konzentriere dich, Alter! Denk nach! Ich spüre, dass ich kurz vor der Lösung stehe. Sie ist greifbar nahe vor mir. So, als ob ich nur den Arm ausstrecken muss, um sie zu greifen. Um zu be-greifen. Als ich dem Neugierigen wieder in seine wabenartigen Augen schaue, spiegelt sich darin etwas. Ich konzentriere mich nur noch darauf, endlich zu erkennen, was das sein kann. Instinktiv spüre ich, dass dies die Antwort auf all meine Fragen ist. Langsam, mit gluckernder Stimme, wie es für die Bewohner hier typisch ist, wendet sich der Fremde nun zum ersten Mal direkt an mich: „Bleib ganz ruhig liegen. Es passiert dir nichts. Du bist noch sehr schwach. Ich gebe dir erst einmal eine Injektion. Es wird dir helfen." Ich bin entsetzt. „Nein!" will ich aufschreien. Aber aus meinem Mund kommt nur ein wimmerndes Schluchzen. Das Letzte, was ich sehe, ist die Injektionsnadel, die sich vorhin in den furchtbaren Augen meines Wächters gespiegelt hat. Nun hebt er sie mit einem seiner Tentakeln vor sein Auge, um fachmännisch die restliche Luft aus dem Zylinder zu pressen. Dann dreht sich alles vor meinen Augen. Der Einheimische vor mir verschwimmt zu einer wabbelnden formlosen Masse.
. . .
Sonderbar klar und entspannt wache ich auf. Dieses Mal habe ich keine Angst mehr. Obwohl die Erinnerung an all die Ereignisse deutlich in meinem Bewusstsein vorhanden ist, füllt mich sonderbarerweise eine totale Ruhe. Sicher auch eine Wirkung des Narkotikums, das sie mir verabreichten. Wie lange bin ich nun eigentlich schon hier? Ich habe inzwischen jegliches Zeitgefühl verloren! Aber auch das beunruhigt mich nun nicht mehr. Eigentlich bin ich nur noch neugierig darauf, was mit mir geschehen soll. Was dann aber passiert, verschlägt mir doch den Atem. Vor meinen Augen baut sich im Raum eine Projektion auf, die ich sehr genau kenne. Es ist meine Mutter. Das Hologramm ist präzise und klar. Nicht wie sonst meist bei solchen Darstellungen üblich, mit falschen Farben und wackeligen Verzerrungen. Obwohl ich doch genau weiß, dass dies auch wieder so ein Trick der Entführer ist, um mich zu verwirren oder zu täuschen, bin ich fasziniert und gespannt darauf, warum meine Mutter hier erscheint. „Lieber Sohn ...", beginnt sie nun zu mir zu sprechen. „Entschuldige bitte, dass für dich bis jetzt alles so verwirrend und bedrohlich erscheinen musste. Wir hatten nicht gedacht, dass dich die Simulation der Gedenkstätte so mitnehmen würde. Wir wollen den Touristen doch alles so realistisch wie nur irgend möglich darstellen. Da dich der Anblick unseres Mediziners sehr beunruhigt hat, haben wir uns dieses Mal dafür entschieden, mit dir über ein Hologramm deiner Mutter zu kommunizieren. Offensichtlich geht es dir jetzt wesentlich besser und du akzeptierst die Kommunikation. Entschuldige, dass wir dazu die entsprechenden Erinnerungen aus deinem Unterbewusstsein abrufen mussten. Nun würden wir dir gern die gesamte Anlage zeigen. Vorausgesetzt natürlich, dass du dies jetzt überhaupt noch möchtest und du dich dazu in der Lage fühlst.
Nun bin ich soweit gegangen, den Rückflug aufs Spiel zu setzen. Und irgendwie muss diese Geschichte ja weitergehen. Also will ich jetzt auch alles über diese geheimnisvolle Anlage wissen, entscheide ich still für mich - und nicke dem Hologramm nur stumm zu. Diese Gedenkstätte wird mir immer unheimlicher. Diesmal fahren wir mit einem geländegängigen Fahrzeug nach draußen. Das Hologramm ist übrigens inzwischen verschwunden und neben mir sitzt - oder besser gesagt, hockt - wieder der Einheimische mit den Insektenaugen.
Was er mir berichtet, kann ich kaum wiedergeben, sosehr hat es mich erschüttert. Aber zum Glück habe ich meinen Translater auf 'Aufnahme' gestellt und kann später in Ruhe niederschreiben, was da gespeichert ist:
. . .
„Wir waren acht Oppositionelle damals, als sie uns mitten in der Nacht abholten und hierher brachten. Weil wir öffentlich gegen die Politik der Regierung aufgetreten waren, haben sie uns ohne Gerichtsverhandlung, ohne Anhörung, sofort zu lebenslanger Isolation verurteilt. Das Urteil wurde sofort vollstreckt. Gerüchte über diese Art der Bestrafung hatte es zwar unter der Bevölkerung gegeben, aber so richtig glauben konnte es kaum jemand. Zu ungeheuerlich war uns eine solche Vorstellung. In den Käfigen waren jeweils Gruppen von zehn bis zwanzig Gefangenen untergebracht. Es gab keine Unterstände, keine Möglichkeit, irgendwo einmal für sich allein zu sein. Immer war um einen die Gruppe der Mitgefangenen. Es waren nicht nur 'Politische' hier eingesperrt, sondern einige waren wegen ihres religiösen Bekenntnisses oder so genannten asozialen Verhaltens hier. Es gab Kriminelle und solche mit abartigen sexuellen Vorlieben. Und dann gab es auch viele der armen, bedauernswerten geistig verwirrten, im wirklichen Sinne 'Wahnsinnigen' hier, wobei oft unklar blieb, ob sie aufgrund ihrer Geisteskrankheit hierhergebracht worden waren, oder ob sie durch den Aufenthalt hier erst krank geworden waren. Letztendlich war uns das auch egal. Nur manchmal, wenn ich nachts wach lag, nicht schlafen konnte und diese armen Irren schrieen, kicherten oder wie Tiere heulten, fragte ich mich, wie lange es wohl noch dauern könnte, bis ich selbst mich zu ihnen gesellen würde."
An diesem Punkt seines Berichtes macht mein Begleiter - übrigens ein bei näherem Hinsehen sehr attraktiver und intelligent wirkender älterer Herr seiner Rasse - eine Pause, denn wir sind vor einer Glaswand angelangt und steigen aus dem Fahrzeug aus. Dann fährt er fort:
„Am Tage kamen die Touristen. Schon damals war dies hier eine Touristenattraktion. In Scharen drängten sich die Schaulustigen vor unseren Käfigen. Es waren große Tafeln aufgestellt, solche wie diese dort drüben. Auf ihnen wurde wortreich erklärt, dass die Wesen in den Käfigen keine vernunftbegabten Wesen seien, auch, wenn der äußere Anschein dies nahelegt. Es wären doch nur Kreaturen, die unserer Art täuschend ähnlich sind. Deshalb auch als sehenswert ausgestellt. Davon wussten wir in den Käfigen natürlich nichts. Wir wunderten uns anfangs nur sehr darüber, dass die Besucher uns durch die dicke Glasscheibe hindurch so interessiert und unverschämt anstarrten. Einige Kinder zogen Grimassen, machten Späße und lachten, winkten und amüsierten sich, wenn wir zurück winkten.
Als wir Acht damals verbannt wurden, hatten wir uns geschworen, immer zusammenzuhalten, was auch passiert. Aber das misslang schon von Anfang an, denn wir wurden gleich voneinander getrennt und in verschiedene Käfige gesperrt. So war ich allein, als ich aus dem Gleiter geschoben wurde. Sofort hatten sich die Insassen des Käfigs neugierig um mich gescharrt. Diejenigen unter ihnen, die noch bei klarem Verstand waren, sprachen auf mich ein, fragten nach der aktuellen Situation draußen. Sie wollten wissen, woher ich komme und warum ich verbannt worden bin. Alles musste ich berichten. Andere interessierten sich inzwischen mehr für meine Kleidung und die wenigen Gegenstände, die ich bei mir trug. Das war ich dann auch alles in kürzester Zeit los. Einer der Mitgefangenen tröstete mich mit den Worten: Nimm's nicht schwer, das brauchst du hier drin nicht mehr. Am nächsten Morgen erkannte ich die bittere Wahrheit, die in diesen Worten steckte. In diesem Käfig ging es nur noch ums Überleben. Es gab keine Solidarität, keine Freundschaft, keinen Schutz. Das Essen wurde uns durch den unterirdischen Versorgungstrakt (den kannte ich ja schon) zugeschoben, wie wilden Tieren. Es war immer zu knapp, so dass täglich ein zäher Kampf um die Nahrung entbrannte.
Da merkte ich, dass ich an der Endstation angekommen war. Es gab nur noch einen Gedanken für mich: Wie komme ich hier jemals wieder weg? In den ersten Tagen meiner Gefangenschaft hatte ich noch die irrige Hoffnung, in der Besuchermenge ein bekanntes Gesicht zu entdecken. Deshalb setzte ich mich immer in die Nähe einer Glaswand und musterte aufmerksam alle vorbeischlendernden Touristen. Dann zeigten einige Kinder auf mich und sagten unverständliche Worte zu den Erwachsenen. Die Worte konnten wir durch das Glas hindurch nicht verstehen. Aber aus den Gesten und der Mimik schloss ich doch, dass sie mich für ein außergewöhnliches Exemplar hielten, da ich doch so aufmerksam war. Dann versuchte ich immer, durch die Glaswand hindurch zu rufen, zu schreien, zu brüllen. Mich irgendwie bemerkbar zu machen. Was ich nicht wusste, die Geräusche aus dem Käfig waren draußen über Lautsprecher hörbar, allerdings so verzerrt, dass Sprache nur als Grunz- oder Schmatzlaute vernommen wurde. Wenn ich nun immer lauter wurde, bekamen die Besucher Angst und sahen die Hinweise auf den Schildern allzu gut bestätigt. Nach einigen Tagen gab ich dann auch die Versuche auf, mich denen da draußen verständlich zu machen. jetzt richtet ich meine Aufmerksamkeit mehr auf das Geschehen im Käfig, beobachtete meine Leidensgenossen. Keiner von ihnen machte irgendeine Andeutung, dass er sich mit jemand anderem zusammentun wollte. Keiner ließ irgendwelche Gedanken an Flucht erkennen. Jeder schien ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Und wer nicht in dem täglichen Gleichklang abstumpfte, der wurde früher oder später irre. So hatte es den Anschein. Eines Morgens blieb einer der Gefangenen am Boden liegen. Selbst, als sich der Zylinder des Versorgungstraktes aus dem Boden hob und die Nahrung herausgeworfen wurde, regte er sich nicht. Ich ging auf ihn zu, wollte ihn ermuntern, dann ertappte ich mich bei dem Gedanken daran, dass es doch schließlich seine Sache sei und mir egal sein könne. Sogar, dass es doch ganz gut wäre, wenn einer weniger um das bisschen Essen kämpft, da bliebe für mich mehr übrig. Soweit war es mit mir gekommen. Wir waren wirklich nur noch Kreaturen! Einige Tage später starb er. Irgendwann in der Nacht schleppte ich ihn mit einem meiner Leidensgenossen zum Zylinder. Als die Sonne aufging, war sein Leichnam verschwunden. Dafür brachte der Gleiter wenige Stunden später einen neuen Verbannten. Nun reihte ich mich mit den anderen in den Kreis um den Neuen. Wieviel Zeit war seit meiner eigenen Ankunft vergangen? Waren es Wochen oder Monate? Ich fragte und fragte. Wann hatte ich das letzte Mal überhaupt mit jemandem gesprochen? Meine Stimme klang mir selber fremd und hölzern. Ab und zu musste ich nach den richtigen Worten suchen, um mich ihm verständlich zu machen. Hin und wieder sah uns unser neuer Leidensgenosse verständnislos an, so als kämen wir von einem anderen Stern. Als die Diebesbande anfing, an seinen Sachen herumzutasten, wurde er unruhig und wollte sie abwehren. Da hörte ich mich selbst sagen: Nimm's nicht schwer, das hat hier drin keinen Wert mehr."
Erneut bricht mein Begleiter die Schilderung ab. Ich sehe ihn an und bemerke in den großen dunklen Augen diesen eigentümlichen Schimmer. Das ähnelt in auffallender Weise unserem Ausdruck von Traurigkeit und Wehmut. „Wie bist du nun aber aus dem Käfig herausgekommen? ", frage ich ganz direkt. Den Schluss des Berichtes kann mein Begleiter nur stockend und immer wieder zögernd erzählen.
„Da war eines Tages dieses Mädchen." sagt er. „Sie stand nur so da vor der Wand. Anders als all die anderen war sie nicht entzückt oder amüsiert, sondern eher nachdenklich. Ihre Aufmerksamkeit war irgendwie suchend. Hatte sie das Schild übersehen? Ahnte sie etwa, dass hier irgendetwas nicht stimmte? Längst hatte ich begriffen, dass sprachliche Verständigung nur Ablehnung, Angst oder Entzücken auslöste. Mir musste etwas anderes einfallen, um das Mädchen auf mich aufmerksam zu machen. Ich begann damit, dass ich mit den Tentakeln symmetrische Zeichen an der Glaswand darstellte. Immer und immer wieder. Dann deutete ich auf das Mädchen und auf mich. Ich zeigte nach Norden, dorthin, wo in weiter Ferne meine Heimat liegen musste. Stellte dar, wie ich gewaltsam hierher verschleppt worden bin. Das Mädchen sah mich traurig an. Hatte sie verstanden? Sie drehte sich um, rief den anderen etwas zu, wollte erklären, aber scheinbar glaubte ihr niemand. Dann kam das Signal zum Abflug des Touristengleiters. Das Mädchen lief den anderen zum Landeplatz nach. Von da an kam sie täglich wieder. Immer zur selben Zeit stand sie am gleichen Platz vor der Scheibe. Allmählich entwickelten wir so etwas wie eine Zeichensprache. Wir konnten uns verständigen. Der Neue gesellte sich eines Tages zu mir. Dadurch entstand so etwas wie Freundschaft. Misstrauisch beäugten die anderen Verbannten unser Tun. Also waren sie doch nicht so teilnahmslos, wie es den Anschein hatte. Allein durch diese eine Stunde am Tag und durch den Kontakt zum Neuen wurde die Verbannung für mich erträglicher. Es gab da so etwas wie einen Hoffnungsschimmer. Die Lebensgeister waren in mich zurückgekehrt. Nun zählte ich auch die Tage, legte mir so etwas wie einen Kalender an. Am elften oder zwölften Tag ihres Erscheinens bemerkte ich dann zum ersten Mal die beiden Gestalten hinter dem Mädchen. Sie erregte meine Aufmerksamkeit dadurch, dass sie sich nicht für die Glaskäfige und uns interessierten. Sie beobachteten etwas anderes. Unverwandt verfolgten sie jede Bewegung des Mädchens. Sie sahen, wie sie sich durch Zeichensprache verständlich machte. Sie würden auch jede Reaktion von mir sofort erkennen. Aber ich musste das Mädchen doch warnen. Was konnte ich nur tun? Mir blieb nur ein Ausweg, um das Mädchen zu retten. Ich fing einen Streit mit meinem Nachbarn, dem Neuen an. Ich brüllte und tobte, so dass alle Besucher vor dem Käfig ängstlich zurückwichen. Auch das Mädchen war unsicher einige Schritte zurückgegangen. Ihre zwei Verfolger konnte ich jetzt nicht mehr entdecken. So unauffällig wie nur irgend möglich deutete ich ihr an, was ich beobachtet hatte. Zwischendurch immer wieder mit dem Neuen kämpfend und fauchend, suchte ich die Verfolger in der Masse. Die Touristen zogen sich zum Landeplatz zurück. Auch das Mädchen verschwand aus meinem Blickfeld. Ich habe sie seit dem Tage nie wieder gesehen. Ob sie entdeckt und verhaftet worden ist, weiß ich nicht. Vielleicht hatte sie mich auch rechtzeitig verstanden und konnte sich in Sicherheit bringen. Nur zu gern wüsste ich, was aus ihr geworden ist. Sie hat mir damals die Hoffnung wiedergegeben und damit das Leben gerettet. Sonst hätte ich die Jahre bis zum Sturz der Regierung wohl kaum überlebt."
. . .
„Nun, es wird Zeit, in die Gegenwart zurückzukehren. Wenn du dein Schiff noch erreichen willst, dann müssen wir zum Spaceport aufbrechen."
Damit holt mich mein Begleiter augenblicklich in die Realität zurück. Jetzt, auf dem Rückflug zur Erde, schreibe ich die Aufzeichnungen des Translaters ab und stelle mir mit einem Mal die Frage, wieviele solcher Käfige es wohl auf der Erde geben mag.
Gaenseblume LG Marina |
ORDEP01 Re: - Danke für dein Feedback und die Bewertung, Helga. Ja, das ging mir auch so durch den Kopf und darum entstand die Geschichte dann wohl auch. L. G. ORD EP Zitat: (Original von Zentaur am 10.09.2013 - 02:05 Uhr) super geschrieben Diese Art Käfige haben wir in gewisser Weise schon lange auf der Erde, die meisten wissen nur nicht, dass sie längst in einem sitzen. lg Helga |
EagleWriter Liest sich doch eigentlich nicht schlecht. Die Story is an sich auch spannend... ich hoffe davon gibts noch mehr :-) lg E:W |