Einleitung
Dieses Buch widme ich all den Menschen,die körperlichen und geistigen Behinderungen haben und dadurch ausgrenzt und an die Seite gedrängt werden.Schaut eure Welt mit anderen Augen an!
Warum schreibe gerade dieses Buch?
Manchmal geht das Leben eigenartige Wege. Man denkt sich oft bei Kleinigkeiten:
*Warum passiert so etwas gerade mir?*
Es ist doch so, jede Medaille bekanntlich zwei Seiten hat, eine gute und eine weniger gute.
Liegt es nicht an uns, welche Seite wir sehen wollen?
Ob wir jammern und klagen?
Wohin wir blicken?
Ob wir den Menschen denen wir begegnen, offen in die Augen schauen oder beschämt zur Seite sehen, weil es uns unangenehm ist?
Wie oft sehen wir weg, wenn wir auf der Straße behinderte Menschen sehen, egal ob geistig oder körperlich behindert?
Wir gehen auf die andere Straßenseite, schauen auf den Boden oder in eine andere Richtung, nur um keinen Blickkontakt zu haben.
„Das stimmt nicht“, sagt ihr. Oh doch, das geht jedem so, auch mir.
„Warum?“, frage ich Euch?
Schämen wir uns, weil wir gesund sind?
Schämen wir uns, weil wir noch alles tun können?
Oder ist es nur die Unsicherheit, weil wir nicht wissen, wie wir uns richtig verhalten sollen?
Haben wir etwa Angst den
Behinderten zu verletzen?
Oder fürchten wir uns nur davor, es könnte uns morgen genauso gehen?Mitten aus dem Leben gerissen, zum Außenseiter zu werden!
Fragen die sich eure Miss pélled stellt.
Mitten aus dem Leben
Es war der 7. November 2007, müde und kaputt, jeden Knochen im Körper spürend, stiegen wir aus dem Einsatzbus, wir wollten nur noch in die Dienststelle und ins Bett. Wie stets gingen meine Gedanken wandern, so war es immer bei mir. Ich konnte einfach nicht abschalten, es gab halt keinen Schalter den man so einfach umlegen konnte.
Seit fast vier Wochen jagte ein Einsatz den anderen, wir waren kaum noch zum Ausruhen gekommen, es war wieder einmal ein Horror Monat gewesen. Dieser Herbst, war der schlimmste den ich überhaupt kannte. Der schlimmste Oktober, in meiner gesamten Dienstzeit. Keine Ahnung, weshalb gerade immer im Oktober so viele Einsätze kamen, es war einfach so. Wenn der Monat vorbei war, machten wir schon immer drei Kreuze in den Kalender, danach wurde es meistens wieder
ruhiger. So dachte ich auch vor sechs Tagen noch.
Ich irrte mich. Dieses Jahr drehten die oben wieder einmal komplett am Rad, nur weil Wahlen bevorstanden, mussten wir wieder alle Kastanien gleichzeitig aus dem Feuer holen. Bekamen Einsätze ohne Ende auf gebrummt. Die Offiziere in der Führungsebene dachten nicht einmal darüber nach, dass auch wir schlafen und uns ab und zu einmal erholen mussten. Die hatten ihren Schlaf ja, dachten nie über ihre Schreibtischkante hinweg. Die wollten wie immer nur gut dastehen und brummten uns all das auf, was sie monatelang versäumt hatten. Wir aber kamen dadurch gar nicht mehr zur Ruhe und zum Luft holen.
Verdammt, warum gingen eigentlich immer nur mir solche Sachen durch den Kopf? Den anderen war das egal, nur mir nicht. Die schimpften genau wie ich, aber wenn es dann hart auf hart kam, kuschten sie und keiner sagte etwas. Immer
blieben die unangenehmen Sachen an mir hängen. Nur weil ich der Teamleiter war. Ich hatte auch nicht mehr zu sagen, wie die anderen, war nur für alle der Blitzableiter. Die Jungs konnten schon alle ins Bett, ließen mich die Berichte schreiben. Na gut, ich sollte gerecht bleiben, ich hatte sie selber in die Betten geschickt, aber was blieb mir auch anderes übrig, einer musste es ja machen.
Ich mochte die Jungs und wollte nicht, dass ihnen etwas geschah. Alle waren am Limit, ich musste dafür sorgen, dass es ihnen wieder besser ging, bevor erst ein Unglück geschah, weil sie übermüdet waren. Kurz entschlossen ging ich noch einmal vor in die Wache.
„Christoph, Einsatzstopp für alle drei Teams, für unsere gesamte Einheit. Egal, wer etwas will oder anruft, du verweist alle Einsätze zu anderen Abteilungen. Die Jungs sind platt, die müssen endlich wieder einmal richtig schlafen, sonst haben wir hier bald …“, ich winkte ab,
rieb mir müde den Nacken und fuhr mit den Händen durch mein kurzes Haar.
„Ach lassen wir das, alles Jammern hilft uns nicht weiter. Kein Einsatz in den nächsten zwei Tagen für alle Teams! Das ist ein Befehl und wenn der Polizeirat persönlich anruft. Dann soll er seinen Arsch hierher bewegen. Hast du das verstanden?“, damit überschritt ich zwar meine Kompetenzen, aber dieses eine Mal, war das mehr als notwendig. Das tat ich sehr selten, aber ab und zu musste ich das tun, um meine Jungs zu schützen.
„Geht klar Charly. Das habt ihr euch auch verdient. Sag mal, wann warst du das letzte Mal ein einem richtigen Bett“, fragend sah mich der Einsatz-Disponent an.
„Bett? Ist das was zum Essen?“, versuchte ich zu scherzen, was mir aber nicht richtig gelang. Ich war viel zu müde und so kaputt, dass ich selbst zum Scherzen keine Kraft mehr hatte. Christopher klopfte mir mitleidig auf die
Schulter.
„Okay, das klärt alles. Charly lege dich auch hin. Du siehst einfach nur Scheiße aus“, konnte er sich nicht verkneifen.
Er hatte ja recht, aber was sollte ich machen. Es war immer das Gleiche nach den Einsätzen. Wut stieg in mir hoch, wenn ich darüber nachdachte, obwohl es unangebracht und ungerecht war. Selbst meine Kollegen und Teammitglieder begriffen, dass es nicht mehr ging. Ich hörte noch Michas Kommentar im Einsatzbus, bei dem wieder einmal der Schalk, aus allen Winkeln seiner Augen kroch und die Fältchen noch tiefer um seine Augen lagen, breit grinsend sah er mich dabei an.
„Charly, du machst doch den Bericht, gelle? Die Tastatur kennt dich am besten und nimmt am schnellsten die Buchstaben an. Du weißt doch, ich mit meinem Zweifingerbuchstaben-fangsystem, mache wieder einmal nur Fingersalat. Ehe ich einen Buchstaben gefunden
habe, bist du schon fertig. Bööötttöööö“, dabei griente er mich an, wobei die Ohren Besuch bekamen.
Dafür liebte ich ihn ja, er konnte einfach immer lachen und schaffte es, selbst mich dazu zu bringen - auch wenn mir der Arsch voller Tränen stand. Klar stimmte das, ich schrieb mit zehn Fingern und noch dazu schnell. Deshalb blieben ja die Berichte immer an mir hängen. Micha, legte einfach seinen Arm um mich, zog mich zu sich heran. Der fast fünfzehn Jahre jüngere Kollege, war der Teamleiter meines Beta-Teams, er schaffte es stets mich zu beruhigen. Er tat mir einfach gut. Ich mochte ihn sehr, genoss es einfach, an seiner Schulter zu liegen. Er strömte die Ruhe aus, die ich gerade brauchte, um herunterzufahren. Hörte ihm einfach weiter zu, während mir diese Gedanken durch den Kopf schwirrten.
„Charly, bei dir geht das einfach schneller und unterschreiben musst du den Bericht sowieso,
außerdem bin ich todmüde, ich weiß, du auch“, gab mir einen Kuss auf die Stirn.
Da wir gerade in der Dienstelle ankamen, stand auf und weg war er. War sofort in der Dusche verschwunden. Klar machte ich den Bericht, den schrieb ich doch immer, also was sollte der blöde Spruch.Oh Manne, war ich gereizt, ich musste unbedingt ins Bett und schlafen. Normalerweise lachte ich über Michas Sprüche immer, aber diesmal ging es einfach nicht, alles in mir zitterte und vibrierte, so müde war ich.
Bedächtig bewegte ich den Kopf von rechts nach links, ließ die Nackenwirbel krachen, um die verspannten Muskeln etwas zu lockern. Vor allem, um diese verdammten Kopfschmerzen los zu werden und rieb ich mir mein müdes Gesicht.
Langsam lief ich nach hinten in unser Büro, nach dem Umweg der mich an der Kaffeemaschine vorbei führte - wo ich mir einen großen Pot Kaffee nahm. Schnell schrieb ich am Computer den Einsatzbericht. Meine Männer hatte ich,
nach dem Gespräch mit Micha, alle in die Betten gescheucht. Die meisten waren so müde, dass sie nicht einmal mehr duschten und sogar auf die Zigarette verzichteten. Sie fielen nur noch in voller Montur in die Kojen, etwas, was selten vorkam. Ein schlimmes Zeichen, das alle Alarmglocken in mir klingeln ließ. Ich wusste, der Einsatzstopp war notwendig, es war die richtige Entscheidung, auch wenn dies wieder eine Menge Ärger bedeutete.
Zügig schrieb ich den Bericht. Nicht das erste Mal dankte ich dem lieben Gott, für die Erfindung des Computers und da wir dadurch, um so vieles schneller solche Arbeiten erledigt bekamen. Die Vorgabematrizen ermöglichten ein schnelles Eintragen aller geforderten Statistikdaten, nur die besonderen Vorkommnisse und außergewöhnlichen Geschehnisse mussten noch per Hand eingeschrieben werden. Alles andere wurde mit Häkchen und durch Eintragen von Zahlen
automatisch protokolliert.
Wieder einmal regte ich mich innerlich darüber auf, wie man Menschen in Protokollen erniedrigt. Oft dachte ich, dass wir wirklich nur noch Statisten sind, die wie Marionetten an Bändern aus irgendwelchen Kisten geholt wurden und keinerlei Rechte mehr besaßen. Oft jedenfalls fühlte es sich so, beim Schreiben der Berichte an. Schnell trug ich alle wichtigen Daten ein, bei besonderen Vorkommnissen und außergewöhnlichen Geschehnissen, machte ich einen Strich.
Was ging die unser Leid an, die konnten alles essen, mussten aber nicht alles wissen. Keiner von denen oben brauchte wissen, dass zwei meiner Jungs sich wegen einer Kleinigkeit geprügelt hatten. Kein Wunder, bei allen lagen die Nerven blank, der nötige Schlaf und die Erholung fehlten. Das waren Sachen, die wir nur intern regeln konnten. Die beiden Streithammel hatten sich wieder beruhigt. Es nutzte den Jungs
nichts und trug auch nicht zum Frieden im Team bei, wenn ich das an die große Glocke hing. Es bedeutete nur Ärger und Stress, und davon hatten wir mehr als genug im Moment.
Nach kurzer Zeit war der Bericht fertig und ausgedruckt, wanderte, von mir unterschrieben, in die entsprechende Mappe.
Fertig!
Ich streckte mich kurz, stand auf, legte die Mappe in den Postausgang. Nochmals ließ ich die Wirbel knacken, überlegte kurz, ob ich noch duschen gehe. Eigentlich mache ich das immer, doch diesmal war ich einfach zu müde dazu.
Gerade als ich nach der Klinke der Tür griff, schellte das Telefon.
Nein bitte jetzt keinen Einsatz, ginge es mir sofort durch den Kopf. Ich lief zum Telefon, nahm den Hörer in die Hand.
„Major …“, weiter ließ mich mein Freund Jo, oder wie er eigentlich hieß – Hauptkommissar Jo Schmitz - nicht
reden.
„Charly kommst du bitte schnell mal hoch zu mir ins Büro, es ist dringend“, bat er mich in seinem immer freundlichen Ton. Wir kannten uns schon so lange, deshalb gab es bei uns beiden auch im Dienst immer nur, dass Du. Wir brauchten uns keinen Respekt zollen, um uns zu achten, dieser war auch, ohne dass Sie und die Rangbezeichnung da.
„Jo bitte, hat das nicht Zeit bis morgen. Ich kann vor Müdigkeit kaum noch aus den Augen gucken“, erklärte ich ihm, mit schleppender Stimme.
„Charly, es dauert nicht lange“, bestand er auf meine Anwesenheit in seinem Büro. Was blieb mir also anderes übrig. Schnell ging ich noch einmal zur Kaffeemaschine, holte mir einen weiteren Kaffee, um nach oben zum „Big-Boss“, zu marschieren.
Kaum dass ich die Bürotür geöffnet hatte, bekam dieser auch schon meinen Frust
ab.
„Jo sag mal, willst du mich mit aller Gewalt kaputt spielen, du weißt schon, dass ich seit vier Tagen kein Bett mehr gesehen habe. Ich will nur noch schlafen. Verdammt noch mal, du warst doch lange genug bei der Truppe“, fauchte ich ihn sofort an. Wenn Blicke töten könnten, wäre er auf der Stelle tot umgefallen.
„Ich weiß Charly, komm setze dich kurz, ich beeile mich“, versuchte er mich zu beruhigen. Tief holte ich Luft, um herunterzufahren, ganz gelang es mir allerdings nicht. Der Schlafentzug und diese verdammten Kopfschmerzen, ließen das einfach nicht mehr zu.
„Charly, ich brauche bis heute Mittag deine Zustimmung, ob du ab nächster Woche drei Neuzugänge aufnimmst, für jedes Team einen zusätzlichen Mann. Ich versuche dich seit drei Wochen zu erreichen. Tut mir wirklich leid, aber auch mir sitzen die Oberen im Nacken“, entschuldigt er sich. Einen kurzen Moment
schloss ich die Augen, um ruhig sprechen zu können.
„Drei Leute auf einmal? Jo, wie soll ich das denn machen? Du weißt, dass alle neuen Leute durch mein Team laufen, damit ich sie besser kennen und einschätzen lerne. Ich kann nicht drei Leute von meinem Team einfach austauschen, nicht diesen Monat. Du weißt doch selber, was los bei uns im Moment los ist“, wütend schleuderte ich ihm diese Worte entgegen.
Die Aufnahme neuer Teammitglieder war nicht so einfach. Oft war es so, dass die Neuen alleine durch die Tatsache, die Ausbildung für das Spezialeinsatzkommando (SEK) geschafft und beendet zu haben, erst einmal Höhenflüge bekamen. Das war nicht unbedingt böse von ihnen gemeint, aber auch bei uns war es so, wie in allen anderen Berufen auch – neue Besen kehrten gut. Das, was in der Theorie gut klang, ist aber in der Praxis oft nicht so anwendbar.
Von daher mussten die Neuen erst lernen, umzudenken, was sich oft nicht so einfach gestaltete. Vor allem herrschte unter den Kollegen ein blindes Vertrauen, das entwickelte sich aber erst im Laufe der Zeit. Auch waren öfters einmal ein paar Neue dabei, die dachten - was sie für ach so tolle Hechte wären. Erst nach einer Weile begriffen sie, dass wir hier auch nur mit Wasser kochten und dass es ein verdammt harter Job war, der oft sehr unter die Haut ging. Einer reichte da schon voll und ganz, um die komplette Einheit aufzumischen. Aber drei auf einmal, brachte Unruhe ohne Ende in die Truppe, das konnte ich mir im Moment wirklich nicht leisten. Die Stimmung war gespannt genug. Es ging nicht, in der momentanen Situation schon mal gar nicht, das wusste Jo genau. Er kannte meine Ansichten in diesen Punkt, denn es waren seine eigenen, die ich vor Jahren von ihm übernahm, als ich von ihm zum Teamleiter ernannt wurde. Dementsprechend böse fiel auch
meine Antwort aus.
„Jo, das kannst du voll vergessen. Einen ja! Drei nein! Von mir aus, jeden Monat einen, das ist mir egal. Aber drei auf einmal – nein, vergiss es!“, wütend stand ich auf, ging zum Fenster, einfach um mich zu bewegen, stützte mich mit den Händen auf die Fensterbank. Atmete tief ein und aus, um die Wut, die in mir hochstieg, unter Kontrolle zu bekommen. Etwas, was ich hasse, mir aber immer passiert, wenn ich völlig überreizt und übernächtigt war. Ich konnte das, ab einem bestimmten Müdigkeitsgrad, einfach nicht mehr kontrollieren.
„Charly komm, fahr runter. Du weißt doch selber, dass wir noch eine Einheit brauchen. Wir schaffen das nicht mehr lange ohne Zuwachs. Kannst du nicht jedem Team einen neuen Mann zuteilen. Dann …“, weiter ließ ich meinen Freund und Vorgesetzten nicht reden, unterbrach ihn einfach, obwohl das normalerweise nicht meine Art
war.
„Jo, verdammt noch mal, schalte dein Gehirn ein. Du warst lange genug Teamführer unten. Wie lief es bei dir, dann kannst du dir deine dämliche Frage doch selber beantworten. In der momentanen Stimmungslage dort unten wäre es Mord, dass weißt du selber“, wütend ging ich auf ihn zu, stand, die Fäuste geballt, direkt vor ihm und atmete ihm heftig ins Gesicht. Das war kein gutes Zeichen. Jo kannte mich schon über zwanzig Jahre, er wusste genau, dass er sich zurücknehmen musste, dass ich kurz vor dem Austicken war.
„Schon gut Charly, beruhige dich. Ich versuche eine andere Lösung zu finden. Komm, fahr runter, ich glaube du hast recht, du musst wirklich ins Bett. So schräg warst ja ewig nicht drauf“, redete er beruhigend auf mich ein.
Jo legte seine Hände auf meine Schultern und zog mich zu sich ran, um mir das Runterfahren zu
erleichtern.
„Komm, meine Kleine, beruhig dich, ich hab es kapiert. Sieh zu, dass du in die Koje kommst“, besänftigend lächelte er mir zu und drückte mich von sich weg, als er feststellte, dass meine Atmung wieder gleichmäßiger wurde.
Ich nickte mühsam, stützte meine Hände, aber kurz auf den Schreibtisch, schloss die Augen, da mir schwindlig war. Ich war so müde, dass mein Kreislauf schon nicht mehr mitspielte. Langsam wurde mir wieder besser.
„Tschuldigung Jo, ich muss unbedingt schlafen, ich kann einfach nicht mehr klar denken. Mir ist richtig schlecht, so müde bin ich. Komm, lass uns morgen reden“, drehte mich bei den Worten, noch einmal zu ihm um, versuchte zu lächeln. Ein Lächeln, das ziemlich schief ausfiel. Jo lächelte zurück und klopfte mir auf die Schulter.
„Schon gut Charly, ich sehe doch, wie beschissen es dir geht. Los hau ab, geh endlich schlafen, sonst fällst du hier noch um. Ich regle
das“, versprach er mir. Damit setzte er sich hinter seinen Schreibtisch, nickte mir noch mal zu. „Los ab mit dir ins Bett“, wiederholte er noch einmal, ich nahm meine Tasse, wollte gerade den Raum verlassen, als die Tür aufflog und Polizeirat Nerlich im Raum stand.
‚Oh nein …‘, schoss es mir durch den Kopf. ‚… den halte ich jetzt nicht auch noch aus, das ist heute nicht mein Tag‘, ich drehte mich zu Jo um und verdrehte die Augen, bis zum Anschlag und holte sehr tief Luft.
Nerlich dagegen pulverte sofort los, in einem Ton, der alle Messer in meiner Tasche aufklappen ließ.
„Könnt ihr mir mal verraten, was hier los ist? Jo, Charly was soll das?“, böse funkelte er uns an. „Wieso bekomme ich die Auskunft, wenn ich einen Einsatzbefehl an euch weiterleiten will, dass ihr Einsatzstopp habt und ich meinen Hintern hierher bewegen soll, wenn ich das nicht verstände. Ich dachte immer ich wäre derjenige,
der diesen Stoppbefehl ausspricht, oder habe ich etwa etwas verpasst, Charly, mit welchen recht gibst, du einen solchen Befehl? Seit wann hast du hier das Sagen“, brüllte Nerlich mich an.
„Seit wann ich das Sagen habe. Herr Polizeirat, das kann ich ihnen erklären. Seit dem Moment, an dem ich festgestellt habe, das meine Leute nicht mehr einsatzfähig sind“, sprach ich, mich zum leise sprechen zwingend. Der Blick, den Nerlich von mir bekam, sagte noch mehr als meine Worte, dieser war nämlich voller Wut. Jo legte mir die Hand auf die Schulter, damit ich mich beruhigen sollte. Er war in dem Moment aufgestanden, als der Polizeirat den Raum betrat, weil er Unglück förmlich ahnte, das sich hier heraufbeschwor. Er kannte mich zu gut.
Der Polizeirat und ich hatten nämlich ein arges Problem miteinander, wir konnten uns beide nicht riechen. Nerlich wehrte sich gleich nach seiner Versetzung in dieses Einheit mit Händen und Füßen gegen mich. Er wollte keine Frauen
unter seinem Kommando haben. Er gehört zu der Sorte Mann, bei denen sich die Frauen ausschließlich um Kinder und Küche zu kümmern hatten. Dies ließ er bei jedem Gespräch, was wir führten, durchblicken, vor allem ließ er es mich bei jeder noch so kleinen Gelegenheit spüren.
Es war jedoch so, Jo holte mich schon lange vor seinem hiesigen Dienstantritt, der erst vier Jahre zurückliegt, nach einem gemeinsamen Einsatz in Berlin, hier her. Weil er vor fast zwanzig Jahren einen guten „Mann“ brauchte. Bis zu dem Zeitpunkt, also sechzehn lange Jahre, hatte ich hier keinerlei Probleme, erst seit dem Nerlich hier das Kommando übernommen hatte, gab es die. Vorher zählte nur, dass ich etwas konnte, das Geschlecht spielte bis dahin keine Rolle. Ich glaube, die meisten Kollegen, die nicht direkt mit mir zu tun hatten, wussten nicht mal, dass ich eine Frau war. Alleine schon durch meinen Spitznamen Charly, war das vielen gar nicht
bewusst.
Nerlich war der Meinung, dass eine Frau nicht so belastbar war, wie ein Mann. Von daher nichts in diesem Beruf zu suchen hätte. So ein Depp, ich bin seit neun Jahren Teamleiter von drei Teams. Nie gab es irgendwelche Probleme, die fingen erst mit Nerlich an.
Dies war ein Reibepunkt zwischen uns, der immer offene Wunden bei mir hervorrief, weil man diesem verbohrten Bürokraten, einfach nichts recht machen konnte. Selbst die gute Bilanz, die wir seit fast zwanzig Jahren in der Einheit hatten, eine hundertprozentige Erfolgsquote, überzeugte ihn nicht. Es hatte keinen Zweck mit uns, wir konnten einfach nicht miteinander reden. In der gereizten Stimmung, in der ich sowieso schon war, schwante Jo Schlimmes.
„Charly fahr runter, bitte“, flüsterte Jo mir zu. Das sagte er so einfach, versuch mal ruhig zu bleiben, wenn du nicht mehr klar denken kannst.
Ich versuchte es ja, aber es ging nicht mehr. Nerlich hatte schon im ausgeschlafenen Zustand, auf meine Faust die gleiche Wirkung wie ein Feuermelder, wenn es brennt. Ich konnte diesen Menschen einfach nicht ab.
Ich schloss die Augen und sagte immer wieder zu mir, ‚Bleibe ruhig Charly, umso schneller bist du im Bett. Lass es, reg dich nicht auf! Jo regelt es auf seine Weise, das weißt du doch. Der macht das schon‘, mühsam zwang ich meine Wut zurück, versuchte mich zu beruhigen.
Nerlich, dieser arrogante Schreibtischathlet, wusste einfach nicht, wann Schluss war. Er wusste nicht, wann er sein gottverfluchtes Maul halten musste.
Er ließ wieder einmal großen Chef raushängen, wollte unbedingt zeigen, dass er am längeren Hebel saß, ohne darüber nachzudenken - dass wir auch Menschen waren, dass wir auch Gefühle hatten und vor allem nicht ohne Ende belastbar waren. Vor allem das man bestimmte
Grenzen nicht überschreiten sollte. Er begriff es einfach nicht.
„Charly, du gehst bitte ins Bett“, versuchte es Jo auf seine Weise, mich aus der Schusslinie zu bekommen. Nerlich ließ das nicht zu.
„Jo, sie bleibt hier. Ich will das sofort geklärt haben. Da siehst du es doch selber, das beweist doch nur wieder einmal, dass Frauen …“, genau das war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Genau die Stelle, genau die Wunde, die immer wehtat. Ich verlor meine komplette Selbstkontrolle, rastete vollends aus.
Zum Außenseiter
Ich überwand die zwei Schritte, die mich von Nerlich trennten innerhalb von einer Sekunde, zwang den um so vieles größeren und schweren jedoch aus dem Training gekommen Polizeirat, zum Rückwärtsgehen, in dem ich ihn an die Kehle griff, schob ihn so an die Wand. Ich war nur noch Wut pur, konnte einfach nicht mehr klar denken.
Ignorierte den Einwurf von Jo völlig, ich war unberechenbar wütend. Die gesamte Wut und die Schikane der letzten vier Jahre, kam zu der momentanen Müdigkeit, verwandelte sich in puren, kaum noch zu kontrollierbaren Hass - gegen Nerlich. Ganz leise, kaum hörbar, jedoch überdeutlich sprach ich zu diesem, mit jedem Wort lauter werdend.
„Genosse Polizeirat, ich bin so ein kleines dummes Frauchen, dass ich Sie ohne mit der Wimper zu zucken, jetzt hier auf der Stelle
umbringen könnte, weil ich nicht belastbar bin“, brüllte ich ihn an.
„Lass mich sofort los“, kam lautlos über seine Lippen, da er nicht sprechen konnte. Wie denn auch, wenn ich ihm den Kehlkopf zusammen drückte.
„Wenn Sie sich bewegen, sind Sie t wie tot“, machte ich ihn klar, dass er ruhig stehen bleiben sollte.
„Sie Herr Polizeirat, hören der dummen Frau jetzt ganz genau zu. Ich erkläre Ihnen jetzt einmal etwas, damit auch Sie, als Polizeirat, es begreifen können. Meine Kollegen da unten, haben seit einer Woche das erste Mal ein Bett unterm Arsch und kommen etwas zur Ruhe. Wir sind seit vier Wochen im Dauereinsatz und das erste Mal in einem richtigen Bett. Die restlichen Tage haben wir im Einsatzbus ab und zu mal zwei oder drei Stunden geschlafen. Keiner von den Männern da unten, ist im Moment noch einsatzfähig. Falls sie Sie Ihr Gehirn mal
zuschalten und nachdenken, dann können sie Sie sich ausrechnen, was beim nächsten Einsatz passiert. Dann haben wir nämlich unseren ersten Toten. Wer bitte kann besser beurteilen, als ich, ob jemand einsatzfähig ist oder nicht. Nerlich, ich bin jeden Tag bei den Männern, nicht Sie. Sie bewegen sich doch nur, wenn es sein muss und bewegen Ihren Arsch nur hier runter, wenn es brennt. Ihnen ist es doch, egal, ob wir drauf gehen. Nicht sie Sie müssen zu der Witwe, sondern ich. Nicht sie Sie bewegen Ihren Arsch aus dem Büro zu einer Beerdigung, sondern ich und stehen auf den Friedhof, um wieder einmal einen Kollegen zu begraben. Halten Sie ihre verdammte Schnauze, sonst bringe ich Sie jetzt gleich um, dann haben wir wenigstens ein gelöstes Problem“, schrie ich ihn lauthals an. Meine Blick sprach Bände, wütend sah ich ihn an, begriff in diesem Moment aber, dass ich zu weit gegangen bin war, viel zu weit.
Aber ich konnte einfach nicht mehr. Erschrocken
ließ ich den Kehlkopf von Nerlich los, drehte mich zum Schreibtisch, stützte mich auf ihn.
„Verdammte Scheiße …“, zu mehr war ich nicht mehr in der Lage, weil ich mich über mich selber ärgerte. Wie konnte ich nur so die Beherrschung verlieren? Nerlich hatte sich in der Zwischenzeit wieder erholt, donnerte jetzt auch noch los.
„Charly, du hast sie doch nicht mehr alle, deinen Dienstausweis, sofort“, forderte er mit Recht. Langsam drehte ich mich um, sah ihn schweigend an. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die vielleicht dreißig Sekunden dauerte, gab ich auf, realisierte den Befehl. Wortlos griff zu meinem Schulterriemen, nahm das Halfter - in dem sich noch meine Waffe befand -ab, griff in meinen Overall und zog den Dienstausweis heraus. Ohne auf Nerlich zu achten, drückte ich Jo beides in die Hand.
„Pass darauf auf, bis ich zurückkomme, sonst mache ich noch mehr Blödsinn“, war der letzte Satz, den ich zu meinen unmittelbaren
Vorgesetzten sagte. Schob Nerlich einfach zur Seite, verließ ohne ein weiteres Wort im Laufschritt den Raum.
Rannte die Treppe hinunter, denn ich musste hier raus. Raus aus der Dienststelle, bevor ich noch schlimmeren Bockmist machte. Ich musste einfach meine Wut ablaufen, musste frische Luft atmen, um wieder klar denken zu können.
Meine Kollegen, durch die nicht gerade leise Auseinandersetzungen in Jos Büro, munter geworden, standen unten an der Treppe und starrten mich entsetzt an. Da sie so etwas von mir noch nicht erlebt hatten. Alle kannten mich nur als ruhigen ausgeglichenen Teamleiter. Auch ich hatte Grenzen, die man nicht überschreiten durfte, das eben erlebte, war einfach zu viel. Als ich an Micha vorbei lief, rief er mir hinterher:
„Was ist denn los Charly, was brüllst du denn so rum, dass du alle munter machst?“, ich reagierte jedoch nicht auf ihn, rannte einfach an ihm vorbei, als er mich festhalten wollte, wich
ich ihm aus.
„Lasst mich einfach alle in Ruhe“, brüllte ich nun auch ihn noch an. Floh regelrecht aus dem Raum, stürmte auf die Tür zur Außentreppe zu, riss diese auf, lief hinaus. Micha folgte mir, fasste mir von hinten an den Arm.
Ich drehte mich aus seinem Griff, verpasste dadurch die erste Stufe, trat ins Leere. Im Fallen versuchte ich noch mich abzufangen, da diese Treppe nicht ungefährlich war. Sie führte steil nach unten, auf eine kleine Terrasse, unter der sich eine stark befahrene Straße befand. Die Terrasse, die fünf Meter über der Straße lag, war nur durch eine niedrige Mauer geschützt, die würde meinen Fall nicht bremsen, ging es mir noch durch den Kopf.
So versuchte ich mich mit der Hand am Handlauf abzubremsen, fasste aber daneben, erwischte diesen nur mit dem Fuß, ein Ruck, ein hässliches Knackgeräusch und ein stechender Schmerz, ein Schlag gegen den Kopf. Das war das Letzte, was
ich noch bewusst wahrnahm, danach war alles dunkel …
Der Unfall
… Zum Glück bekam unsere Kollegin das, was danach passierte, nicht mehr mit, den Kollegen stand heute noch die Panik, die Angst und der Schrecken ins Gesicht geschrieben, wenn sie ihr darüber erzählten.
„Was ist denn los Charly, was brüllst du denn so rum, dass du alle munter machst?“, erkundigte ich mich, bei meiner Freundin und unserem Teamleiterin. So etwas hatten wir noch nie erlebt. Wir hatten ja schon einigen Bockmist gebaut, aber noch nie war Charly so ausgerastet. Wir hörten sie noch nie auf diese Weise brüllen. Sie war voller Wut, so konnte ich sie nicht laufen lassen, sonst passierte womöglich noch ein Unglück, ging es mir durch den Kopf. Also drehte ich mich um, lief ihr hinterher. Erwischte sie gerade noch am Arm, bevor sie an der Treppe war.
‚Verdammt Charly, warum drehst du dich aus
meinem Griff?‘, ging es mir noch durch den Kopf.
Da sah ich sie schon fallen. Lief ihr hinterher, um sie vielleicht noch aufzufangen, aber sie hatte viel zu viel Schwung, alles ging so schnell, so unglaublich schnell. Ehe ich sie zu fassen bekam, war sie schon über die Mauer.
„Neiiiin …“, schrie ich noch, als ich über die Mauer blickte, sah ich wie Charly, wie eine Schlenkerpuppe von einem unter der Terrasse entlang fahrenden Lkw erfasst wurde, gegen die Wand und wieder gegen den Lkw schleuderte und dann auf der Straße liegen blieb.
„Oh mein Gott. Los holt Hilfe, sperrt die Straße … Los“, brüllte ich nach oben zu den Anderen, die wie erstarrt da standen. Rannte weiter die Treppe nach unten, um auf der Straße abzusperren, bis die Anderen nachkamen. Sofort kamen einige Kollegen hinter mir hergelaufen und übernahmen die Absperrung. Zeitgleich mit dem Lkw-Fahrer, kam ich bei Charly an. Der
wollte Charly bewegen, nachsehen, was passiert war.
„Liegen lassen, die Rettung ist alarmiert“, brüllte ich ihn an. Fassungslos sah der Fahrer die immer größer werdende Blutlache an. Schnell zog ich mein Overalloberteil aus, das T-Shirt über den Kopf, kniete mich neben Charly und presste es als eine Art Kompresse gegen die große Wunde am Kopf, aus der im Rhythmus es Herzschlages Blut spritzt, es hatte eine Arterie getroffen. Wenn ich diese nicht abdrücken würde, wäre sie in ein paar Minuten tot gewesen. Die Kollegen kümmerten sich um den völlig panischen Fahrer, der ständig stammelte.
„Ich weiß nicht, wo sie herkam, es knallte auf einmal, ich hab sie nicht gesehen …“, beruhigend sprachen die Kollegen auf ihn ein, erklärten ihm, dass ihn keine Schuld traf, dass alles ein schlimmer Unfall war, auf den er keinen Einfluss hatte.
Zum Glück war die Rettungsstelle nur zwei
Minuten von uns entfernt, sodass fast sofort Hilfe eintraf.
„Darf ich?“, forderte mich der Sanitäter auf.
„Eine Arterie hat es erwischt, ich habe versucht, sie abzudrücken“, erklärte ich ihm, rückte so gut es ging zur Seite, ohne den Druck von der Wunde zu lassen. Damit er an die Verletzte herankam. Er legte einfach über das T-Shirt eine Binde.
„Drücken“, kam eine kurze Ansage, während der Sanitäter konzentriert weiter arbeitete. Gekonnt fertigte er einen Druckverband an, endlich konnte ich loslassen. Ängstlich sah ich meine Freundin und Kollegin an.
„Weiß jemand die Blutgruppe?“, erkundigte er sich neben der Erstversorgung.
„A1 Rhesus positiv“, kam es von vier Leuten gleichzeitig. Klar wussten wir das, dies waren wichtige Informationen, jeder kannte von jedem die Blutgruppe, innerhalb eines Teams. Schon gab der zweite Sanitäter diese Information
weiter an die Notaufnahme. Schnell war er mit Charly fertig, Überwachung, Tropf, Notversorgung der Verletzungen. Der gerade eintreffende Notarzt tastete vorsichtig den Körper von ihr ab. Eine Trage wurde gebracht. Zu viert mit so wenig Bewegung wie möglich, hoben wir unsere Kollegin auf die Trage, nach dem der Arzt ihr noch eine Halskrause angelegt hatte. Schon war sie auf dem Weg zum Wagen und darin verstaut.
„Wohin bringt ihr sie?“, rief ich dem Fahrer noch hinter her. hinterher
„St. Marien-Hospital“, kam die knappe Antwort, des Notarztes. Fassungslos sahen wir dem mit Blaulicht und Martinshorn langsam davon fahrenden Rettungswagen nach. Ich ließ mich an der Wand herunterrutschen, fing einfach an zu heulen. Es ging einfach nicht anders, konnte nicht begreifen, dass Charly überhaupt noch lebte. Was sollte jetzt nur werden? So viele schlimme Einsätze hatte Charly überlebt
und jetzt das.
Jo kam jetzt erst angelaufen, der eben von den Kollegen in der Wache erfuhr, was passiert war. Erst durch das Martinshorn wurde er darauf aufmerksam, dass vor der Dienststelle ein schwerer Unfall geschehen war. Er diskutierte mit Nerlich sehr heftig, über das Verhalten von Charly, wies diesen darauf hin, dass er selber schuld war, an dem was passierte. Nahm seinen Teamleiter in Schutz und machte dem Polizeirat schwere Vorwürfe, wegen seiner Art der Menschenführung. Erklärte ihm, dass er sich das, was passiert war, selber zuzuschreiben hatte. Wenn er jemanden ständig ans Bein pinkelt, musste er einfach damit rechnen, dass er irgendwann einmal eine Gegenreaktion bekam. Dies wäre eben gerade geschehen.
Jo brauchte nicht zu fragen, was gesehen geschehen war. Die Gesichter seiner Kollegen sprachen Bände, sondern nur noch, wie es passiert war. Der Dienststellenleiter sah seine
Kollegen an, versuchte nun das Team zu beruhigen, lief die Treppe hinunter und sah mich heulend an der Wand sitzen. Er hielt mir die Hand hin, um mir aufzuhelfen.
„Komm, steh auf Micha, wir können hier nicht ewig absperren, die Kollegen von der Spurensicherung wollen ran. Komm mit“, er zog und schob mich einfach zur Treppe, es war alles wie in einem schlechten Film. Ich stand völlig neben mir. Jo schob mich dann die Treppe hoch ins Gebäude, hinein in unseren Aufenthaltsraum. Dort wollte er alles genau wissen, genau wie die Kollegen von der Verkehrspolizei. Schnell wurden alle Details aufgenommen.
Jo übernahm das Kommando, da ich zu nichts zu gebrauchen war, noch völlig unter Schock stand und schickte die völlig aufgelösten Männer schlafen. Zusammen mit Jo fuhr ich am nächsten Morgen, fast zehn Stunden nach Charlys Unfall, in die Klinik.
Schlimm hatte es Charly erwischt, als wir an
ihrem Krankenbett standen, schüttelten wir beide den Kopf. Hofften beide das Beste, auch wenn wir nicht richtig daran glauben konnten, dass sie das überleben würde. Sie war noch lange nicht über den Berg. Das Einzige, was wir von ihr sahen, waren Schläuche und Binden.
Sieben lange Wochen kämpften die Ärzte um Charlys Leben, nicht nur einmal hatte es den Anschein, dass sie es nicht schaffen würde. Immer wieder siegte ihr Kampfeswille und dieses gleichmäßige piep-piep-piep-piep setzte wieder ein.
*~*~*~*
Fast acht Monate später, es war der 24. Juni 2008 und ein Tag den ich so schnell nicht vergessen werde. Ich besuchte sie wie so oft in meinen Freiwochen, auf der Wachkomastation, in einer unserer besten Kliniken. Einfach, um ihr zu erzählen, was in der Zwischenzeit passiert war. Vor allem sollte sie spüren, dass wir auch jetzt für sie da waren. Dass sie immer noch zu
uns gehörte.
Stundenlang saß ich an ihrem Bett, erzählte ihr, was alles geschehen war auf der Arbeit, auch wenn es Blödsinn war, da sie mich ja doch nicht hörte. Auf einmal jedoch sah sie mich an, sie machte einfach ihre Augen auf, als wenn es das normalste der Welt wäre.
Keiner von uns hatte mehr damit gerechnet. Aber unsere kleine Majorin - die wir ständig vermissten, die sich nie an ihren neuen Rang, den des Polizeihauptkommissars gewöhnt hatte, sich stets mit ihrem Major vorstellte, die uns immer wieder überraschte, tat es auch diesmal - sie schaute mich einfach an und lächelte mit den Augen. So wie sie es immer tat. Ich saß an ihrem Bett und heulte, genauso wie an dem Tag ihres Unfalls. Sie würde es schaffen, jetzt war ich mir sicher.
„Mein Gott sie sieht mich an“, rief ich, nachdem ich mich wieder gefangen hatte, dem Pfleger zu, der unweit von mir an einem anderen Bett saß
und einem anderen Komapatienten eine Geschichte vorlas.
„Sie sieht mich an, Stepp, sie sieht mich an“, fassungslos sah ich hinüber zu dem anderen Bett, von dem Stephan aufstand und zu mir und Charly gelaufen kam.
„Ich sag dem Arzt Bescheid“, antwortete er nur kurz, tat so, als ob es das normalste der Welt wäre, aber man sah ihm an, dass er auch gegen seine Gefühle ankämpfte. Stepp kannte Charly genauso lange, wie ich, eine gefühlte Ewigkeit. Nach einer kurzen Untersuchung und noch einem Tag auf der Wachkomastation wurde sie verlegt, in eines der Intensivzimmer. Drei Wochen später auf die normale Station des Pflegeheimes, mit angeschlossener Reha-Klinik.
Auch wenn die Ärzte sagten, dass sie nie wieder würde arbeiten können - dazu waren die Verletzungen zu schwer - würde sie leben, nur das war es, was zählte.
Meine kleine Freundin würde weiter leben, den
Rest würden wir gemeinsam auch schaffen. Wir waren auch jetzt noch für sie da und werden es immer sein, nahmen wir uns vor. Dass es schwer werden würde, dass Charly uns nicht nur einmal zeigen musste, dass sie Mitleid hasste, begriffen wir erst nach und nach. Es lehrte uns eine andere Sichtweise von Dingen, die wir sonst so nicht wahrnahmen. Es änderte unsere Einstellung zu Behinderten vollkommen.
Ein neues anderes Leben?
Über drei Jahre war der Unfall nun schon her, es war immer noch das gleiche Gefühl da wie damals. Es beschäftigt mich immer noch die gleiche Frage wie damals.
Warum musste ich diesen ganzen Mist überleben?
Nicht weil ich nicht mehr leben mag, so ist war das nicht, nur weil ich halt oft an die Grenzen meines Freiraums stieß, den mir mein Rollstuhl ließ. Dann musste ich jedes Mal breit grinsen, weil immer wieder die gleiche Antwort in mir hochkam.
Weil das Leben schön ist, es ist anders, schwerer, aber schön.
Viel habe ich in den drei Jahren geschafft, von einer liegenden, nicht bewegungsfähigen Kranken rappelte ich mich auf, zu einer lebenslustigen und lachenden Genesenden, die zwar noch nicht wieder laufen konnte. Und ob ich das je wieder
lerne, wusste ich bis heute nicht. Das wird einfach die Zukunft bringen. Eins kristallisierte sich immer mehr heraus. Das Leben war verdammt schön, wenn man die Schönheiten sehen wollte.
‚Ist es wirklich schön?‘, frage ich mich jetzt einmal ganz bewusst. Manchmal ja, manchmal nein. Schön ist es, wenn man solche Dinge erlebte, wie ich damals Komma als ich aus dem Koma erwachte.
Ich öffnete die Augen, sah als Erstes meinen besten Freund und Kollegen Micha. Der in dem Moment, als ich ihn anblinzelte, weil mich das Licht blendete, anfing zu heulen wie ein Schlosshund. Ein Kerl, wie eine deutsche Eiche und heult los, weil ich ihn anblinzelte. Noch nie hatte ich ihn heulen sehen. Also versuchte ich zu lächeln, auch wenn es nicht ganz gelang. Ich war einfach zu müde und mir tat alles weh. Aber es tat gut ihn zu sehen, es machte mir Hoffnung.
Wochen später, als ich auf die normale Station
kam und meinen alten Freund Stephan wieder sah. Stepp, der so oft aufgab, dem ich damals, als er seine Beine verlor, so oft aufbauen musste, ihn in den Arsch treten musste. Der mir immer vorwarf, dass ich gar nicht wusste, wie schlimm es war. Er trat mir hier in der Klinik, in mein Hinterteil, einfach, damit er mir zeigen konnte, schaut her zu mir, dann wisst ihr, dass sich der Kampf lohnt.
Hatte er recht?
Ich wusste es manchmal nicht, aber jetzt langsam begriff ich, was er damals durchlebte, weil es das gleiche Gefühlskarussell war, was ich jetzt durchleben musste. Es war der gleiche Hass, den er damals spürte, auf mich und meine Kollegen, dass wir ihn hatten nicht sterben lassen. Der gleiche unbarmherzige Hass, der sich in meinem Herzen gegen alle sammelte, die gesund waren und alles machen konnten, was sie wollten und die mich unbewusst oft zum Außenseiter machten. Obwohl dieser Hass, wie
ich genau wusste, eigentlich gegen die Falschen gerichtet wurde, war es genau diese verdammte Wut, so hilflos zu sein, die einen Kranken, Verletzten schlimme Worte sagen ließen, gegen Freunde, die diese wieder falsch verstanden und einfach gingen und nie wieder kamen. Ich ging durch die gleiche Phase der Wut, wie damals Stepp, nur zog ich mich vollkommen zurück, ließ niemanden mehr an mich heran.
Später verstand ich Stepp und versuchte genau diese Fehler nicht zu wiederholen. Es war schwer, viel schwerer als ich erst dachte, seine Freunde nicht wütend anzuschreien. Es drückte mich immer mehr in die Position eines Außenseiters, da ich mit keinen Menschen mehr redete. Keinen mehr an mich heran ließ, da ich keine Hilfe wollte, aus Angst, meine Wut an den Falschen auszulassen. Ich konnte es aber nicht alleine schaffen, aus diesem Hamsterrad zu entfliehen. Dem Hamsterrad, in denen Außenseiter steckten, die es nicht schafften,
anzuhalten und auszusteigen. Es führte fast dazu, dass ich aufgab, es führte fast dazu, dass ich mein Leben weggeschmissen hätte.
Hilfe kam von einer Seite, von der ich sie am Wenigsten erwartet hätte. Von Stepp, dem Mann den ich damals fallen ließ, weil ich seine Wutausbrüche nicht mehr ertrug, weil ich nicht mehr mit ihm leiden konnte.
Mit einem Verletzten zu leiden, grenzte denjenigen noch mehr aus, als er es sowieso schon war. Besser war es zuzuhören und zu begreifen.
Genau in diesem Mitleiden lag damals bei Stepp, mein größter Fehler. Aber das begriff ich erst, als es fast zu spät war. Erst als Stepp mich an die Hand nahm, mit seiner unendlichen Geduld und mir zeigte, hier wäre ein Weg, den du gehen müsstest: wenn du wolltest, dass dein Leben wieder schön werden soll.
Stepp hatte seinen Weg gefunden, er half denen, den es genauso ging, wie ihm damals, die das
Gleiche durchmachen mussten, wie er damals.
Meine Sicht der Dinge
Werde ich auch meinen Weg finden? Oft war ich mir nicht sicher. Stepp war Krankenpfleger, als er zur Polizei ging, konnte auf diesen Beruf zurückgreifen, ich jedoch nicht. Ich hatte nichts anderes gelernt, das machte mich doppelt zum Außenseiter, verdammte mich dazu, nichts zu tun, in Rente zu gehen. Als Invalide mein Dasein zu fristen, ohne Ziel und ohne Hoffnung, jemals wieder nützlich sein zu können.
Warum ich mich als Außenseiter der Gesellschaft bezeichne, würdet ihr gern wissen?
Das hatte sehr viele Gründe, über die ich heute zum großen Teil lache. Einfach weil es eigene Barrieren waren, die ich mir selber auferlegte. Hoffnungslosigkeit, keine Aufgabe und kein Ziel mehr zu haben, für das es sich zu leben lohnte. Aber auch, weil mir viele Dinge, die gesunden Menschen selbstverständlich erscheinen, verwehrt blieben. Weil es einfach zu viele
Barrieren gab.
Das würde nicht stimmen, ich sehe es an euren Gesichtern an, dass ihr anderer Meinung seid.
Doch war es so. Oft dachte ich, sollten Architekten, Mitarbeiter der Städte und Gemeinten, vielleicht sogar jeder Bürger, jährlich einen Rollstuhltag einlegen, um begreifen zu lernen, wie wichtig es wäre, behindertengerecht zu bauen. Einfach, um Menschen im Rollstuhl mit anderen Augen zu betrachten. Nicht mehr als den Krüppel, Invaliden, körperbehinderten Außenseiter, sondern einfach als Mensch, der halt kleiner ist als der Durchschnitt.
Ein Mensch, der wie ihr ganz normal denken und fühlen kann. Der genauso wie ihr, gern lacht und Blödsinn macht. Der zwar nicht mehr laufen kann, warum auch immer, aber trotz alledem kein anderer Mensch ist.
Genau, wie ich, immer noch der gleiche Mensch war. Nur weil ich einmal in ihren Leben die
Beherrschung verlor und für den Rest ihres Lebens wahrscheinlich im Rollstuhl saß, wurde ich doch kein anderer Mensch.
Warum, das frage ich mich so oft, wurde ich seit diesem verhängnisvollen Tag aber so behandelt.
Als wäre ich aus Glas?
Kein anderer war schuld an meinem Schicksal, nur ich selber. Es konnte jeden treffen, auch euch, der innerhalb einer Sekunde eine falsche Entscheidung traf. Es half da kein Jammern und schon gar keine Schuldzuweisungen. Es war passiert und man musste versuchen das Beste draus zu machen. Doch gab es so viele unüberwindbare Barrieren, die kein gesunder Mensch sah. Die uns das Leben schwer machten. Doch noch schlimmer als diese Barrieren, war falsch verstandenes Mitleid. Davon hatte jeder der sichtbar behindert war, tausende von Säcken im Keller stehen, das brauchte keiner von uns. Was wir brauchen, ist Hilfe im richtigen Moment, ohne dieses Mitleid in den Augen,
einfach tun ohne große Worte. Ihr wisst wirklich nicht, was ich meine? Ganz einfach.
Es fing bei den einfachen Sachen an, bei dem man zu hören bekam:
„Lass mich das machen, das kannst du nicht“, wütend holte ich Luft. Es hätte auch einfach gereicht in den Hängeschrank zu greifen und die Tasse einfach ohne Kommentar oder mitleidige Wort, auf die Arbeitsplatte zu stellen.
Es gab so viele sichtbare Barrieren, fing an bei dem Bäcker um die Ecke, zu dem drei Stufen hineinführen, bei dem Café oder der Eisdiele, die man nur im Sommer besuchen konnte, bei schönem Wetter, weil man durch die Stufen sonst als Rollstuhlfahrer nicht hineinkam. Es ging weiter bei dem Jazzkeller, in dem immer diese wundervolle Musik spielte, dem Friseurladen oder den Klamottenladen, den du nicht betreten konntest, weil einfach eine Stufe zwischen dir und der Welt lag, in die du nicht eintreten konntest, deren Türen dir verschlossen
blieben.
Und es endete auch nicht bei der Sauna, die du nicht betreten kannst oder aber das Kino. Die Schwimmhalle oder den kleinen Bahnhof in deiner Nähe, da dort nur Stufen hoch führen.
Es sind die kleinen Dinge, des alltäglichen Lebens, die dir deine Grenzen setzen, die dich verzweifeln lassen und dich zum Außenseiter degradieren. Obwohl es eigentlich keiner will. Es sind die Barrieren, die keiner sieht, der niemals in einen Rollstuhl gesessen hat. Die man nur sieht, wenn man es sehen will oder notgedrungen, weil man davon betroffen war; die gut für Rollstuhlfahrer zugänglichen Kaufhallen, die so behindertengerecht gebaut wurden. In denen aber die Paletten mit Waren so gedankenlos abgestellt wurden, dass man mit einem Rollstuhl nicht vorbei kam. In diesen Märkten, in denen man so wunderbar einkaufen könnte, in den aber komischerweise immer gerade die Artikel, die du haben möchtest, stets
in der Höhe standen, an die du mit deinem Handicap nicht herankamst. Warum, so fragte ich mich oftmals, stellten die eigentlich immer meine Lieblingsschokolade genau auf das Regalbrett, in das ich ohne Hilfe nicht rein greifen konnte. Um meine Diät nicht zu gefährden?
Nein es war deshalb so, weil niemand, der auf seinen beiden gesunden Beinen stand, so weit dachte. Genauso, wie die Menschen, die gesunde Beine besaßen, sich vorstellen konnten, dass man in einer normalen Umkleidekabine in einem Kaufhaus mit einem Rollstuhl nicht hineinpasste, geschweige denn etwas anprobieren konnte. Es war einfach zu eng. Oder, die in einem Jazzkeller keine Möglichkeit einkalkulierten, dass auch ein Rollstuhlfahrer vielleicht dort gern mal sitzen und sich entspannen würde. Oder im Kino dafür sorgten, dass du als Rollstuhlfahrer nicht bei deinen Freunden sitzen konntest, sondern abseits im
Gang standst und alleine den Film sehen musstest.
Die in einer Sauna keine Möglichkeiten schufen, die es Rollstuhlfahrern ermöglichte, sich diesen Genuss zu gönnen. Es gäbe genug von uns, die es gern tun würden, wenn sie es denn könnten.
Das alles machte uns trotz des Lebenswillens, den wir hatten und immer noch haben, das Leben schwer, nährte solche Gedanken, wie … warum habe ich diesen Scheiß überlebt … obwohl wir eigentlich froh waren am Leben zu sein.
Obwohl das Leben schön war und immer sein wird. Sind und bleiben wir Außenseiter, die mitleidige Blicke ernten oder über die man einfach hinwegsieht, aus Angst davor sie zu verletzen.