Laetitias Bruder ist ermordet worden ... den Fall untersucht ausgerechnet ihre Jugendliebe, die sie seit 29 Jahre nicht mehr gesehen hat ...
Reinheitsgebot
'Alexander!' durchzuckte es Letitia als sie den Fahrstuhl verließ und ihr Blick auf die große Gestalt fiel, die soeben mit offener Jacke und wehendem, gestreiftem Wollschal durch die gläserne Drehtür kam.
Alexander Sendlinger.
Sein Anblick durchzuckte sie wie ein Stromschlag und ließ sie sogar augenblicklich den kaum fünfzehn Minuten zurückliegenden Streit mit dem Leiter der Werbeabteilung, in der sie arbeitete, vergessen.
Es war bestimmt dreiundzwanzig Jahre her, daß sie Alexander das letzte Mal gesehen hatte, als er mitten im Jahr die Schule wechselte, plötzlich von einer Woche zur nächsten, ohne es auch nur irgend jemandem zu sagen, aus der Klasse verschwand.
Dennoch hatte sie jetzt nicht den geringsten Zweifel, daß er es war, sie erkannte seine große, schlanke Gestalt, seine dunklen Locken sofort.
'Was will er hier?' fragte sie sich nun, nach langen Sekunden der völligen Überraschung.
Wenn sie den Zeitungsartikel, den sie Anfang des Jahres gelesen hatte, und in dem sein Name erwähnt wurde, richtig im Kopf hatte, arbeitete er bei der Mordkommission.
War jemandem etwas passiert?
Alexander hatte sie noch nicht gesehen.
Er hatte sich nach rechts gewandt, zu dem kleinen Empfangstresen, hinter dem jetzt, um zwanzig nach sechs, der Portier der Spätschicht seinen Dienst übernommen hatte, zeigte ihm eine Art Ausweis, so wie man das im Fernsehen immer sah.
Letitia verhielt absichtlich ihren Schritt und beobachtete, wie der Mann daraufhin eine rasche Kopfbewegung in ihre Richtung machte.
Alexanders Blick folgte der Bewegung, seine Augen richteten sich auf sie.
Dann wandte er sich vom Tresen ab, zum Fahrstuhl, und steckte dabei seinen Ausweis in die linke Innentasche seiner Jacke.
Letitia schluckte.
Sie spürte, wie ihr Herz schnell zu schlagen begann, und gleichzeitig mit einer unbestimmten Angst machte sich ein anderes unangenehmes Gefühl in ihrem Inneren breit, sie wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte.
Nur für den Sekundenbruchteil war ein Bild der Szene damals auf dem Schulhof an ihrem geistigen Auge vorbeigezuckt, und verunsicherte sie schrecklich mit dem schlechten Gewissen, das sie seit dreiundzwanzig Jahren mit sich herumtrug.
Hilflos umklammerte sie mit der kalten Rechten den Riemen ihrer Umhängetasche etwas fester während sie ihre Linke, die sich ebenso eisig anfühlte, in ihre Manteltasche schob, nur um sie gleich wieder hinauszuziehen, weil es unhöflich war, jemanden zu begrüßen und dabei die Hand in der Tasche zu haben.
Alexander war in der Zwischenzeit bei ihr angelangt.
Letitia bemerkte, daß sie einfach stehengeblieben war, etwa einen Meter vom Fahrstuhl entfernt, und jetzt verhielt auch Alexander seine Schritte.
Ihrer beider Augen hatten sich schon Sekunden vorher getroffen und Letitia war sein erster Blick nach so vielen Jahren durch und durch gegangen.
Keine Miene verzog sein Gesicht, dennoch zuckte die Szene auf dem Schulhof wieder an ihrem geistigen Auge vorbei, verstärkte ihre Unsicherheit, ihr Schuldgefühl bloß noch mehr.
"Letitia. Servus." sagte Alexander Sendlinger jetzt.
Seine Stimme war ruhig, klang ihr noch immer angenehm in den Ohren und vor allen Dingen nach der langen Zeit noch so vertraut, daß sie einen kleinen Schauer über ihre Unterarme rieseln spürte.
"Hallo Alexander." erwiderte sie, sah ihn an.
Sie hatte ihre Stimme nicht ganz in der Gewalt, sein Erscheinen hatte sie ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht, warum auch immer es geschah.
Ihre Angst verstärkte sich als Alexanders Gesicht völlig ernst blieb, er selbst nach den vielen Jahren kein Begrüßungslächeln für sie hatte.
Mit einem Mal wußte sie, daß er ihr eine schlechte Nachricht überbringen würde.
Nur so eben spürte sie, wie ihre Finger leicht zu zittern begannen.
War ihrem Vater irgend etwas passiert?
Oder Mario, ihrem Bruder?
Sie konnte ihren heftigen, aufgeregten Herzschlag bis hoch hinauf in ihrem Hals spüren.
Alexander hatte seinen Ausweis wieder aus der Innentasche seiner Jacke genommen und hielt ihn ihr jetzt entgegen.
"Letitia, ich arbeite bei der Mordkommission." meinte er dabei während sie bloß das kleine grüne, eingeschweißte Schriftstück vor sich sah, mit einem kleinen schwarz-weiß Foto von ihm.
'Ich weiß.' wäre ihr beinahe herausgerutscht.
Sie ließ ihre Augen von dem Polizeiausweis wieder zu seinem Gesicht wandern, auf dem noch immer keine Emotion zu erkennen war.
Alexander steckte den Ausweis wieder ein.
"Wir haben vor gut zwei Stunden deinen Bruder tot aufgefunden."
Ganz plötzlich war sein Gesichtsausdruck wachsam, der Blick seiner grünen Augen ruhte prüfend auf ihr.
Nur so eben meinte sie, seine Hand an ihrem Ellbogen zu spüren.
Was hatte er gesagt?
Mario?
Tot?
Sie hatten vor ungefähr fünf Stunden noch zusammen bei ihrem Lieblingsitaliener gesessen und eine angenehme Mittagspause verbracht.
Das Bild zog langsam an ihr vorbei, Mario in einem seiner heißgeliebten schwarzen Armani-Anzüge, er aß bei LUIGI immer Salbei-Schnitzel.
Sie mußte schlucken, ein zweites Mal, mußte sich zusammenreißen um in die Wirklichkeit zurückzukehren weil sie glaubte, ihren Namen gehört zu haben.
Alexander vor ihr sah sie noch immer wachsam an, sie spürte seine Hand an ihrem Arm.
Ihr Herzschlag hatte sich beruhigt, nur ihr Hals schien mit einem Mal wie zugeschnürt.
Sie fühlte sich, als hätte man ihr mit einem Ruck den Boden unter den Füßen weggezogen.
"Was ist passiert?"
Sie sah zu Alexander hoch, sie hatte schon immer zu ihm aufschauen müssen.
Ihre Stimme klang im ersten Moment fremd in ihren Ohren, das Sprechen tat weh in ihrem Hals.
Wenn Alexander es sagte, mußte es stimmen, auch wenn ihr Gehirn sich weigerte, die Nachricht anzunehmen.
Vorhin war doch noch alles in Ordnung gewesen.
"Das wissen wir noch nicht." antwortete ihr Alexander.
Letitia entging es nicht, daß seine Stimme jetzt eine Spur sanfter klang.
"Wir hoffen, daß Du uns weiterhelfen kannst. Wann habt ihr euch das letzte Mal gesehen?"
"Wir haben zusammen Mittag gegessen." erwiderte Letitia, war sich bewußt, daß sie noch immer zu ihm aufsah, so als fände sie bei ihm eine Erklärung für das, was ihrem Bruder geschehen war.
"Und dann? Hat er Dir gesagt, was er heute nachmittag vorhat?" fragte Alexander weiter.
Letitia versuchte nachzudenken, versuchte, sich jeden einzelnen Satz des Gespräches mit ihrem Bruder ins Gedächnis zurückzurufen.
Sie hatten sich nur über Belanglosigkeiten unterhalten, nichts von dem schien wichtig zu sein, einen Hinweis zu geben.
Ihr Vater fiel ihr ein.
Er wußte noch nicht, was geschehen war, er befand sich zur Kur in Bad Aiblingen.
"Ich muß meinen Vater anrufen. Er ist zur Kur." meinte sie statt dessen abgelenkt zu Alexander, wand ihren Arm aus seinem Griff um nach ihrem Handy zu suchen.
"Des wird schon erledigt." sagte Alexander sachlich zu ihr.
Letitia sah ihn nicht begreifend an.
"Eure Haushälterin hat ihn verständigt." erklärte Alexander ihr und weil sie immer noch nicht verstand fügte er hinzu: "Kollegen haben in eurem Haus sein Zimmer durchsucht, um Hinweise zu finden. eure Haushälterin wollte deinen Vater benachrichtigen."
Letitia nickte verstehend, doch innerlich verwirrt.
"Und wo habt ihr ihn gefunden?"
Es war ein Gefühl, als könne ihr Gehirn das Unbegreifliche besser verstehen je mehr Informationen es bekam.
"In der Tiefgarage des Hauses, in dem er sein Appartement hat." antwortete Alexander ihr ruhig "Einer der Mieter hat ihn gefunden und uns benachrichtigt."
Sein Blick ruhte noch immer auf ihr.
Letitia nickte.
Sie fühlte sich betäubt.
"Letti?" sprach Alexander sie jetzt sanft an.
Letitia suchte seinen Blick.
Es war bestimmt auch diese dreiundzwanzig Jahre her daß sie ihren Namen auf diese Weise gehört hatte.
Das verwirrte sie bloß noch mehr.
"Ich würde gerne einen Blick in das Büro deines Bruders werfen." fuhr Alexander mit dem gleichen ruhigen Tonfall fort "Er hat auch hier in eurer Brauerei gearbeitet, nicht wahr?"
Letitia nickte zustimmend.
Erst Alexanders Blick, der nach wie vor auf ihr ruhte und der Hauch von Aufforderung, den sie plötzlich in seinen grünen Augen wahrnahm, machte ihr bewußt, daß er jetzt wohl darauf wartete, daß sie ihm den Weg dorthin wies.
"Komm' mit bitte!" meinte sie.
Sie wandte sich wieder dem Fahrstuhl zu und konnte spüren, wie Alexander ihr die wenigen Schritte dorthin folgte, schräg hinter ihr vor der geschlossenen Metalltür stehenblieb.
Die Berührung ihres Zeigefingers mit dem Knopf, der den Fahrstuhl zu ihnen hinunterbrachte, spürte sie kaum.
"Hat er dir wirklich nichts erzählt, was er heute nachmittag vorhat?" fragte Alexander dann erneut als sie sich in der kleinen Kabine mit der Spiegelwand und den verchromten Haltestangen gegenüberstanden.
"Bitte denk' noch mal nach! Des ist wichtig für uns!"
Letitia senkte den Kopf damit ihr Gehirn nicht weiter von ihren Augen abgelenkt wurde.
Aber ihr Kopf schien sich schlagartig geleert zu haben mit seiner Mitteilung, bloß der eine, unfaßbare Gedanke kreiste darin.
"Tut mir leid. Ich kann mich wirklich nicht erinnern im Moment. Aber ich meine, wir hätten nicht darüber gesprochen." erwiderte sie ihm, einen Moment, bevor die Fahrstuhltüren mit dem leisen, obligatorischen Glockenton auseinanderglitten.
Alexander nickte verstehend und ließ sie vorangehen.
Letitia führte ihn über den mit einem dicken, dunkelblauen Teppich ausgelegten Flur zu der Tür schräg rechts.
Links befand sich eine lange Fensterfront und endete in einem halbrunden Vorraum, in dem Frau Michelner, die Sekretärin ihres Vaters, ihr Refugium hatte.
Sein Büro war hinter der schweren Holztür, auf die man, wenn man den Fahrstuhl verließ, direkt zuging.
Hatte man keinen Termin mit Herrn Obermayr senior oder keinen wichtigen Namen, so war ein Vorbeikommen an Frau Michelner somit fast unmöglich.
Ihr Schreibtisch mit dem abgedeckten PC und dem zugeklappten Terminbuch lag im gedimmten Licht der in der Decke integrierten, kleinen, kreisrunden Halogenlämpchen.
Letitia ging an der aus zwei Sesseln und einem niedrigen Glastisch bestehenden Sitzecke rechts vorbei und öffnete die Holztür.
Sie ließ sie sanft aufschwingen, blieb am äußeren Türrahmen stehen und betätigte von dort den Lichtschalter links innen neben der Tür
"Bitte!" meinte sie zu Alexander während sie stehenblieb wo sie war.
Alexanders Blick streifte sie kurz während er an ihr vorbei das Büro betrat.
Letitia folgte ihm und verharrte links neben dem Türrahmen.
Stumm sah sie zu wie Alexander aus der rechten Tasche seiner grünen Jacke ein Paar Gummihandschuhe zog und sorgfältig in jeden hineinblies bevor er sie überstreifte.
"Bitte faß' jetzt nichts an hier, Letti!" bat er sie mit einem raschen Blick in ihre Richtung während er am Schreibtisch Marios Terminkalender durchblätterte.
Sie nickte gehorsam während sie die größtenteils leeren Seiten zwischen seinen Fingern hindurchrieseln sah.
"Kannst du mir sagen, ob es Streitigkeiten hier in der Firma gegeben hat?" wollte Alexander weiter von ihr wissen als er die Wahlwiederholungstaste der Telefonanlage drückte.
Nichts geschah daraufhin.
"Gibt es Leute hier, mit denen er sich nicht verstand?"
Er klappte das Casettenfach des Anrufbeantworters auf und nahm die kleine Cassette heraus.
"Dazu war er gar nicht oft genug hier." gab Letitia zurück und verfolgte interessiert, was wohl mit der Cassette geschah.
Einfach mitnehmen durfte er sie doch bestimmt nicht, oder?
Noch hielt Alexander sie in der Hand.
Sein Blick zu ihr herüber zeigte eine Spur Verblüffung.
Sie fand nichts dabei, ihn wissen zu lassen, daß Mario es vorzog, die angenehmen Seiten des Brauerei-Erben-Daseins zu genießen statt, wie ihr Vater es immer geplant hatte, ihm zur Seite zu stehen.
Sobald sich die Polizei auch bloß ein bißchen mit Marios Lebenswandel befaßte würden sie es eh herausfinden, sofern sie es bis dahin nicht von irgendeinem Mitarbeiter erfahren hatten.
Diese Aufklärung konnte sie ebensogut übernehmen.
"Darf ich die mitnehmen?" fragte Alexander sie jetzt und hielt die Cassette in ihre Richtung ohne auf ihre letzten Worte einzugehen.
"Bitte." stimmte Letitia zu und war sich sicher, daß sie damit nicht weiterkommen würden.
Soweit sie wußte war Mario das letzte Mal am Montag für eine halbe Stunde hier in seinem Büro gewesen.
Heute war Donnerstag.
Alexander ließ die Cassette in der Tasche seiner Jacke verschwinden und nahm aus der linken Innentasche ein kleines Handy heraus, drückte eine Nummer während er mit der Linken die Schreibtischschublade aufzog und oberflächlich darin herumstöberte.
"Ja, Sendlinger." meldete er sich als am anderen Ende wohl jemand den Anruf entgegennahm "Ich bin in der Obermayr-Brauerei und bräucht' jemanden, der sich das Büro 'mal genauer anschaut! Schickst jemanden vorbei? Du hast doch nichts dagegen, Letti, oder?"
Er sah beim letzten Satz fragend zu ihr herüber.
'Geschickt gemacht!' fand Letitia während sie leicht den Kopf schüttelte.
Mit ihrem Einverständnis ersparte er sich wohl den Durchsuchungsbefehl.
Verweigerte sie ihre Zustimmung, so machte sie sich verdächtig.
Alexander beendete das Gespräch und ließ das Handy wieder in der Innentasche seiner Jacke verschwinden.
Dann zog er seine Handschuhe aus und während er sie in einer anderen Tasche verstaute kam er um den Schreibtisch herum und blieb vor ihr stehen.
"Da ist noch etwas, Letti." meinte er zu ihr.
Seine Stimme klang wieder ganz ruhig und sanft.
Letitia sah fragend zu ihm hoch.
"Ich muß dich bitten, deinen Bruder zu identifizieren." sagte Alexander jetzt.
Sie spürte Panik und Entsetzen aufsteigen.
Ganz kurz flimmerte vor ihrem Auge die Szene eines kahlen Sezierraumes an ihr vorbei, dann das Bild eines Kühlfaches, einer herausgezogenen Bahre, auf der unter einem klinisch weißen Laken ein Mensch lag.
'Was soll ich?' wäre ihr beinahe ungläubig herausgerutscht.
Sie wollte das nicht tun.
Der Blick von Alexanders grünen Augen lag noch immer auf ihrem Gesicht.
Er war ihr nicht fremd, obwohl sie sich eine so lange Zeit nicht gesehen hatten, er wirkte ihr noch immer sehr vertraut.
"Schau, es ist sonst keiner, der das tun könnte." fügte Alexander sacht hinzu.
Letitia spürte plötzlich wieder kurz seine Hand an ihrem Arm, und irgendwie hatte es etwas Tröstliches, Unterstützendes.
Es war ein Gefühl als ob sie sich in der kommenden, unangenehmen Situation unbedingt auf ihn verlassen konnte.
"Also gut." meinte sie nach einem ergebenem, tiefen Ausatmen.
Alexander nickte ihr zu.
Letitia kam es beinahe so vor, als würde ein kaum merkliches Lächeln seine Lippen verziehen, mit dem er sie quasi für ihren tapferen Entschluß belohnen wollte.
Ein Gefühl, auf das sie keinen Einfluß hatte, schob daraufhin sogar ein klitzekleines Lächeln über ihre eigenen Lippen, sie konnte es gerade so eben spüren.
"Komm, fahren wir!" meinte er mit einem kleinen Nicken.
Sie hielt ein kleines Seufzen zurück während Alexander sie voran auf den Flur gehen ließ, das Licht im Raum löschte und die Tür hinter ihnen schloß.
Unten im Foyer bestätigte sie dem Portier mit einem beruhigenden Nicken, daß das Auftauchen weiterer Polizeibeamter in absehbarer Zeit seine Richtigkeit hatte, wie Alexander ihm vorher angekündigt hatte.
Sie bat ihn, die Beamten in Marios Büro ihrer Arbeit nachgehen zu lassen.
Der Portier versprach es ihr, auch wenn sie seinem verblüfften Gesichtsausdruck ansehen konnte, daß er sich keinen Reim auf die Sache machen konnte.
Draußen war es dunkel.
Es wurde früh dunkel, jetzt im November, und es nieselte leicht.
Alexander führte sie zu dem BMW, der direkt vor dem Eingang geparkt war.
Das Licht, das durch die großen, langen Glasscheiben rechts und links neben der Drehtür hinausschien, zeigte die dunkelblaue Farbe des Lackes und die unzähligen Wassertröpfen, die daran herunterperlten.
Alexander öffnete ihr die Beifahrertür und ließ sie einsteigen, schlug die Tür hinter ihr zu.
Letitia bemerkte mit einem ihrer ersten Blicke das Telefon in der Konsole zwischen den Vordersitzen des Wagens.
Es schien sich um einen Polizeiwagen zu handeln.
Ob er privat wohl noch einen anderen Wagen fuhr?
Wenn ja, was für einen wohl?
War es normal, daß sie sich, gut zwanzig Minuten, nachdem sie vom Tod ihres Bruders erfahren hatte, Gedanken darüber machte, was für einen Wagen sich ihre heimliche Schülerliebe heutzutage leisten konnte?
Alexander stieg auf der Fahrerseite des Wagens ein und warf ihr einen kurzen, prüfenden Blick zu bevor er die Tür zuschlug und sich anschnallte.
Er wartete, bevor er den Motor startete, bis sie sich ebenfalls angeschnallt hatte, und sie mußte ein ganz kleines bißchen lächeln.
Mußte man, wenn man bei der Polizei arbeitete, wohl ganz besonders penibel auf die Einhaltung von Recht und Ordnung in seinem Umfeld achten?
Alexander lenkte den Wagen um das kleine Rasenstück mit dem Springbrunnen, das sich vor dem leicht gewundenen Gebäude befand, und dessen Fontaine um diese Jahreszeit selbstverständlich ausgeschaltet war.
Er wartete eine Lücke im fließenden Verkehr der Hauptstraße ab und ließ den BMW dann hineinrollen, ordnete sich an der nächsten Kreuzung Richtung Bogenhausen ein.
Etwa zehn Minuten fuhren sie schweigend, ohne daß einer von ihnen beiden ein Wort sagte.
Letitia sah aus dem Fenster, auch wenn sie die draußen mit hochgezogenen Schultern vorbeihastenden Fußgänger und die unzähligen Lichter und bunten Reklamen gar nicht richtig wahrnahm.
Das Gefühl der Betäubung war in den Hintergrund gerückt, irgendwie fühlte sie sich geschockt, die Zeit schien plötzlich stehengeblieben weil etwas passiert war, das sie weder erwartet hatte noch irgendwie beeinflussen konnte.
Aber Alexanders Auftauchen hatte sie ebenfalls durcheinander gebracht, und sie mußte sich zwingen, hinauszuschauen, weil sie ihn am liebsten die ganze Zeit angesehen hätte.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Alexander den Schalthebel des BMW in einen anderen Gang schob.
'Klinikum RECHTS DER ISAR' zeigte das Straßenschild, vor dem er nach Links abbog.
"Wie ist es passiert?" fragte Letitia jetzt.
Warum fiel ihr jetzt erst ein, zu fragen, WIE ihr Bruder ums Leben gekommen war?
Sie sah zu Alexander herüber.
"Wie ist was passiert?" fragte er zurück, schnippte dem Finger den Blinkerhebel nach oben.
Am Ton seiner Stimme konnte Letitia hören, daß er mit den Gedanken ebenfalls nicht bei der Sache war.
Ob das der Aufklärung der Sache förderlich sein würde? zweifelte sie.
Gleichzeitig vermittelte es ihr ein bißchen Beruhigung.
War er durch ihr ungeplantes Zusammentreffen vielleicht genauso abgelenkt wie sie?
Ging es ihm seit dreißig Minuten genau wie ihr, stellte er fest, daß viel zu viel Gefühl die dreiundzwanzig Jahre überdauert hatte?
Letitia intensivierte ihren Blick als er rasch zu ihr hinübersah, zog ihre Augenbrauen ein wenig erstaunt in die Höhe.
"WIE ist mein Bruder umgebracht worden?" erinnerte sie ihn leise.
Im selben Moment, wie sie es aussprach, fiel ihr auf, daß mit keinem Wort erwähnt worden war, daß Mario keines natürlichen Todes gestorben war.
Auch wenn es relativ unwahrscheinlich war, daß er mit vierunddreißig einfach tot in der Tiefgarage umfiel, solche Fälle gab es.
Und das Auftauchen eines Beamten der Mordkommission rechtfertigte diese Annahme auch nicht, schließlich mußten die erstmal ermitteln, ob es ein natürlicher oder unnatürlicher Todesfall war.
Letitia entging der Hauch Wachsamkeit nicht, der urplötzlich über Alexanders Gesicht huschte.
"Es war nicht die Rede davon, daß dein Bruder umgebracht wurde." gab er prompt zurück.
Seine Stimme war nach wie vor ruhig, verriet nur einen ganz kleinen Funken der Belehrung, der Letitia dennoch sofort maßlos ärgerte.
Beinahe kam sie sich vor wie mitten in einen TATORT-Dialog versetzt.
"Hab' ich mich jetzt schuldig gemacht? Weiß' ich 'was, was nur der Täter wissen kann?"
Es kam unvernünftiger heraus als sie beabsichtigt hatte.
Alexanders langer Blick zu ihr daraufhin war indigniert während er auf das Krankenhausgelände abbog.
"Red' kein Schmarrn, Letti! Keiner verdächtigt dich, deinen Bruder umgebracht zu haben!" meinte er.
Seine Stimme war noch immer ruhig, aber Belehrung und Überlegenheit klangen so unüberhörbar darin mit, daß es Letitia umgehend auf die Palme brachte.
Noch dazu die Kombination mit der so persönlichen Anrede, die sie nur ganz wenigen Leuten gestattete, und die er aus der Vergangenheit wie selbstverständlich übernommen hatte.
"Also ist er doch umgebracht worden?" fragte sie spitz.
Das Gespräch war längst außer Kontrolle.
Wie hatte es sich so schnell bloß so emotional hochschaukeln können?
Alexander bremste den Wagen so heftig mitten auf der Zufahrt daß sie in ihren Sicherheitsgurt geschubst wurde, er schlug ungeduldig beide Handflächen auf das Lenkrad.
"Herrgott, Letitia, das versuchen wir herauszufinden!" herrschte er sie an.
"Du benimmst dich noch immer wie des verwöhnte Gör' damals auf der Schule!"
Letitia sah ihn an.
Daß er sie anschrie machte ihr nicht ganz so viel aus wie das, was er sie wissen ließ.
Es traf sie unmittelbar weil ihr damaliges Verhalten falsch gewesen war, und sie es auf gar keinen Fall hatte wiederholen wollen.
Sie zog die rechte Augenbraue hoch während sie Alexanders Blick nach wie vor standhielt,
das wütende Funkeln in seinen Augen registrierte und sein schnelles Atmen.
Mit der rechten Hand tastete sie zur Schnalle des Sicherheitsgurtes und fand die Taste zum Glück sofort, ließ sie aufspringen.
Dann wandte sie sich zur Tür, öffnete sie und stieg aus, "Letitia!" hörte sie Alexanders ungeduldige Stimme, dann schlug sie die Tür erbost hinter sich zu.
Sollte er doch zusehen wer ihren Bruder identifizierte!
Anschreien lassen mußte sie sich nicht von ihm!
Er konnte sie ja verhaften lassen wenn er ihre Hilfe brauchte!
Sie stapfte wütend ein paar Schritte vom Wagen weg.
Die ungemütliche Novemberkälte und der feine Nieselregen in ihrem Gesicht kühlten ihren Zorn sehr schnell wieder herunter.
Ohne es zu wollen lauschte sie zum Wagen hinter sich und für ihr Empfinden dauerte es hoffnungslos lange, bis sie das Öffnen der Tür hörte.
"Letitia!" klang ihr Name dann durch den naß-kalten Abend.
Es hörte sich ergeben, nach unterdrücktem Ärger an.
Sie hatte noch nie mit Alexander gestritten, es war nie dazu gekommen.
Deswegen konnte sie ihn nicht einschätzen.
Unzufrieden bohrte sie ihre zu Fäusten geballte Hände tiefer in ihre Manteltaschen.
Ihre Schritte waren längst langsamer geworden, ohne daß sie es recht gemerkt hatte.
"Letitia! Bitte!" klang es noch mal vom Wagen her.
Er hätte sie zu Recht ein verwöhntes Gör' genannt wenn sie jetzt weiterhin beleidigt spielte; diese Genugtuung wollte sie ihm auf gar keinen Fall gönnen.
Also ging sie mit wenigen Schritten einen kleinen Bogen und kehrte zum Auto zurück, bemüht, den Kopf oben zu halten und Alexanders Blick nicht auszuweichen.
Er stand an der Fahrerseite des BMWs, die Arme abwartend auf das Dach gelegt, sah ruhig zu, wie sie näherkam.
"Sollen wir 'reingehen?" fragte Letitia als sie neben ihm stehenblieb, sah zu ihm auf.
Sie bemühte sich, ihre Stimme ruhig, neutral klingen zu lassen, fand, daß es ihr nicht ganz gelang, ein Hauch Anzüglichkeit lag darin.
Ob Alexander es auch so wahrnahm?
Trotz des Halbdunkels hier auf der Zufahrt konnte sie die Unentschlossenheit auf seinem Gesicht erkennen, zuerst schien er noch einen draufsetzen zu wollen, dann jedoch entschied er sich dagegen, sein Gesichtsausdruck zeigte ganz kurz so etwas wie: Der Klügere gibt nach!
"Ich parke eben den Wagen." gab er zurück und hörte sich genauso bemüht an wie sie.
Letitia nickte stumm.
Augenscheinlich wartete er nun darauf, daß sie sich wieder in den Wagen begab um mit ihm zum Parkplatz neben dem Eingang zu fahren, aber als sie keine Anstalten erkennen ließ, stieg er alleine ein und zog die Tür hinter sich zu.
Letitia atmete tief durch und nachdem der BMW sich in Bewegung gesetzt hatte ging sie die wenigen Meter zum hellerleuchteten Klinikeingang.
Hatte er Recht?
War sie wirklich so schlimm?
Bisher war sie im Glauben gewesen, daß das dicke Bankkonto ihres Vaters sie nicht negativ beeinflußt hatte!
Es hatte immer geheißen, daß Mario das schwarze Schaf der Familie war.
Fiel ihr diese Aufgabe jetzt zu?
Der Gedanke an Mario erinnerte sie daran, wozu sie eigentlich hergekommen war.
Was würde sie gleich zu sehen bekommen?
Konnte sie aus Alexanders Worten ableiten, daß es noch nicht sicher war, ob Mario ermordet wurde, daß er gar keine äußeren Verletzungen aufwies und sich ihr in ein paar Minuten kein unerträglicher Anblick bieten würde?
Alexander hatte den Wagen auf dem kleinen Platz rechts neben dem breiten Eingang abgestellt, wobei es sich bestimmt um den Privatparkplatz für einen der Chefärzte handelte.
Schweigend gesellte er sich zu ihr als sie jetzt die wenigen Treppenstufen hinaufging, und zeigte dann dem Portier in der verglasten Loge rechts in der hohen, weiten Eingangshalle seinen Polizeiausweis, fragte dabei, ob in der Pathologie noch jemand sei.
"Ich rufe Ihnen Doktor Reichenberger." meinte der Portier dienstbeflissen "Gehen Sie ruhig schon 'mal 'runter!"
Alexander nickte und steckte seinen Ausweis wieder ein, sah sich dann auffordernd nach ihr um.
Letitia folgte ihm zum Fahrstuhl, der sie hinunter in das zweite Untergeschoß brachte.
Die Pathologie lag im Dunkeln hinter einer hohen, doppelflügeligen Milchglastür auf der rechten Seite.
Der Flur davor war mit quadratisch gekästeltem Linoleum in hellem und dunklem Grau ausgelegt, 'ZUTRITT NUR FÜR KLINIKPERSONAL!' stand auf der weißen Doppelholztür auf der gegenüberliegenden Seite.
Das bogige Fenster zwischen den beiden Türen war ebenfalls mit Milchglas undurchsichtig gemacht, Letitia bezweifelte, daß man durch die Scheiben irgend etwas hätte sehen können wären sie aus normalem Glas gewesen, ihrer Einschätzung nach befanden sie sich hier bereits unter Parkplatzniveau.
Drei Grünpflanzen mit langen Blättern, deren Spitzen sich bereits bräunlich verfärbt hatten, verstärkten das vorherrschende Bild der Trostlosigkeit bloß noch.
Es war sehr still hier unten und der typische Krankenhausgeruch lag über allem.
Letitia sah zu Alexander.
Er stand vielleicht zwei Meter entfernt von ihr an der Glastür, hatte beide Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben, den Kopf gesenkt.
Im Neonlicht hier unten konnte sie die dunklen Bartstoppeln erkennen, die sich deutlich von der hellen Haut seines Kinns, seiner Wangen abhoben.
Wenn man ganz genau hinsah konnte man wenige sehr feine graue Strähnen in seinem schwarzen, lockigen Haar erkennen.
Ihre Wut auf ihn war schon längst verflogen.
Sie hatte dreiundzwanzig Jahre verschenkt wegen eines einzigen unüberlegten Satzes in der Pause auf dem Schulhof.
Alexander schien ihren Blick zu spüren, er sah auf, zu ihr hinüber.
Dann wandte er sich von der Tür ab und machte ein paar Schritte in ihre Richtung.
"Hast du sowas schon 'mal gemacht?" fragte er.
War da eine Spur Besorgnis in seiner Stimme?
Fürchtete er, sie könne schlapp machen?
Sie hatte noch nie einen Toten gesehen, hatte es auch vermieden, sich ihre Mutter noch mal anzusehen, die schon über fünfzehn Jahre tot war.
"Nein. Ist mir zum Glück bisher erspart geblieben."
Als er vor ihr stehenblieb sah sie zu ihm hoch und konnte die Frage dann einfach nicht mehr zurückhalten.
"Sieht er schlimm aus?"
Sie konnte nicht verhindern, daß ihre Angst in dem Satz mitklang.
Alexander schüttelte den Kopf.
"Keine äußeren Verletzungen." antwortete er ihr, und es klang so nüchtern nach Beamten der Mordkommission, daß es sie tief innendrin etwas amüsierte, irgendwie sah sie ihn ein bißchen schizophren.
Zuerst den Jungen, mit dem sie in der Schule so furchtbar gerne zusammen gewesen wäre, und dann den Mann, der den Tod ihres Bruders aufklären sollte.
"So wie es aussieht ist er an einem Genickbruch gestorben." fuhr Alexander jetzt fort wie Letitia erstaunt zur Kenntnis nahm "Genaueres haben wir erst morgen nach der Obduktion."
Sie schluckte überrascht.
"Kann es sein, daß er sich das durch einen Sturz zugezogen hat?" wollte sie wissen, obwohl sie die Antwort schon im Voraus wußte.
Mario hätte mit dem Nacken auf eine Stufe schlagen müssen um sich den Wirbel zu brechen, der dann sein lebenswichtiges Halsmark durchtrennte.
In der ganzen Tiefgarage gab es keine einzige Stufe.
Alexander schüttelte prompt den Kopf.
"Nein. Es deutet auf äußere Gewalteinwirkung hin."
"Geht sowas schnell?" fragte sie leise.
Alexander verzog das Gesicht.
Sein Zögern jagte Letitia den Gedanken durch den Kopf, ob sie damit würde umgehen können wenn die Antwort jetzt 'Nein' lautet.
Was, wenn sie von nun an die Vorstellung begleiten würde, daß Mario noch lange unsägliche Schmerzen gelitten hatte?
"Wenn man's richtig macht, Ja." antwortete Alexander endlich und fügte dann hinzu: "Es sieht aus, als wäre es bei Mario sehr schnell gegangen. Der Täter muß ihn von hinten völlig überrascht haben. Wir haben keine Kampfspuren entdecken können. Er hatte sogar noch seinen Autoschlüssel in der Hand."
Letitia mußte direkt ein bißchen lächeln.
Mario war fürchterlich stolz auf seinen Ferrari gewesen.
Er hatte ihn auch erst sechs Wochen gehabt.
Nachdem er bei einem kleinen Autorennen mit einem seiner Freunde seinen Porsche zersägt hatte, war es ihm schließlich gelungen, ihren Vater so lange zu umschmeicheln, bis er das Geld für den Italiener schließlich herausgab, natürlich inklusive Sonderlackierung in Kobaltblau, weil es für Mario nie gab, was andere schon hatten.
Er war von Anfang an Papas Liebling gewesen, der ersehnte Stammhalter und Erbe der Brauerei, er hatte sich nie besonders anstrengen müssen wenn er etwas wollte.
Trotz allem war sie nie neidisch auf ihn gewesen.
Auch sie hatte keinen Grund gehabt, sich zu beklagen, viel Taschengeld, Shoppen in Münchens Edelboutiquen, Mario sollte die Brauerei übernehmen und ihr Platz in der hauseigenen Werbeabteilung war ihr auf Lebenszeit sicher sofern sie dies wollte.
Dennoch hatte sie nicht ganz so viel Spaß an materiellen Werten wie ihr Bruder, gut, dachte sie jetzt, das kann man immer leicht sagen wenn man im Prinzip alles hat, was man braucht oder es sich jederzeit leisten kann.
Es kostete sie einen kleinen Moment der Anstrengung, um in die Wirklichkeit zurückzukehren, in der sie in einigen Minuten ihren toten Bruder identifizieren sollte, und in der Alexander ihr noch immer gegenüberstand.
"Danke." meinte sie leise zu ihm, wirklich dankbar für die Informationen, die er ihr hatte zukommen lassen.
Alexander sagte nichts.
Der Blick seiner grünen Augen ruhte noch immer auf ihr, sein Gesichtsausdruck war aufmerksam.
Aus der Innentasche seiner Jacke war jetzt ganz leises Handyklingeln zu hören.
"Entschuldige." meinte er zu ihr während er den kleinen Apparat aus der Tasche zog und sich meldete.
Letitia nickte und verfolgte mit den Augen, wie er sich ein paar Schritte abwandte.
"Ja, Laura." hörte sie ihn mit gedämpfter Stimme sagen.
Mit untrüglicher weiblicher Intuition wußte sie sofort, daß dies ein Anruf seiner Freundin war.
Letitia zog ihre Schultern ein und vergrub sich ein wenig tiefer in ihrem dicken Mantel während sie versuchte, das desillusionierende Gefühl nicht zu beachten, das sich langsam in ihrem Inneren ausbreitete.
Eine schöne lange Dreiviertelstunde lang hatte sie nicht wirklich daran geglaubt, daß doch noch alles gut werden konnte.
Aber allein die Möglichkeit im Hinterkopf zu haben war sehr reizvoll gewesen und hatte nicht die Unbegreiflichkeit des Geschehenen überhand nehmen lassen.
"Du weißt doch...nein, Laura...nein, du kennst das doch." konnte Letitia Alexanders Stimme weiter vernehmen.
Eine Mischung aus unterdrücktem Ärger und Beschwichtigung klang darin mit.
"Bitte Laura...ich kann..."
Letitia sah aus dem Augenwinkel, wie Alexander mitten im Satz das kleine Telefon vom Ohr nahm und einen Moment lang darauf sah bevor er es zurück in seine Tasche gleiten ließ.
Sein Gesichtsausdruck wechselte von Ungehaltenheit ins Ärgerliche.
Laura schien aufgelegt zu haben.
Es machte den Eindruck, als habe sie Schwierigkeiten mit Alexanders unregelmäßiger Arbeitszeit, und das nicht heute zum ersten Mal!
Letitia gab sich Mühe, sich ihre wagemutigen Spekulationen und vor allen Dingen ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen als Alexander wieder zu ihr zurückkam und erneut schräg vor ihr stehenblieb.
Er verzog kurz das Gesicht, sagte aber nichts.
Das brauchte er auch nicht, Letitia war sich sicher, daß sie mit ihrer Vermutung nicht falsch lag.
An Alexanders rechtem Oberarm vorbei konnte sie sehen, wie jetzt hinter der Milchglastür Licht aufflammte, und er schien dies jetzt von ihrem Gesicht abzulesen, er wandte sich um.
Der rechte Flügel der Tür öffnete sich und ein großer, hagerer Mann in einem weißen Kittel trat heraus.
Sein Schnurrbart war so extravagant, so lang und an den Spitzen so hochgezwirbelt, daß er Letitia auf Anhieb unsympathisch war.
"Tut mir leid, daß wir Sie so spät noch stören." meinte Alexander zu ihm und machte sie dann miteinander bekannt.
Doktor Reichenberger hatte lange, dünne und dazu noch kalte Finger und bat sie nach der Begrüßung in den kahlen, weißgekachelten Flur hinter der Milchglastür.
Hier war es kühl und es roch ganz chemisch sauber, Doktor Reichenberger ging den Flur voran, der vor einer halboffenen, automatischen Schiebetür endete.
Links im Gang, etwa anderthalb Meter vor der Tür, an der Wand, standen drei orangene Plastikstühle, und wirkten in dieser farblosen Welt furchtbar fehl am Platz.
Direkt hinter der Tür, in der rechten Wand, befanden sich drei mal drei quadratische Edelstahltüren.
Die Sicht geradeaus, in den nächsten Raum, wurde durch einen festen Plastikvorhang nicht komplett versperrt, man brauchte nicht viel Phantasie um das verzerrte Bild eines Seziertisches dahinter zu erkennen.
Letitia war über die sorgsame Anordnung der neun Türen rechts über- und nebeneinander so überrascht, daß ihr der Grund ihres Hierseins erst wieder einfiel als Doktor Reichenberger nach einem Blick auf eine Liste, die links an der Wand hing, fragte: "Sie kommen wegen Mario Obermayr, nicht wahr?"
Den Namen ihres Bruders hier unten in dieser beklemmenden Atmosphäre zu hören machte ihr zum ersten Mal richtig bewußt, daß er tot war, daß sie heute mittag zum letzten Mal mit ihm gegessen, gelacht und gescherzt hatte.
Ein mulmiges Gefühl machte sich nun in ihrem Magen breit.
Wie standen die Chancen, daß die Beamten der Kriminalpolizei sich vertan hatten?
Daß sie Alexander gleich mit einem erleichterten Kopfschütteln fröhlich verkünden konnte: "Nein, das ist nicht mein Bruder!"
Vermutlich eher schlecht.
Alexander nickte dem Arzt zu.
"Ja."
Der griff daraufhin zu dem Schnappverschluß der mittleren Tür ganz rechts und hakte ihn auf, öffnete die Tür, zog dann eine schmale Edelstahlbahre auf Rollschienen heraus, auf der, unter einem weißen Tuch verhüllt, ganz deutlich die Umrisse eines Menschen zu erkennen waren, Kopf, Schultern und Oberkörper.
Letitia stand so, daß sie direkt über die Tür schauern konnte, und sie spürte Alexander neben sich, spürte seine Hand an ihrer Schulter.
Sie sah, wie Doktor Reichenberger fragend zu Alexander sah und sah dessen Nicken aus dem Augenwinkel.
Dann legte der Pathologe das weiße Laken, dessen rechte Ecke er in der Hand gehalten hatte, behutsam um.
Er entblößte damit Marios Kopf, seine Schultern.
Seine Haut hob sich fürchterlich weiß gegen den matten Edelstahl ab, auf dem er lag.
Hoch oben auf seinem linken Oberarm leuchtete noch immer in hellem Rot und hellem Blau die Tätowierung, ein kleiner Drache.
Marios Kopf lag ein wenig schief auf der harten Unterlage, gerade so abgewinkelt, daß man ahnen konnte, daß die Wirbel im Nacken ihm keinen festen Halt mehr bieten würden.
Seine dunklen Haare waren zurückgekämmt und seine Augen geschlossen, nie wieder würde sie das Blau seiner Pupillen sehen können.
Aber es war sein friedlicher Gesichtsausdruck, der all diese schrecklichen Einzelheiten vergessen ließ, fast die Andeutung eines Lächelns umspielte seine blassen Lippen.
Letitia hätte noch stundenlang hier stehen und ihren toten Bruder betrachten können, aber Alexanders Hand, die sacht von ihrer Schulter zu ihrem Oberarm strich, dort liegenblieb, erinnerte sie daran, daß ihr Aufenthalt hier an eine bestimmte Aufgabe geknüpft war.
Ganz unwillkürlich schauderte sie zusammen weil sie plötzlich die Kälte hier herinnen wieder spürte.
"Ja." meinte sie einfach.
"Das ist Mario."
In ihren eigenen Ohren klang es, als hätte sie immer schon gewußt, daß er 'mal so enden würde.
Doktor Reichenberger nickte und zog das weiße Laken wieder zurück, nahm ihr damit die Sicht auf die reglose Gestalt, von der sie erstaunlicherweise nicht mehr die geringste Empfindung ausgehen gespürt hatte.
Genausogut hätte sie einem Stück Holz gegenüberstehen können.
Um so stärker spürte sie Alexanders Anwesenheit neben sich, die Wärme seiner Nähe als er sie jetzt sanft von der Tür wegzog, seinen Arm um ihre Schulter, und die Bewegung, als er sich kurz umdrehte und meinte: "Ich komm' gleich noch mal zu Ihnen, Doktor!"
Sie hörte das leise Rollen, als die Bahre zurück ins Fach geschoben wurde und das kurze Schnappen, mit dem die Tür schloß.
Als Alexander sie sacht auf den ersten Stuhl der Drei draußen in dem Flur drückte holte sie sich krampfhaft die Szene draußen auf dem Parkplatz ins Gedächnis zurück um nicht vor ihrem geistigen Auge das Bild von Mario in dem dunklen, schmalen Kühlfach zu haben.
Hatte er verwöhntes Gör' oder Blage gesagt?
"Alles okay?" hörte sie Alexanders sanfte Stimme.
Als er vor ihr in die Hocke ging um sie prüfend anzusehen zwang sie ihre Augen auf sein Gesicht und ihre Konzentration wirklich nur auf seinen Anblick.
Ein paar seiner dunklen Locken hingen durcheinander in seine Stirn, in einer war eine ganz dünne Linie grauen Haares zu sehen.
Der Blick seiner grünen Augen suchte in ihren nach etwas, um ihr Verhalten für die nächsten Moment einschätzen zu können, das sah sie ganz deutlich.
Die Bartstoppeln auf seinem Kinn, seinen Wangen, waren schwarz, und gaben ihm, zusammen mit den wilden Locken, ein leicht verwegenes Aussehen.
Sie mußte sich wirklich nicht zu einem Lächeln zwingen, es überkam ihre Lippen bei seinem Anblick von ganz alleine, auch wenn hier wirklich nicht angebracht war.
Es irritierte ihn, Letitia spürte es ganz genau.
Sie sah seinen raschen Seitenblick Richtung Doktor Reichenberger (der sicher als Pathologe nicht die richtige Hilfe sein würde wenn, wie Alexander vielleicht gerade in Vermutung zog, sie vor Schmerz und Kummer hier gleich den Verstand verlor), dann spürte sie seine Hand leicht über ihren Arm streichen.
"Ich bin gleich zurück." meinte er zu ihr und Letitia registrierte erleichtert, daß es ruhig und sachlich klang, nicht so, als spränge er eben auf um Hilfe zu holen.
"Ja, sicher." erwiderte sie geduldig.
Bevor er den Plastikvorhang mit der rechten Hand beiseite streifte und den Raum dahinter betrat warf er über seine Schulter noch mal einen raschen Blick auf sie.
Letitia lächelte ihm zu.
Als er im Nebenraum verschwunden war warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr.
Mittlerweile war es viertel vor acht.
Er hatte sie verwöhntes Gör' genannt.
War er wohl wirklich noch der Meinung oder hatte er es nur im Zorn in der Situation heraus gesagt?
Letitia bemerkte, daß es ihr nicht perfekt gelang, die Vorstellung zu verdrängen, wie Marios Körper sich unter dem dünnen Tuch in dem kleinen kühlen Fach befand.
Mußte sie jetzt eigentlich noch irgend etwas tun?
Sich um die Beisetzung kümmern?
Dazu mußten sie ihn doch eigentlich erst freigeben, oder?
Vor allen Dingen mußte sie, sobald sie zuhause war, ihren Vater anrufen.
Sie hätte es eigentlich schon viel früher tun müssen, er würde über den Verlust Marios am Boden zerstört sein.
Als sie in ihrer Handtasche nach ihrem Handy kramte kam Alexander durch den Plastikvorhang zurück.
In der Hand hatte er einen braunen DIN-A5-Umschlag, der an manchen Stellen leicht ausgebeult war.
Sein Blick war aufmerksam als er bei ihr stehenblieb.
"Komm, ich bring' dich heim!" meinte er zu ihr.
Letitia stand auf.
"Ich hab' hier Marios Sachen, die er bei sich hatte." meinte er zu ihr als sie den Flur hinab Richtung Tür gingen, hob kurz den Umschlag zu ihr "Seine Armbanduhr, Kette, Schlüssel. Ihr bekommt sie zurück sobald wir uns das alles angesehen haben."
Letitia nickte ruhig.
"Und wann können wir ihn beerdigen?"
Alexander zog den linken Flügel der Milchglastür auf und ließ sie vorangehen.
"Ihr bekommt Bescheid." sagte er dabei, fügte dann sanft, wie um Verständnis bittend hinzu "Es wird noch ein paar Tage dauern."
Er ließ die Tür hinter sich zufallen und Letitia zuckte die linke Schulter, verfolgte mit den Augen, wie er neben der Fahrstuhltür den Knopf drückte, der die Kabine zu ihnen hinunter befördern sollte.
"Wir haben auch sicher erst noch einiges zu regeln." meinte sie dazu.
"Sicher." wiederholte Alexander.
Letitia sah ihn an als sie sich in der Fahrstuhlkabine gegenüberstanden.
"Habt ihr schon irgendeine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?" wollte sie wissen.
Alexander schüttelte den Kopf.
"Nein." antwortete er ihr ehrlich "Aber das besagt überhauptnichts, die Spuren sind noch nicht ausgewertet, wir haben uns die Tatortfotos noch nicht angesehen und keine Zeugenaussagen gelesen. Morgen abend haben wir das Obduktionsergebnis, vielleicht hilft uns das irgendwie weiter. Du kannst uns auch helfen."
Er ließ sie vorangehen als die Fahrstuhltür sich im Erdgeschoß mit einem leisen Glockenton öffnete.
"Wie?" fragte Letitia verblüfft und drehte sich zu ihm um.
"Du kennst bestimmt seinen Freundes- und Bekanntenkreis, Leute, mit denen er Umgang hatte." erwiderte ihr Alexander bestimmt "Du kannst uns eine Liste machen, mit allen Namen, die dir einfallen."
"Von seinen Freunden und Bekannten?" hinterfragte Letitia, noch viel verblüffter, und nickte dem Portier in seiner Loge im letzten Moment zu als sie das Krankenhaus verließen.
Der Nieselregen hatte sich verstärkt, die Kälte wirkte dadurch noch viel ungemütlicher.
"Glaubst du, daß einer von ihnen ihn umgebracht hat?" schauderte es sie, als sie nebeneinander die kurze Treppe hinabgingen.
Letitia konnte nicht genau sagen ob vor Unbehagen, Marios Mörder vielleicht zu kennen, oder ob es doch am Herbstwetter lag.
"Die meisten Täter sind mit ihrem Opfer bekannt." deklamierte Alexander während er um den Wagen herumging und ihr die Tür aufhielt.
"Danke." Letitia nahm rasch auf dem Beifahrersitz Platz und griff zum Sicherheitsgurt während Alexander die Tür zuschlug, um den Wagen herumging und auf der Fahrerseite einstieg.
"Die wenigsten Leute werden von irgendwelchen Fremden umgebracht, meistens befindet sich der Täter im Bekanntenkreis des Opfers." fuhr Alexander dann fort während er den Motor des BMW startete und den Wagen zurücksetzte.
"Soweit ich gesehen habe ist die Tiefgarage von außen nicht zugänglich. Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie der Täter über den Hauseingang hineingekommen sein kann. Theoretisch kann er auch mit Mario zusammen hinunter gekommen sein."
Letitia schwieg.
Alexanders logische Gedankengänge faszinierten sie, gleichzeitig ratterte eine Reihe von Marios Freunden und Bekannten durch ihr Gehirn und es versuchte auszusortieren, ob wohl einer von ihnen als Mörder in Frage kam.
Zudem versuchte sie sich zum wiederholten Male zu erinnern, ob er beim Mittagessen irgendwelche seiner Nachmittagspläne verraten hatte.
"Wo möchtest du hin?" fragte Alexander als sie vom Krankenhausgelände gefahren waren und er auf die Möglichkeit wartete, an der Trogerstraße in den Verkehr einzubiegen.
"Gräfelfing oder in die Keplerstraße?"
"Keplerstraße." antwortete Letitia, im ersten Moment nicht sicher, ob sie sich nicht verhört hatte.
Dann wandte den Kopf, sah ihn an.
Sie wollte ihn nicht fragen, aber ihr Erstaunen war so groß, daß sie es einfach tun mußte.
"Woher weißt du, wo ich wohne?"
Alexander warf ihr einen raschen Blick zu.
"Du bist bei uns im Computer." erklärte er ihr, als wäre dies das Selbstverständlichste von der Welt.
War es schließlich auch wie Letitia sich eingestehen mußte während Alexander ihr weiter erzählte, daß ihr Vater und sie dort als Marios nächste Angehörige aufgeführt waren, mit sämtlichen Adressen und Telefonnummern, inklusive der Villa am Starnberger See.
"Nichts ist so einfach, wie die nächsten Angehörigen der Opfer herauszufinden." schloß er seine Erklärung und betätigte den Blinker, um in die Keplerstraße abzubiegen.
Letitia lächelte gequält.
Irgendwie hatte sie sich eine romantischere Erklärung erhofft, aber das hatte sie sich wohl damals für alle Zeit verscherzt.
Alexander parkte den Wagen schräg in einer Lücke etwa fünf Meter von ihrer Haustür entfernt, löste seinen Sicherheitsgurt und stieg aus.
Er war um den Wagen herum und hatte ihr die Tür geöffnet bevor sie es selbst tun konnte, es gefiel ihr, sie kannte das eigentlich nur von den großen Einladungen, zu denen sie ihren Vater manchmal begleitete.
"Danke."
Alexander ging die wenigen Schritte mit ihr zur Haustür.
Letitia hatte während der Fahrt überlegt, ob sie ihn noch mit zu sich hinaufbitten sollte, hatte aber das Gefühl, daß er erstens nicht annehmen würde und es zweitens nach der Sache auf dem Parkplatz nicht wirklich eine gute Idee war, auch wenn es ihr sehr verführerisch erschien.
Auch jetzt, während sie nach ihrem Schlüssel kramte, ging es ihr wieder durch den Kopf, aber sie war nicht überzeugt davon.
"Ich möchte dich bitten, Montag um zehn ins Präsidium zu kommen." meinte Alexander jetzt zu ihr als sie an der Haustür stehenblieben.
Letitia war so verblüfft, daß sie vergaß, den Schlüssel ins Schloß zu schieben.
Ihre Hand hing in der Luft und sie sah Alexander fragend an.
"Wir müssen ein Protokoll machen und vielleicht hast du dann auch schon die Liste für uns." half er ihr freundlich weiter.
Letitia spürte gleichzeitig, wie er ihr sanft den Schlüssel aus der Hand zog und die Haustür aufschloß, sie für sie aufhielt.
"Ja...klar." antwortete sie verwirrt.
Sie griff zu dem Schlüssel, den er ihr hinhielt, ging die drei Stufen hoch und blieb im Flur stehen, wandte sich zu ihm um, sah ihn an.
"Danke Alexander."
Er zuckte kurz die Schultern und lächelte unverbindlich.
"Keine Ursache, Letti. Schlaf' gut!"
Letitia mußte lächeln.
"Du auch."
"Servus."
Alexander griff zum Knauf und zog die Tür von außen zu, Letitia drückte den Lichtschalter und ging in dem hellgestrichenen Treppenhaus langsam bis zu ihrer Wohnung unter dem Dach hinauf.
Als sie die Wohnungstür hinter sich ins Schloß gedrückt hatte und mit ihrer Hand den Schalter neben der Tür berührte kam ihr gleichzeitig mit dem Licht das in den Sinn, was sie den ganzen Abend über versäumt hatte.
Warum hatte sie sich nicht bei ihm entschuldigt?
Klar, es hätte sie ein wenig Überwindung gekostet, aber vielleicht wäre der Abend noch ein wenig freundlicher verlaufen und sie würde nicht so auf den Montag warten müssen.
Auf der Fahrt zum Krankenhaus wäre eine gute Gelegenheit dazu gewesen, Mario tot hin oder her, schließlich war sie es, die weiterleben mußte.
Und mit diesen allzu frischen Erinnerungen an Alexander würde ihr dies noch schwerer fallen als mit den alten, an die sie sich im Laufe der Jahre gewöhnt hatte.
Enttäuscht und wütend über ihre eigene Dummheit warf sie Mantel und Tasche über die Couch und wählte dann als erstes die Nummer ihres Vaters im Kurhotel in Bad Aiblingen.
Obwohl sie es zweimal durchläuten ließ ging keiner 'ran.
Also wählte sie als nächstes die Nummer des Hauses in Gräfelfing, wo ihr Vater wohnte, und wo auch Mario und sie noch ihre alten Kinderzimmer hatten.
Liesel, ihre Haushälterin, ging nach dem dritten Klingeln 'ran und brach in Tränen aus nachdem sie sich gemeldet hatte.
Ihre Stimme klang, als weine sie bereits die letzten Stunden und nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, bestätigte sie ihr, daß sie das auch tat seit die Polizeibeamten ihr die Nachricht überbracht und Marios Zimmer durchsucht hatten.
"Du hast Papa angerufen und es ihm gesagt?" horchte Letitia nach.
"Was hat er gesagt, wie hat er es aufgenommen? Ich konnte ihn nicht erreichen."
"Oh Letitia, es ist so schrecklich." schluchzte Liesel erneut.
Sie brauchte zehn Minuten, um ihr zwischen nun wieder reichlich fließenden Tränen zu berichten, daß er es zuerst ganz gefaßt angehört habe.
Zwei Stunden später habe sie allerdings der Arzt angerufen und ihr berichtet, daß er ihn mit leichten Herzbeschwerden ins nächste Krankenhaus habe bringen lassen müssen weil ihn das alles sehr aufgeregt habe.
Es bestünde allerdings keine Gefahr für ihn.
"Ich hab' versucht, Sie zu erreichen!" schluchzte Liesel in den Hörer "Aber im Büro haben sie mir gesagt, Sie wären gerade weg, und über das Handy konnte ich Sie nicht erreichen!"
"Na toll." murmelte Letitia unverständlich.
Irgendwie hatte sie das Gefühl, daß ihr das im Augenblick alles ein wenig zuviel wurde.
Sie würde morgen nach Bad Aiblingen fahren und ihren Vater besuchen, es würde ihnen beiden guttun, die sie jetzt noch übrig waren.
Und sie hatte einen Tag weniger bis Montag.
Mit ein paar tröstlichen Worten verabschiedete sie sich von Liesel, schaltete dann ihren Fernseher ein und machte sich in ihrer kleinen Küche eine Tasse Tee.
Essen mochte sie nichts, sie kuschelte sich auf ihre Couch und ließ das Programm an sich vorbeiflimmern während ihr erstens immer wieder durch den Kopf ging daß ihr Bruder tot war und sie zweitens Alexanders Verhalten ihr gegenüber zu analysieren versuchte.
Konnte sie noch hoffen?
Oder war es zu spät?
Warum war sie bloß nicht eher auf den Gedanken gekommen, sich zu entschuldigen?
Irgendwann ging ihr die Frage durch den Kopf, ob sie noch irgend jemanden benachrichtigen mußte, aber es hatte keiner Mario nahegestanden, der es nicht jetzt schon wußte.
Morgen früh, bevor sie fuhr, würde sie eben seine zwei besten Freunde anrufen, 'Spezeln' wie er sie immer genannt hatte, Klaus Benning und Peter Lechleitner.
Alles weitere würde sie dann mit ihrem Vater besprechen, er konnte dann entscheiden, ob er es seinen Bruder, ihren Onkel, auch wissen lassen wollte, der nach einem Familienstreit vor über dreißig Jahren nach Kanada ausgewandert war.
Es war kurz nach 23.00 Uhr als ihr Handy klingelte.
Letitia hatte ein wenig auf der Couch vor sich hingedöst.
Sie wollte nicht ins Bett gehen, hatte Angst davor, die Augen zu schließen und das Bild von Mario auf der schmalen Edelstahlbahre unter dem weißen Laken nicht verdrängen zu können.
Jetzt erstrahlten Display und Tasten ihres kleinen Telefons in Blau, und die leise Melodie ertönte.
Verwundert griff sie zum Apparat, der auf dem Tisch lag.
'1 Anruf unbekannte Nummer' las sie als Anzeige ab, sie drückte den Knopf, der die Verbindung herstellte, meldete sich.
Es erstaunte sie bloß noch mehr als Alexander daraufhin seinen Namen nannte.
"Alles in Ordnung bei dir?" fragte er sie dann sanft.
Hatte er sich Sorgen um sie gemacht?
Im ersten Moment konnte sie gar nicht antworten.
"Kannst du nicht schlafen? Bei dir brennt noch Licht." fuhr Alexander fort als sie nichts sagte.
Sein letzter Satz riß Letitia sofort aus ihrer Lethargie.
Mit einem Mal saß sie kerzengerade auf der Couch.
"Woher weißt du das?"
Sie mußte sich arg zusammennehmen damit es als sacht formulierte Frage und nicht als überraschter Aufschrei herüberkam, ihr Herz machte ein paar schnelle Schläge.
"Ich sitze unten im Auto." erwiderte Alexander ihr einfach.
Letitia schluckte.
Sie wußte, daß sie jetzt sehr gut überlegen mußte, und merkwürdigerweise schien ihr Gehirn plötzlich auf Hochtouren zu arbeiten, ungeachtet dessen, was bei Alexanders Antwort mit 'rübergekommen war und welche herrliche Spekulationen man damit anstellen konnte.
"Warum kommst du nicht einfach hoch?"
Die Worte kamen ruhig, wie selbstverständlich über ihre Lippen, als wäre ihnen dieser Dialog seit Jahrhunderten schon vorbestimmt gewesen, als hätte es gar nicht anders sein können.
'Vielleicht war es auch so!' dachte Letitia während sie mit angehaltenem Atem auf Alexanders Antwort lauschte.
Vielleicht hatte es mit ihnen beiden nie anders laufen sollen als so, wie auch immer es nun ausgehen mochte!
"Okay." sagte Alexander bloß.
Dann legte er auf.
Letitia spürte, wie ihr beinahe das Handy aus der Hand rutschte als sie es auf den Tisch zurücklegte; so sehr zitterten ihre Finger jetzt.
Wärme brannte auf ihren Wangen, ihr Mund schien mit einem Mal ausgetrocknet und sie fühlte ihr Herz ganz unangenehm schnell bis zu ihrem Hals hinauf schlagen.
Letitia sprang von der Couch hoch und hastete zu dem schmalen Spiegel neben der Eingangstür, hatte gerade noch Zeit, einen Blick hinein zu werfen und ihre Haare ein wenig zurechtzustrubbeln, als es klingelte.
Sie holte tief Luft, drückte den Schalter, der unten die Haustür öffnete, mit eiskalten Fingern.
Gleichzeitig zog sie die Wohnungstür auf.
Im Treppenhaus ging das Licht an.
Schritte auf den Steinstufen waren zu hören.
Alexanders Anblick, als er die letzte Treppe hinaufkam und dann die wenigen Schritte über den schmalen Flur in ihre Richtung, beruhigte Letitia kein bißchen, im Gegenteil.
Es machte sie bloß noch nervöser daß er wirkte wie die Ruhe selbst, daß er ihr ihren Zustand wahrscheinlich sofort ansah während sie sich das bloß alles einbildete und es für sein spätes Hiersein einen völlig nüchternen Grund gab.
"Hallo."
Selbst seine Stimme klang ruhig, angenehm wie immer.
"Hallo." erwiderte Letitia und gab die Tür frei.
"Komm' 'rein!"
Alexander trat in den kleinen Flur, der eigentlich sofort in das große, hohe Wohnzimmer überging, sah sich interessiert um während sie die Tür schloß.
"Schön hast du's." meinte er nach einer Weile, sein Blick kehrte zu ihr zurück.
Die Bartstoppeln auf seinen Wangen und seinem Kinn schienen länger und dichter geworden zu sein seit sie ihn vor drei Stunden das letzte Mal gesehen hatte, sein Gesichtsausdruck verriet Müdigkeit.
"Danke."
Letitia wies mit der linken Hand Richtung der Sitzecke im Wohnzimmer.
"Setz' dich! Kann ich dir irgendwas anbieten?"
Sie machte bloß ein paar kleine Schritte zum Wohnzimmer, verfolgte mit den Augen, wie Alexander seine Jacke auszog und sie zusammen mit dem gestreiften Schal, der unter dem Kragen lag, über die Lehne des Sessels legte, der an der Kopfseite des Glastisches stand.
"Ja. Ein Kaffee wäre schön." gab Alexander zurück während er rechts auf der Zweisitzer-Couch Platz nahm.
Dann sah er sie an.
Letitia nickte.
Während sie die Kaffeemaschine fertig machte versuchte sie sich zu beruhigen und gleichzeitig die richtigen Worte zu finden, mit denen sie ihn um Verzeihung bitten konnte.
Ersteres war ihr halbwegs gelungen als sie ganz unvermittelt Schritte auf den Steinkacheln hörte.
Dann tauchte Alexander im Türrahmen auf.
"Hast deinen Vater erreicht?" erkundigte er sich.
Es klang aufrichtig interessiert.
Letitia sah zu ihm hinüber.
Alexander trug eine schwarze, schon leicht verwaschene Jeans und ein ganz dunkel auberginfarbenes Hemd mit einem schwarzen T-Shirt darunter.
Schwarze Schuhe, erstaunlicherweise keine Armbanduhr und das Fehlen eines Ringes an seinen Fingern hatte sie bei der Fahrt zum Krankenhaus schon erleichtert zur Kenntnis genommen.
Was natürlich nichts heißen mußte.
Er sah gut aus wie er jetzt mit verschränkten Armen beinahe lässig am Türrahmen lehnte.
'Laura!' ging es ihr nur kurz durch den Kopf.
Jetzt war er hier.
Bei ihr.
"Nicht direkt." gab sie zurück "Unsere Haushälterin hat mir gesagt, sie haben ihn ins Krankenhaus bringen müssen, er hat sich zu sehr aufgeregt. Ist aber nichts Schlimmes. Ich denke, ich fahre ihn morgen besuchen. Deinen Kaffee mit Zucker und Milch?"
Als sie fragend zu ihm sah stieß sie mit ihren nervösen Fingern die Tasse auf dem Unterteller um, das Klirren klang überlaut in ihren Ohren.
Sie stellte sie wieder hin.
"Mit Milch, ohne Zucker." antwortete Alexander ruhig.
Letitia biß für einen Moment die Zähne fest zusammen.
Es gab sicher einen geeigneteren Ort dafür als hier neben der leise zischenden Maschine, durch die der Kaffee mit sanften Gluckern in die Warmhaltekanne lief.
Aber sie mußte den Kopf frei kriegen für andere Sachen, konnte und wollte ihn nicht länger blockieren mit Sachen, die im Prinzip so einfach und leicht in Ordnung gebracht werden konnten.
"Alexander?"
Sie sah zu ihm hinüber.
Ihre Hand hielt noch immer die Kaffeetasse fest.
"Hm?" fragte er gelassen.
Letitia holte tief Luft, wich seinem Blick nicht aus.
"Es tut mir ganz fürchterlich leid, was ich damals auf dem Schulhof zu dir gesagt habe."
Sie hatte eine große Erleichterung erwartet, jetzt, wo es endlich heraus war, aber statt dessen fühlte sie sich, als würde sie im nächsten Augenblick tot umfallen, mit Herzrasen, eiskalten, zitternden Fingern und hochrotem Gesicht, akuter Atemnot, weil ihr Hals plötzlich wie zugeschnürt war.
Alexander sah sie bloß an.
Er verzog keine Miene.
Es dauerte unendlich lange bis er dann schließlich ganz freundlich, ganz sanft sagte: "Des war net so gut damals."
Letitia spürte, wie ihr ein kleines bißchen schwindelig wurde.
Entweder hielt ihr Körper diesem Übermaß an Adrenalin wirklich nicht mehr lange stand oder es war vor Erleichterung über seine umgängliche Reaktion.
"Es war überhaupt nicht gut." stimmte sie ihm mit einem kleinen Kopfschütteln zu.
Waren die Worte der Entschuldigung noch einigermaßen fest herausgekommen so war das Zittern in ihrer Stimme jetzt unüberhörbar.
Alexander stand nach wie vor reglos an den Türrahmen gelehnt.
"Laß' gut sein, Letti." meinte er jetzt "'st viel Zeit vergangen seit damals."
Sie sagte nichts.
Dazu fiel ihr nichts ein.
Es klang zu bedrohlich, als wäre es ihm nicht so wichtig gewesen wie ihr.
Als wäre es NICHT MEHR wichtig.
Ihre Erleichterung, die sich gerade hatte Bahn brechen wollen, schlug in eine ängstliche Unsicherheit um.
War er doch mehr beruflich hier und nicht so privat, wie sie gehofft hatte?
Im Wohnzimmer klingelte das Telefon.
Letitia warf sofort einen Blick auf die Küchenuhr, die über dem Türrahmen hing.
Es war kurz vor halb zwölf.
Sie erwartete keinen Anruf, und sie hatte auch keine Lust, zu telefonieren, aber sie mußte 'rangehen, es konnte sein, daß irgend etwas mit ihrem Vater war.
"Entschuldige." meinte sie zu Alexander und verließ an ihm vorbei die Küche; er machte ihr bereitwillig und viel zu weit Platz.
Sie griff zu dem Hörer des Funktelefons, das auf dem Sideboard neben der Treppe stand, meldete sich.
Gleichzeitig mit dem Lärm, der ihr vom anderen Ende entgegenklang, laute Musik, hämmernde Beats, bemerkte sie, daß Alexander seinen Platz am Türrahmen aufgegeben hatte und ebenfalls ins Wohnzimmer gekommen war.
Er ging zur Couch, aber sein Blick zu ihr herüber war einen Moment zu lange, eine Spur zu prüfend als daß sie ihn hätte übersehen können.
"Servus Letitia, i bin's, dä Peda! Wir sind alleweil im DOLCE VITA und warten auf den Mario! I hab' ihn den ganzen Abend scho' net erreichen könna! Woaßt du vielleicht, wo er sich 'rumtreibt?"
Letitia schluckte.
Sicher, sie wußte es.
Aber sie hatte nicht die geringste Lust, ihm die schreckliche Nachricht jetzt schon mitzuteilen, Peter war sein Freund und er würde Einzelheiten wissen wollen.
Und sie hatte keine Lust auf ein langes Telefonat.
"Tut mir leid, ich hab' keine Ahnung, Peter." gab sie knapp zurück "Vielleicht verspätet er sich bloß. Du, ich hab' Besuch, ich wünsch' euch viel Spaß, ja?"
"Dank' dir, Letitia, servus." erwiderte Peter am anderen Ende arglos, dann wurde die Verbindung unterbrochen.
Letitia legte auf.
Als sie an Alexander vorbei zur Küche ging wandte er ihr sein Gesicht zu und sah sie an.
Letitia fand, er sah aus, als wäre er über das Telefonat vollstens im Bilde, als wisse er um jedes Wort, daß Peter von sich gegeben hatte.
"Ein Freund von Mario. Sie vermissen ihn in der Disco." meinte sie trotzdem.
In der Küche goß sie den Kaffee, der in der Zwischenzeit durchgelaufen war, in die bereitgestellte Tasse auf dem kleinen Tablett.
Sie stellte aus dem Kühlschrank das Milchkännchen dazu und auf einem Tellerchen ein paar Kekse.
"Warum hast du ihm nicht gesagt, was passiert ist?" interessierte es Alexander als sie das Tablett ins Wohnzimmer balancierte, sah ihr dabei zu.
"Ich hatte keine Lust, so furchtbar lange mit ihm zu telefonieren." erklärte sie ihm und warf ihm einen kurzen Blick zu während sie das Tablett auf dem niedrigen Glastisch zwischen den beiden Couchen abstellte.
"Peter ist sein Freund, er hätte alles wissen wollen und das kann ich ihm morgen dann auch noch erklären. Soll er sich noch einen schönen Abend machen..."
Sie hielt einen Moment inne.
"...Peter war sein Freund." verbesserte sie sich dann leise während sie auf der Couch gegenüber Alexander Platz nahm.
"Peter ...?" wiederholte Alexander, so unzweifelhaft fragend, daß man ihm beinahe schon automatisch den dazugehörigen Nachnamen nannte.
Wurden sie bei der Polizei wohl extra darin ausgebildet?
Besondere Verhörmethoden oder so?
"Peter Lechleitner." antwortete Letitia bereitwillig.
Ein kleines bißchen amüsiert, mehr aber ungläubig beobachtete sie dann, wie Alexander kurz aufstand und der Innentasche seiner Jacke einen kleinen Notizblock samt Kugelschreiber entnahm, den Namen notierte und sie dann fragte, ob sie auch seine Adresse für ihn hatte.
Sie nannte sie ihm während sie die Kälte der Desillusionierung spürte, die sich mit einem Mal ganz schrecklich in ihrem Inneren breit machte.
Eine gute Stunde später hatte Alexander fünf Seiten seines Notizblockes mit den Namen von Marios Freunden und Bekannten vollgeschrieben, an die sie sich erinnern konnte.
Ein paar Adressen standen auch dabei.
Er bat sie auch um Fotos, und während Letitia die Alben heraussuchte, die in ihrem Schlafzimmer in dem kleinen Regal unter dem Fenster standen, schlief er auf ihrer Couch ein.
Letitia betrachtete ihn überrascht als sie nach ungefähr zehn Minuten wieder nach unten kam, drei der Alben in den Armen, mit denen sie neben der Zweisitzer-Couch stehenblieb.
So leise wie möglich legte sie sie auf dem Glastisch ab.
Alexanders Oberkörper war zur linken Seite gesunken, gegen das hohe Kissen der Armlehne.
Sein Kopf ruhte darauf.
Drei seiner Locken waren ihm wieder in Stirn gerutscht, unter anderem auch die mit der feinen grauen Strähne.
Seine Lippen waren ganz leicht geöffnet, sie konnte seine ruhigen, tiefen Atemzüge hören, und sehen am regelmäßigen Heben und Senken seiner Brust.
Es sah unbequem aus.
Sie konnte sich ein zärtliches Lächeln nicht verkneifen.
Ganz leise schlich sie um den Zweisitzer herum und schaltete den Fernseher aus.
Dann nahm sie die Wolldecke von der Rückenlehne der Couch, ließ sie auseinanderfallen und breitete sie so behutsam wie nur irgend mö