Und wenn der Abend kommt
Mit einem Schlag ist sie wieder da, die Erinnerung.....
Die Erinnerung an dich.
Wie durch ein Fenster, dessen blinde Scheiben nach langer Zeit von Schmutz und Spinnenweben befreit werden, sehe ich ohne Vorwarnung auf ein Stück meiner Vergangenheit.
UNSERE Vergangenheit.
Sie breitet sich vor mir aus, wie ein
wertvoller Teppich, der zusammengerollt über Jahrzehnte unter altem Gerümpel und überflüssigem Flohmarkttand auf dem
Dachboden vor sich hingemodert hat.
Überrascht und ergriffen von meinen Gefühlen, setze ich die Kaffeetasse ab und schließe die Augen. Ich höre Jacques Brels eindringliche Stimme und ich sehe uns beide. Ich war siebzehn, du zwanzig Jahre alt, als wir uns in deinem mausgrauen VW Käfer auf den Weg nach Paris machten.
Paris, die Stadt unserer Träume.
Aus dem Kassettenrecorder auf dem Rücksitz klang unser Lied. Immer wieder drückten wir den Wiederholungsknopf.
"Moi je t'offrirai des perles de pluie, venues de pays où il ne pleut pas. Ich werde dir Regentropfen anbieten, die aus Ländern kommen, in denen es nicht regnet".
Du teiltest meine Liebe zur Literatur und zum französischen Chanson. Und du liebtest mich, leidenschaftlich und bedingungslos. Meine Behinderung spielte dabei keine Rolle.
„Du bist einzigartig“, sagtest du und dein Begehren unterstrich die Wahrhaftigkeit deiner Worte. Wir verlebten drei wunderbare Tage in der Stadt der Liebe.
„Ich würde dir so gerne Anderes bieten“, hast du mir ins Ohr geflüstert, wenn wir uns abends im Schlafsack aneinanderschmiegten.
„Was willst du, ich bin reich“, sagte ich. „denn ich habe dich und ich brauche nur dich. Nur dich ganz alleine.“
Und deine Zärtlichkeit ließ mich alles um uns herum vergessen. Die Lichter auf dem Campingplatz hielten uns die ganze Nacht
wach. Du übersetztest Jacques Brels Worte in unsere Sprache:
„Je ferai un domaine, où l'amour sera roi, où l'amour sera loi, où tu seras reine. Ich werde dir ein Reich erschaffen, wo die Liebe regieren wird, wo Liebe das Gesetz sein wird, wo du die Königin sein wirst."
Wir fuhren zurück und je näher wir unserem Heimatort kamen, desto mehr spürte ich deine Unruhe. Während du mit der linken Hand das Steuer hieltest, suchte deine rechte immer wieder nach meiner Hand, hast sie gestreichelt und festgehalten. So fest, dass es mir fast weh tat. In deine Liebesschwüre mischte sich ein seltsamer Unterton, den ich zwar bemerkte, aber nicht einordnen konnte.
Die milde, würzige Luft, die uns in Paris umgeben und uns inspiriert hatte, verflüchtigte sich bei unserem Abschied vor meinem Elternhaus.
„Bis bald. Ich liebe dich, vergiss das nie“, sagtest du eindringlich und nahmst mich ein letztes Mal in deine Arme. Und während ich dir nachsah, fuhr ein rauer Wind durch meine Haare und zerzauste sie.
„Et quand vient le soir, pour qu'un ciel flamboie, le rouge et le noir, ne s'épousent-ils pas. Und wenn der Abend kommt, wenn der Himmel auflodert rot und schwarz, dann vermischen sich die Farben nicht“
Ich wartete ein paar Tage, daraus wurden Wochen. Aber du kamst nicht zurück. Du
kamst nie wieder. Ich verstand die Welt nicht mehr, konnte mir nicht erklären, was diesen Wandel bei dir bewirkt haben sollte. Bis mir mein Vater eines Tages die Augen öffnete. Er sagte mir, dass er während unserer Parisreise Besuch von deinem Vater hatte.
„Deine Tochter nimmt mir meinen Sohn weg“, hatte der gesagt. „Meinen Hoferben, der das, was ich aufgebaut habe, einmal weiterführen muss.“ Schonungslos hatte er davon gesprochen, dass du dafür eine starke und gesunde Frau brauchen würdest. Eine, die dich bei der Arbeit auf dem großen Gutshof unterstützen könne. Ich wäre nur eine Last, die dich daran hindern würde, das Lebenswerk deines Vaters weiterzuführen.
„Sobald der Junge zurück ist, werde ich ihn
vor die Entscheidung stellen: Deine Tochter oder der Hof. Beides geht nicht“
Mit diesen Worten ließ er ohne Gruß meinen verdutzten Vater zurück, der in vielen schlaflosen Nächten überlegte, wie er mir dies nahebringen könnte, ohne mich in meinem Selbstbewusstsein zu verletzen. Und er fand die richtigen Worte:
„Sei ihm nicht böse, er ist zu schwach, er konnte dem Druck seines Vaters nicht standhalten. Du aber bist stark, mein Mädchen. Du wirst das irgendwann überwunden haben und dann wirst du die glücklichste Frau auf Erden sein".
Ich verwahrte die Worte meines Vaters in meinem Herzen, aber Jacques Brels Lieder waren für eine Zeitlang verstummt.
Ich ging fort und bedeckte die Vergangenheit mit einer Fülle an neuen Erfahrungen und Visionen. Als ich wiederkam war ich gesund. Nein, nicht was du meinst. Ich hatte noch immer einen behinderten Körper. Aber ich war gestärkt in ganz anderer Hinsicht. Meine Seele war gesundet und ich war voller Energie und Tatendrang.
Sag, kannst du dich noch an den Typen mit der Jimi-Hendrix Frisur erinnern? Ja, der so stolz auf seine ausgewaschene Levisjeans war und der mit seinen karierten Holzfällerhemden, seinem Peace-Anhänger und seinen unkonventionellen Ansichten unseren Jugendgruppenleiter regelmäßig zum Kochen brachte. In den habe ich mich verliebt
und den habe ich geheiratet. Wir haben uns ein Haus gebaut, ganz in deiner Nähe.
Ich habe ihm von dir erzählt und wir haben mit dir gelitten, als dein Sohn durch eine Überdosis Heroin verstarb. Und als einige Jahre später bekannt wurde, dass deine Frau an Brustkrebs erkrankt ist, haben wir mit dir gefiebert: Lass sie wieder gesund werden. Es hat uns so leid getan, als wir hörten, dass sie den Kampf verloren hat. Und als du dann den Hof aufgeben musstest, hat mein Mann zu mir gesagt: „Dein Freund (er hat immer dein Freund gesagt) hat so ein schweres Schicksal. Lade ihn doch einmal ein und sprecht euch aus. Vielleicht würde ihm das guttun“.
Ja, das wollte ich irgendwann einmal tun. Ich
wollte dir sagen, dass ich dir verziehen habe. Das ich unser kleines Glück nie vergessen, aber später mein großes Glück gefunden habe.
Seit ein paar Minuten weiß ich, dass es zu spät ist. Dein Name springt mich aus der Zeitung an. Auf der Seite der Todesanzeigen.
Und ich wollte dich doch noch einmal an unser Chanson erinnern:
"Ne me quitte pas! Verlass mich nicht!