Beschreibung
Manche Leute haben eine besondere Begabung, doch nicht immer glaubt man diesen Menschen.
Bundeswehr
1989. Nach einem Abitur, das ich mit 1,5 ablegte musste ich zur Bundeswehr. Ich verpflichtete mich für zwei Jahre. Stationiert wurde ich in Munster in der Lüneburger Heide. Es war der 20. Dezember. Meine Einheit erhielt den routinemäßigen Auftrag das Munitionslager in Trauen zu bewachen. Ein ungutes Gefühl überkam mich. Wir hatten kaum das Lager erreicht, als ich wieder einen Gedankenblitz hatte. Ich wusste, was geschehen würde. Ein Überfall! Etliche Kameraden würden sterben. Das musste ich verhindern. Ich informierte Feldwebel Meier, meinem Vorgesetzten. Er hatte nur ein müdes Lächeln für mich übrig und glaubte mir nicht. Aber das kannte ich ja. „Machen Sie sich keine Sorgen, Mühlfeld, für die Überwachung sind wir ja da. Das werden wir schon verhindern!“ Auch meine Kameraden wollten mir nicht glauben, sie lachten mich aus.
Es kam wie es kommen musste. Bei dem Überfall wurden elf Soldaten getötet, darunter der Feldwebel. Die Täter erbeuteten Munition in großen Mengen. In der Presse wurde über den Vorfall im großen Stil berichtet, aber niemand ging auf meine Vorhersage ein.
Ich quittierte den Dienst bei der Bundeswehr, was unter den gegebenen Umstände problemlos war.
Neapel
1999. Nach einem erfolgreichem Geschichts-Studium lernte ich Georgina kennen, eine feurige Italienerin aus Neapel. Sie bezauberte mich nicht nur durch ihre Kochkünste. Wir heirateten und bekamen vier Kinder. Die Gedankenblitze wurden weniger und blieben schließlich ganz aus.
20. Mai 2013. Mein dreiundvierzigster Geburtstag. Georgina hatte sich eine besondere Überraschung für mich ausgedacht. Wir zwei wollten nach Neapel fliegen, ihrer Heimatstadt, jedoch ohne unsere Kinder.
Schon beim Einchecken war er nach langer Zeit wieder da – der Gedankenblitz. Ich fühlte den Tod, wieder einmal. Aber es waren nicht Hunderte, nicht Tausende, Über eine Million Menschen würden sterben. Der Vesuv würde ausbrechen und die Stadt Neapel zerstören – durch Lava und pyroklastische Ströme. Pompeji war nichts dagegen. Nur neun Kilometer trennten die Stadt von dem Vulkan. Ich wusste, dass das geschehen würde, schon sehr bald. Georgina kannte meine Begabung und glaubte mir – ganz im Gegensatz zu allen anderen.
Wir stiegen nicht in das Flugzeug. Zwei Tage später brach der Vesuv aus – nach über zweitausend Jahren war es der größte Ausbruch. Neapel gab es nicht mehr.
Niemand hatte mir geglaubt.
Oma
Es begann vor etwa vierzig Jahren im Jahre 1973. Ich war ein Kleinkind, etwa drei Jahre alt. Mein Sprachvermögen war seinerzeit noch unterentwickelt, ich konnte kaum zehn Worte sprechen. Daher freuten sich meine Eltern über alles, was ich herausbrachte. An jenem Tag waren wir gerade mit dem Frühstück fertig, als ich laut und deutlich: „Oma tot“ sagte. Meine Mutter wurde zunächst bleich, dann lächelte sie und erwiderte freundlich: „Nein, mein Kleiner. Deine Oma ist nicht tot. Die ist gesund und munter. Wir rufen sie nachher gleich an.“ Meine Großmutter wohnte zwar in der gleichen Stadt, aber am anderen Ende. Daher war ein Telefonat eine gute Lösung.
Nachdem Mutti den Tisch abgeräumt hatte, griff sie zum Telefonhörer und wählte. Wie immer, wollte ich das tun. Es gab jedoch damals noch keine Tasten, sondern nur eine Wählscheibe. Das war für so ein kleines Kind eindeutig zu schwierig. Das Freizeichen ertönte. Viermal, fünfmal, sechsmal. Meine Mutter schüttelte den Kopf und murmelte: „Das ist ja seltsam. Warum geht sie dann nicht ran? Sie müsste doch schon längst aufgestanden sein.“ Sie legte auf und sprach zu mir: „Du, Tim, ich kann die Oma gerade nicht erreichen. Sei schön lieb und geh spielen. Wir versuchen es nachher noch einmal.“
Ich ging zu meiner Spielecke und brabbelte pausenlos: „Oma tot, Oma tot“. Mutti wurde allmählich ärgerlich, das spürte ich. Der Ärger wandelte sich in Sorge, als auch der fünfte Anrufversuch erfolglos war. Kurz entschlossen fuhren wir mit der Straßenbahn nach Bothfeld ans nördliche Ende Hannovers. Das „Oma tot, Oma tot“ – Plappern von mir nahm kein Ende, die anderen Fahrgäste sahen uns an. Wir näherten uns dem Ziel, der Endstation „Fasanenkrug“. Meine Oma wohnte in einem kleinen Häuschen, das nur wenige Schritte davon entfernt waren.
Dort angekommen klingelte Mutti Sturm. Niemand öffnete. Unruhig holte meiner Mutter ihren Schlüssel von Omas Haus aus ihrer Manteltasche und schloss auf. Sie rief nach Oma. Niemand antwortete. „Du bleibst hier im Flur, Tim!“, sagte Mutti zu mir. Ich gehorchte. Sie ging ins Schlafzimmer von Oma und schrie auf. Großmutter lag mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund in ihrem Bett. Sie schlief nicht. Oma war wirklich gestorben.
Der Zug
Fünf Tage später war die Beerdigung. Pausenlos sagte ich nur zwei Worte, auch als der Pfarrer sprach: „Oma tot, Oma tot“. Auch als danach Kaffee und Kuchen serviert wurden, endete es nicht. Schweren Herzens und stockend erzählte Mutti die Geschichte. Alle schüttelten ungläubig den Kopf, nur Großtante Hedwig nicht. Sie war Omas Schwester. „Das ist genau wie bei Margot. Erinnert Euch daran, dass sie damals im Juli 42 vorhergesagt hat, dass ihr Mann tot sei. Vier Tage später kam die Feldpost mit der Todesnachricht. Margot hatte das zweite Gesicht. Tim hat das von ihr geerbt.“ Allgemeines Kopfschütteln, manche kicherten. Hedwig galt als wunderlich.
1976, drei Jahre später. Meine Eltern hatten eine Urlaubsreise nach Kärnten in Österreich gebucht. Wir wollten mit dem Alpenexpress an unser Ziel fahren. Als meine Eltern und ich in Hannover am Bahnsteig standen und ich den Zug erblickte, schüttelte ich den Kopf und rief laut – so dass alle Umstehenden es hören konnten - : „Nein, Tim will nicht in den Zug. Tim hat Angst!“ Alle starrten uns an. Mein Vater streichelte meinen Kopf und sprach beruhigend: „Aber, Timmi! Was hast du dann? Du fährst doch gerne mit der Eisenbahn und das wird eine ganz tolle Fahrt. Da sind die hohen Berge und die Tunnels von denen wir dir erzählt haben und ....“ Ich unterbrach meinen Vater und sagte erneut: „Nein, Tim will nicht in den Zug. Tim hat Angst!“ Er griff mich am Arm und wurde böse: „Verdammt noch mal, Bengel! Du steigst jetzt sofort mit uns ein oder es setzt was!“ Ich begann zu weinen und erhielt von Vati eine Ohrfeige. Meine Mutter räusperte sich und nahm meinen Vater beiseite. Leise sagte sie zu ihm: „Du Günther, ich glaube, ich weiß, was der Junge hat. Erinnere dich daran, was Tante Hedwig auf der Beerdigung erzählt hat.“
„Das ist doch Humbug, Beate. Kein vernünftiger Mensch glaubt solchen Quatsch. Zweites Gesicht! So ein Blödsinn. Als gläubige Christin solltest auch du das ablehnen. Außerdem hat Tim nichts Konkretes gesagt.“ Meine Mutter ging zu mir und flüsterte mir ins Ohr: „Tim, warum hast du Angst? Was wird passieren?“ Noch immer weinend antwortete ich schluchzend: „Tot. Alle tot. Tim will nicht in den Zug.“ Mutti lief bleich an.
Endlose Diskussionen meiner Eltern. Wir standen noch immer am Bahnsteig. In zwei Minuten sollte der Zug abfahren. Ich weinte noch immer Rotz und Wasser. Mit einer Mischung aus Verwunderung und Ablehnung beobachteten uns die Leute. Schließlich fiel die Entscheidung. Wir stiegen nicht ein. Das war unser Glück. Der Zug verunglückte zehn Kilometer vor Rosenheim. Es gab Dutzende Tote. Der Wagon, in dem wir hätten sitzen sollen, wurde total zerstört. Dort gab es keine Überlebenden.
Challenger
1986. Ich war sechzehn Jahre alt. Im Laufe der Jahre hatte ich immer wieder schlimme Ereignisse vorausgesagt, aber keiner hatte mir geglaubt, außer meiner Mutter. Großtante Hedwig war längst gestorben. An jenem Tag, dem 28. Januar saßen wir vorm Fernseher. Es wurde der Start der US-Raumfähre „Challenger“ übertragen. Mutti hatte gerade Chips und Cola hingestellt als ich ausrief: „Das wird gleich alles explodieren!“. Es folgte der entsetzte Blick meiner Mutter, den ich schon kannte. „Bist du dir sicher, mein Junge?“
„Ja, du kennst mich doch. Ich habe wieder diese Gedankenblitze.“ Gedankenblitze – so nannte ich das mittlerweile. Manchmal traten diese kurz vor dem Ereignis auf, manchmal Stunden zuvor. Das wusste ich nie genau. Niemals war es mir in all den Jahren gelungen die schlimmen Vorfälle zu verhindern – leider.
Die Fähre startete. Dreiundsiebzig Sekunden später explodierte sie in fünfzehn Kilometer Höhe in einem riesigen Feuerball. Alle sieben Astronauten starben. Wir weinten. Es war wieder passiert.