Ist es wirklich so interessant, den Alltag von Polizisten für eine Doku-Soap zu verfolgen? Friederike hatte es sich ganz anders vorgestellt ...
Friederike sah ein wenig halbherzig zu wie ihr Kollege Oliver die Justierung der beiden kleinen Kameras vorne im Wagen mit Hilfe seines Laptops vornahm.
Weitaus interessanter fand sie es, die beiden Polizisten zu beobachten, die neben dem Wagen standen.
Joachim Emmerich verfolgte die Aktionen des Kameramannes mit offensichtlichem Interesse während Torsten Nehrmann hingegen seine Blicke immer wieder über die Straße vor der Polizeiwache schweifen ließ, so, als wäre ihm die ganze Sache eher unangenehm.
Zwar kannte sie die beiden aus den zwei Vorgesprächen, die sie für die Sendung miteinander geführt hatten, dennoch fühlte sie sich in ihrer Gegenwart noch immer ein wenig befangen.
Schließlich hatte sie es hier mit echten Polizisten zu tun.
Torsten, der Größere von Beiden, wirkte in seiner schwarzen Lederjacke, die er trotz des warmen Julimorgens trug, ebenso beeindruckend wie die Handschellen und die Waffe, die sich gut sichtbar an Joachims Dienstgürtel befanden.
Friederike war sich ziemlich sicher, nicht so schnell zu vergessen, wie sie die Beiden das erste Mal in Ausübung ihrer Tätigkeit erlebt hatte.
Es war bei ihrem zweiten Vorgespräch gewesen, Bernd Rotum, ihr begleitender Redakteur und sie hatten auf der Wache auf Joachim und Torsten warten müssen, die zu einem Einsatz unterwegs waren.
Eine Weile später waren die beiden mit einem drogenabhängigen Ladendieb erschienen, den sie gefasst hatten, und obwohl sie nur kurz die Prozedur, die den Verhafteten über den Flur in das Dienstzimmer befördert hatte, mitbekamen, fühlte Friederike sich bereits schwer beeindruckt von der autoritativen Art und Weise, auf die Torsten den schnodderigen kaugummikauenden Jugendlichen behandelte.n
Der Junge hatte zwar keine direkte Gegenwehr geleistet, doch seine Bewegungen waren trotz der Handschellen störrisch gewesen, Joachim und Torsten hatten einige Mühe gehabt, ihn über den Flur in das entsprechende Büro zu bugsieren.
Doch sie waren unnachgiebig gewesen und erfolgreich.
Dann hatte sich die Tür geschlossen und war ihnen das Geschehen dahinter auch weitgehend verborgen geblieben, Torsten Nehrmanns laute strenge Stimme hatte sich als unüberhörbar erwiesen und ebenso der zeitweise, wenn auch bloß ganz sachte Anklang von Sarkasmus darin.
Joachim, so hatte sie den Eindruck bekommen, war der etwas Lockerere der Beiden, doch durfte man bei ihm nicht den Fehler machen und diese Zugewandtheit als mangelnde Autorität auslegen.
Es war ein eher kleines Polizeirevier hier in Rheinsberg.
Das angerundete Eckhaus stand mit der Front an einer viel befahrenden Hautpstraße während sich an der Rückseite ein kleiner Park erstreckte.
Links neben dem Gebäude lag der Parkplatz für die Dienstfahrzeuge und daneben, noch einmal ein wenig abgegrenzt, der Parkplatz für weitere Dienstfahrzeuge und die Autos der Besucher der Dienststelle.
Erst heute Morgen, bei ihrem mittlerweile dritten Besuch hier, war Friederike auf die schmale Einfahrt aufmerksam geworden, die von dem Zusatzparkplatz hinab offensichtlich in eine unterirdisch gelege Parkebene führt und sie vermutete, dass die Beamten dort ihre Privatfahrzeuge abstellten, auch wenn sie bisher kein einzige Mal ein Auto hatte hinunterfahren oder hinauskommen sehen.
Jetzt hörte sie wie aus dem Funkgerät, das Torsten Nehrmann in der linken Brusttasche seiner Jacke trug, eine unverständliche Meldung kam.
Als sie zu ihm herüber sah beugte er sich, während er sich meldete, leicht zu dem Gerät herunter und wandte sich ab.
Warum sie wohl noch die grün-beigenen Uniformen trugen nachdem so viel Werbung für die neuen blauen Polizeiuniformen gemacht worden war? ging es ihr ganz unvermittelt durch den Kopf.
Sie konnte eine leise undeutliche Stimme von dem Funkgerät hören, übertönt von einem starken Rauschen.
'Und dabei stehen wir hier direkt vor der Leitstelle!' dachte sie, nicht ganz ernst gemeint, und musste ein kleines bisschen schmunzeln dabei.
Doch Dank der kleinen Mikrofone, die die beiden Polizeibeamten an ihren bambusfarbenen Hemden trugen, bekam sie die Antwort glasklar mit, auch wenn Torsten etwas entfernt vom Wagen stehen geblieben war.
“Ja, zwölffünfunddreißig, haben verstanden! Wir kümmern uns darum! Melden uns mit dem Sachverhalt sobald wir vor Ort sind und fahren jetzt los!”
Er drehte an dem Knopf an seinem Funkgerät und kam dabei wieder zum Wagen zurück, meinte dann auffordernd in Olivers Richtung: “Wir haben einen Einsatz, wir müssen los!” während Joachim ihn fragend ansah.
“Was denn?”
“Ein paar … “ Torsten schluckte “... Obdachlose am Marktkauf … “
Friederike hatte den Eindruck, dass er zuerst ein ganz anderes Wort hatte benutzen wollen.
“ … der Filialleiter hat angerufen weil Alkohol im Spiel ist, ein paar Kunden haben sich beschwert. Ist auch nicht ganz so schön weil der Kindergarten da direkt in der
Nähe ist, det muss morgens um kurz nach acht in der Öffentlichkeit nicht sein! Eventuell soll et da auch so was wie eine Schlägerei gegeben haben!”
Sein rheinischer Einschlag war unüberhörbar.
“Hm, Marktkauf.” meinte Joachim und kam langsam um den vorderen Teil des Wagens herum.
“Das hat den Vorteil, dass wir zur Not zum Einsatzort laufen können falls er da drinnen nicht bald fertig wird!”
Joachim sprach normales Hochdeutsch.
Er schien nicht hier im Rheinland geboren zu sein.
Während er das sagte sah er seinen Kollegen an, er war etwas kleiner als Torsten, und
er machte dabei eine kleine rasche Kopfbewegung in Olivers Richtung.
Dann steckte er seinen Kopf kurz in das Innere des VW-Bullys.
“Wir müssen los! Wir haben einen Einsatz!”
“Kein Problem! Kann sofort losgehen!” erwiderte Oliver.
Joachim hatte sich umgewandt und reichte Torsten nun einen Wagenschlüssel.
“Hier! Du bist dran!”
“Wieso bin ich heute dran?” fragte Torsten.
Es klang ehrlich verdutzt.
“Weil ich gestern gefahren bin!” gab Joachim zurück und es schien so selbstverständlich für ihn zu sein, dass er nicht einmal mehr abwartend zu seinem Kollegen sah sondern schon gleich die wenigen Schritte zur Beifahrertür machte.
'Na super, das fängt ja schon gut an wenn sie sich gleich ums Fahren streiten!' dachte Friederike bei sich.
“Alles okay!” rief Oliver jetzt und blieb gleich im Bully sitzen wo er war, sah sich dabei mit einem Gesichtsausdruck um, der besagte, dass es von ihm aus nun losgehen konnte.
Torsten ging widerspruchslos vorne um den Wagen herum zur Fahrerseite und Friederike stieg gehorsam in das Innere des Bullys nachdem sie Joachims auffordernden Blick aufgefangen hatte, als er sich an der Beifahrerseite noch mal zu ihr umwandte.
Sie setzte sich ganz außen rechts auf die mit drei Plätzen durchgehende Sitzbank während die Bank vor ihr, auf der Oliver saß, seinen Laptop mehr schlecht als recht vor sich auf dem Kamerakoffer abgestellt, aus zwei Plätzen bestand.
Joachim schloss die Schiebetür des Wagens hinter ihr und nahm dann vorne auf dem Beifahrersitz Platz.
Friederike hatte eben gerade ihre Hand zum Sicherheitsgurt ausgestreckt, der VW rollte noch auf dem kleinen Parkplatz als Torstens dunkle Stimme streng durch den Wagen klang: “He, anschnallen Leute!”
Als sie daraufhin indigniert nach vorne sah traf sie den Blick seiner dunklen Augen im Rückspiegel.
Auch Oliver war im Begriff gewesen, den Gurt anzulegen.
Er führte die Bewegung gemächlich, unbeeindruckt, zu Ende aus.
Joachim hatte sich angeschnallt nachdem er die Beifahrertür hinter sich zugezogen hatte, und der Einzige, der momentan ohne befestigten Gurt im Wagen saß, war Torsten Nehrmann, und er machte auch keine offensichtlichen Anstalten, dies zu ändern.
Verärgert über seine zuvorkommende Ermahnung hatte Friederike die Frage auf der Zunge, ob die Gurtpflicht für Polizeibeamte im Streifenwagen grundsätzlich nicht bestand.
Doch in dieser eher noch sensiblen Schnupper-Phase des Kennenlernens traute sie sich nicht wirklich, sie zu stellen.
Statt dessen schob sie die Gurtschnalle, etwas heftiger als nötig, ins Schloss, und sah dann demonstrativ aus dem Seitenfenster.
Die Fahrt ging über die Hauptstraße weg von der Wache, unter einer Bahnunterführung her, und dann lag halblinks auch schon der Supermarkt mit einem großen Parkplatz davor.
Um diese frühe Uhrzeit standen nur wenige Autos dort und so fielen die drei verwahrlost aussehenden Männer, die auf dem niedrigen Mäuerchen bei den Einkaufswagen saßen, auch sofort auf.
Friederike empfand es als eine recht demonstrative Geste, dass Torsten den Wagen direkt vor ihnen stoppte.
Er schaltete den Motor ab.
Joachim öffnete seine Tür und stieg als Erster aus, grüßte kurz höflich in die Richtung der Männer.
Oliver hatte die Kamera schon auf der Schulter, Friederike ließ ihm beim Aussteigen den Vortritt damit er die Situation von Anfang an würde filmen können.
Als sie dann dazu trat war Joachim direkt vor den Dreien stehen geblieben, Torsten hielt einen kleinen Abstand zu ihnen ein und sprach leise in sein Funkgerät.
Die Männer sahen ziemlich abgerissen aus, schmuddelig und unrasiert.
Unzählige Zigarettenkippen lagen zu ihren Füßen, zwischen offenen Plastiktüten, die ungeniert den Blick frei gaben auf ihren alkoholischen Inhalt der verschiedensten Sorten.
Einige leere Bierflaschen und Weinkartons waren rundherum verteilt.
“Ej, ick will hier nich' jefilmt werden, det is' mein Recht als Bürjer!” krakeelte einer der Männer mit einer Kippe im zahnlosen Mund als er Oliver mit der Kamera sah.
“Für die Ausstrahlung machen wir Ihr Gesicht unkenntlich wenn Sie nicht erkannt werden möchten!” leierte Oliver leidenschaftslos herunter während er mit der Kamera voll drauf hielt.
“Na da bitt' ick aber drum!” gab der Mann zurück und stieß seinen Nachbarn zur Linken an, der gerade einen langen Schluck aus einem Weinkarton nahm.
“Ej, wat is' mit Dir?”
Friederike fing einen kurzen Blick von Joachim auf bevor dieser dann seine abwartende Haltung aufgab und sich an die Männer wandte.
“Wenn wir die Formalitäten dann 'mal außer acht lassen … das hier ist ein bisschen ein schlechter Platz um am frühen Morgen in aller Öffentlichkeit schon sein Bierchen zu trinken! Außerdem hat uns der Filialleiter angerufen und eine Schlägerei gemeldet!”
Der Mann, der so außerordentlich auf seine Bürgerrechte bedacht war, sah sich daraufhin erstaunt nach beiden Seiten um bevor er seinen Blick wieder auf Joachim richtete.
“ ' ne Schläjerei? Hier?”
“Ja. Ist uns gemeldet worden.” bestätigte ihm Joachim.
Friederike bewunderte ihn schon jetzt für seine Geduld.
Torsten war ein paar Schritte auf und ab gegangen und hatte, wie es schien, die Gegend inspiziert.
Der silberne Stern auf den Schulterklappen seiner Jacke war dienstgradmäßig offensichtlich höher anzusetzen als die drei grünen Sterne auf den Schulterklappen von Joachims kurzärmeligem Hemd.
Deswegen konnte er es sich wahrscheinlich leisten, nun in kurzer Entfernung einfach dabei zu stehen und die ganze Sache zu beobachten bzw. seinen Kollegen machen zu lassen.
Der Mann mit dem Weinkarton stieß seinen Nachbarn an wie um ihn zu erinnern.
“Der meint sicher die Beiden, die hier vorbei gekommen sind und das Bier mitnehmen wollten.” meinte er schwerfällig, richtete seinen Blick dann auf Joachim während er mit zittriger Hand den Weg entlang nach rechts wies.
“Da waren gerade so zwei Penner, Herr Wachtmeister, die wollten unser Bier mitnehmen! Aber wir haben das unter uns geregelt, war vielleicht ein kleines Handgemenge. Sie müssen wissen, Herr Wachtmeister … “
Er ließ seine rechte Hand schwer auf die Schulter seines Nachbarn sinken.
“ … Heinz hier war früher 'mal Boxer! Mittelhalbschwergewicht oder wie das heißt! Heinz, erzähl' dem Wachtmeister 'mal, gegen wen Du früher alles gekämpft hast!”
“Ist schon okay.” Joachim hob abwehrend die Hände.
“Müssen wir jetzt damit rechnen, dass hier irgendwo jemand mit einer gebrochenen Nase durch die Gegend läuft oder ist das Ganze noch eher glimpflich abgegangen?”
Friederike biss sich auf die Unterlippe weil sie lachen musste, die ganze Situation aber eigentlich gar nicht zum Lachen empfand.
“Hab' ihm eins auf die Nase gegenben, ja!” stimmte Heinz zu und nahm einen langen Schluck aus seiner Bierflasche.
Joachim tauschte einen fragenden Blick mit Torsten.
Friederike vermochte in dessen Gesicht nicht zu lesen als der jetzt mit wenigen Schritten näher kam und schräg vor den drei Männern stehen blieb.
“Ich hab' ja persönlich nichts gegen ein gemütliches Zusammensein wenn man sich etwas zu erzählen hat, aber der Platz hier ist ein bisschen unglücklich gewählt!” ergriff er dann das Wort.
“Es ist noch nicht einmal halb neun morgens, hier kommen Schulkinder vorbei … “
er machte eine rasche Kopfbewegung nach links.
“ … und da hinten ist ein Kindergarten. Dat muss doch nicht sein, dat die kleinen Kinder in aller Herrgottsfrühe die Erwachsenen hier sitzen sehen mit alkoholischen Getränken. Deswegen möchte ich alle Beteiligten jetzt bitten, die Sachen zusammen zu packen und sich einen anderen Ort zu suchen weil wir jetzt hier ein Platzverbot aussprechen … “
Friederike bewunderte seine Rhetorik, doch seine Körpersprache irritierte sie.
Seine beiden Hände befanden sich in seinen Hosentaschen, er hatte den Oberkörper leicht vorgebeugt und vermittelte so alles andere als die Autorität, die aus seinen Worten sprach.
Joachim hingegen stand ganz locker, aufrecht vor den Männern und ergänzte jetzt: “... vielleicht im Park!” und machte dabei eine rasche Kopfbewegung nach schräg links hinter sich.
“Da stehen ein paar Bäume, da ist es schön schattig wenn es gegen Mittag warm wird … “
“Wird jemacht, Herr Wachtmeister!” gab Heinz sofort übereifrig zurück und stieß seinen Nachbarn zur Linken wieder an.
“Los, pack' zusammen! Du hast doch gehört, wat der Wachtmeister jesagt hat!”
“Wir kommen dann nachher noch 'mal hier vorbei und machen eine Runde oder auch zwei!” kündigte Joachim an, eine freundliche indirekte Mahnung, der Aufforderung seine Kollegen doch besser Folge zu leisten.
“Einen schönen Tag dann!” fügte er noch hinzu während er sich schon halb abwandte.
“Danke, det wünschen wir Ihnen ooch!” berlinerte Heinz hinterher.
Joachim blieb vorne am Polizeifahrzeug stehen und wechselte ein paar leise Worte mit Torsten, der ihm gefolgt war.
Oliver schaltete die Kamera aus und stieg wieder in den Bully, Friederike wandte sich noch einmal kurz um und sah zu den Männern, die in der Zwischenzeit begonnen hatten, ihre Habseligkeiten umständlich zusammen zu packen.
Sie kletterte ebenfalls wieder in den Wagen.
Auch Joachim und Torsten stigen jetzt ein, Torsten startete den Motor während Joachim zum Funkgerät griff und eine Meldung an die Leitstelle machte.
Friederike schnallte sich rasch an um nicht noch einmal eine Gelegenheit zu provozieren.
Erst dann griff sie zu ihrer Schreibmappe um sich ein paar Notizen zu machen.
Sie fühlte sich ein bisschen verwirrt über die Banalität dieses Einsatzes, aber auch gleichzeitig schwer beeindruckt von der Ruhe und Gelassenheit, mit denen vor allen Dingen Joachim diesen an sich doch etwas sensiblen Fall gelöst hatte.
Als sie aufsah konnte sie eben noch dessen Hand nach links zeigen sehen.
“Nein, was macht der denn da?”
Seine Stimme, die Friederike bisher immer bloss als sehr ruhig wahrgenommen hatte, klang mit einem Mal fassungslos-alarmiert, etwas, das sie sofort von ihrer Schreibarbeit gründlich ablenkte.
“Hinterher!”
Er hörte sich an, als wäre soeben unter seinen Augen eine sofort zu ahnende Ordnungswidrigkeit, wenn nicht Schlimmeres, begangen worden.
Friederike konnte nur einen Moment später durch die große Frontscheibe einen dunkelblauen PKW vor ihnen sehen, Joachim griff zu dem Mikrofon für den Außenlautsprecher und forderte den Fahrer auf, rechts heranzufahren und stehen zu bleiben während er mit der Kelle aus dem Fenster winkte.
Der Angesprochene schien sich daraufhin dermaßen zu erschrecken, dass er das `Rechts-Heranfahren`komplett ignorierte und lieber gleich mit einem scharfen Ruck mitten auf der Straße anhielt, so dass Torsten eine Vollbremsung machen musste und einen Fluch unterdrückte.
Joachim forderte den Fahrzeugführer noch einmal auf, sein Fahrzeug rechts am Straßenrand anzuhalten, günstigerweise vor der Garageneinfahrt in ein paar Meter Entfernung.
Sie alle konnten dann beobachten, wie der Fahrer danach sein Auto mit ein paar ruckenden Bewegungen wieder in Fahrt brachte und es zügig die Straße hinabrollen ließ, wohl nicht mehr im Geringsten daran zu denken schien, es anzuhalten.
“Nein, was macht der denn?” klagte Joachim nochmal.
“Wenn der jetzt nicht gleich anhält schießt Du auf die Reifen, okay?” meinte Torsten und hörte sich ziemlich ernst an.
“Ich kann ihm auch die Kelle in die Scheibe schmeißen!” schlug Joachim vor.
In der Zwischenzeit hatte der PKW-Fahrer eine Parkmöglichkeit entdeckt, die ihm offensichtlich mehr zusagte.
Dort stoppte er allerdings halb auf dem Bürgersteig.
“Ob der überhaupt einen Führerschein hat?” meinte Torsten mit einem eher zweifelnden Unterton in der Stimme während er das Polizeifahrzeug zum Stehen brachte und den Motor abstellte.
“Bin gespannt, was er uns erzählt, falls er keinen hat!” erwiderte Joachim und öffnete die Beifahrertür.
In diesem Moment stieg eine verschreckt aussehnde, blonde junge Frau aus dem Auto und Friederike konnte sehen, wie Torsten und Joachim beim Aussteigen einen langen bedeutungsvollen Männerblick miteinander tauschten.
Dann wandte Joachim sich der Missetäterin zu.
Friederike ließ Oliver erneut den Vortritt und gesellte sich dann zu dem Grüppchen, das sich am Heck des Personenwagens versammelt hatte.
Sie schätzte die Fahrerin auf noch nicht so lange im Besitz ihres Führerscheins, den Joachim samt Fahrzeugschein und Personalausweis gerade in der Hand hielt und kontrollierte, während die Eigentümerin sich nach dem ersten Schreck nun ganz offensichtlich in der Aufmerksamkeit der männlichen Anwesenden zu sonnen begann und den Ausschnitt ihres kurzen Tops dazu noch ein wenig zurecht zupfte.
Wahrscheinlich würde es ihr auch nichts ausmachen, bei der Ausstrahlung im Fernsehen zu erscheinen ohne unkenntlich gemacht worden zu sein.
“Dies ist eine Einbahnstraße, in die Sie verkehrswidrig eingeboten sind!” belehrte Torsten sie unterdessen.
“Da vorne ist das entsprechende Schild, dessen Bedeutung Sie im Verkehrsunterricht mit Sicherheit gelernt haben!”
Friederike bewunderte seine Rhetorik erneut.
Torsten wies unterdessen zu dem Verkehrsschild am Anfang der Straße.
Die Fahrerin wandte ihre Aufmerksamkeit, die sie bisher zwischen Kamera und Joachim geteilt hatte, ganz kurz in die angegebene Richtung.
“Hab' ich nicht gesehen!”
Sie legte in ihre Stimme eine kleinmädchenhafte Mischung aus Unschuld und Zerknirschtheit, schenkte Torsten einen mitleidsheischenden Augenaufschlag.
Friederike fand ihr Verhalten so naiv und albern, dass sie für einen Moment die Zähne zusammenbeißen und sich abwenden musste.
Sie warf einen kurzen Blick in das Innere des Autos der jungen Frau und konnte sich ein amüsiertes Grinsen nicht verkneifen als sie dort an die sieben oder acht Duftbäume vom Rückspiegel herunterbaumeln sah.
“Haben Sie vor Antritt der Fahrt alkoholische Getränke zu sich genommen?” hörte sie Torsten jetzt weiter fragen.
“Nein.”
“Ich verwarne Sie mit einem Bußgeld von fünfundzwanzig Euro!” meinte Joachim jetzt ungerührt, der keinen Augenaufschlag erhalten hatte.
“Fünfundzwanzig Euro?” wiederholte das blonde Mädel erschrocken und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
“Sie können das Bußgeld gleich hier an Ort und Stelle bezahlen oder ich stelle einen Bescheid für die Bußgeldstelle aus, die sich dann bei Ihnen melden wird!” fuhr Joachim ungerührt fort.
“Außerdem wird `Fahren-entgegen-der-Verkehrsrichtung`mit Punkten geahndet!”
“Punkten?” wiederholte die Fahrerin.
Der erschrockene Blick ihrer blauen Augen klebte nach wie vor an Joachim, der allerdings nicht aufsah weil er ihre Personalien von ihrem Personalausweis auf seinen Block übertrug.
Friederike hatte den Eindruck, dass sie weitaus mehr darüber erschrocken war, hier nicht auf ihr wohl sonst so gewohntes Maß an männlichen Mitleids zu treffen als über die Aussicht, Punkte in Flensburg zu bekommen.
“Ja, richtig.” stimmte Torsten ihr unterdessen zu.
Seine Stimme hatte einen leicht ungeduldigen, ungerührten Klang.
“Dat is' grob verkehrswidriges Verhalten!”
Friederike konnte sich nicht erinnern, dass Oliver in der ganzen Zeit, in der sie nun bereits hier standen, das Kameraobjektiv auch bloss ein einziges Mal von der Blondine auf einen der Beamten gerichtet hatte.
“Ja … ja, muss dann ja wohl.” meinte die Fahrerin dann nach einem weiteren langen Moment des -vergeblichen- Wartens auf männliches Mitleid.
Mit ihren künstlich verlängerten Fingernägeln nestelte sie an ihrer rosafarbenen Burberry-Geldbörse, die sie in den Händen hielt.
“Ehm … wie? Ich kann das dann gleich hier bei Ihnen bezahlen?”
“Sie können das gleich bezahlen oder entsprechend dem Bußgeldbescheid reagieren wenn er Ihnen zugestellt wird!” entgegnete Joachim und gab ihr ihre Papiere zurück.
“Dann bezahl' ich das sofort!”
Sie reichte ihm das Geld und Joachim stellte ihr eine Quittung aus.
“Muss ich nicht auch noch blasen?” fragte sie dann in die Runde während sie das kleine Blatt Papier in ihre Geldbörde friemelte, und es klang beinahe ein wenig eingeschüchtert.
Friederike konnte sich nicht erklären, warum sie in diesem Moment ausgerechnet zu Joachim sah.
Sie hatte das Gefühl, dass dieser sich daraufhin für einen Augenblick die größte Mühe gegen musste um sich zu beherrschen.
“Pusten heißt das!” korrigierte Torsten sie währenddessen ganz trocken und jetzt musste Friederike sich abwenden, mit der Hand über dem Mund, um nicht doch noch laut herauszuplatzen.
Auf dem Weg zurück zum Auto nach der Verabschiedung fand sie insgeheim, dass der Abschiedsgruss von Joachim und Torsten ' Einen schönen Tag noch!' in diesem Fall ein wenig ironisch gewirkt hatte.
Sie fragte sich, ob die Beamten wohl dazu angehalten waren, dies den Bürgern zu sagen, mit denen sie zu tun hatten.
“Wir haben vergessen, ihr eine Frage zu stellen!” meinte Joachim zu Torsten nachdem sie wieder eingestiegen waren.
Torsten hatte seine Jacke ausgezogen und zu ihnen hinten auf den Sitz gelegt.
Jetzt sah er fragend zu Joachim herüber nachdem er die Fahrertür hinter sich geschlossen hatte.
“Was denn?”
“Ob sie einen Freund hat!”
Oliver lachte.
Friederike verging ein kleines amüsiertes Grinsen als sie Torstens bitterbösen Blick hinüber zu Joachim sah.
Schon beim ersten Gespräch hatte sie den unauffälligen Ehering am rechten Ringfinger von Torsten Nehrmann gesehen, und so verstand sie seine Reaktion jetzt überhaupt nicht.
“Ähm … vielleicht könnt ihr mir dann ihre Adresse zukommen lassen?” setzte Oliver jetzt noch einen drauf.
Friederike biss die Zähne zusammen und sah demonstrativ aus dem Fenster.
Fast im gleichen Moment kam ein Ruf über Funk, über Familienstreitigkeiten in der Pötterstraße.
“Wir sind schon auf dem Weg!” beantwortete Joachim den Funkruf während Friederike nun das zu sehen bekam, worauf sie die ganze Zeit gewartet hatte,
nämlich, dass Torsten Nehrmann sich anschnallte.
Dann jagte er den Wagen, ihrer Meinung nach so gerade noch am Limit, das das Fahren ohne Blaulicht und Sirene erlaubte, Richtung der angegebenen Adresse.
Es schien eine nicht ganz so feine Gegend der Stadt zu sein.
Zwei Streifenwagen standen bereits vor dem lang gezogenen, hohen Wohnblock, der umgeben wurde von einer ungepflegten Grünanlage, mit dünnen Bäumchen, kränklich aussehnden Büschen und ungesund wirkendem Gras.
Joachim stieß die Tür auf und rutschte eilig vom Sitz, riss die hintere Tür auf und griff sich seine Jacke von der Rückbank bevor er Richtung des Hauses lief.
Torsten kam hastig um den Wagen herum, riss ebenfalls seine Jacke von der Rückbank.
“Macht ihr die Tür zu!” rief er dabei knapp in Olivers Richtung bevor er rasch den schmalen asphaltierten Weg zum Hauseingang hinauflief.
Friederike sah beim Aussteigen, wie er dabei mehrere Versuchte brauchte, seine Jacke überzustreifen weil er beim Rennen Schwierigkeiten hatte, das Ärmelloch zu treffen.
Sie zog die Schiebetür des Bully hinter sich zu und hoffte, dass sie richtig geschlossen sein würde weil sie sehr ungern dafür verantwortlich sein wollte, wenn der Einsatzwagen geklaut wurde.
Dann lief sie hinter Oliver zum Haus hoch.
Die ganze angespannte Eile hatte ihren Herzschlag ohnehin beschleunigtund als sie den Hauseingang erreichte war sie direkt atemlos, sportliche Aktivitäten waren nicht unbedingt ihr Zeitvertreib.
Gerade eben sah sie Oliver in der offenen Haustür verschwinden.
Friederike registrierte im Vorbeilaufen die gesplitterte, notdürftig geklebte und vor Dreck halb blinde Scheibe der Tür.
Einige Männer standen hier unten in dem halbdunklen schmutzigen Hausflur während von oben schwere hastige Schritte herunterhalten.
Es roch muffig nach Müll, abgestandenem Essen und kaltem Zigarettenrauch.
Von oben konnte Friederike Torsten Nehrmanns Stimme vernehmen:
“Wartet, bleibt erstmal zusammen!”
Was damit gemeint war, wusste sie zwar nicht, aber die ganz unterschwellig darin mitklingende Anspannung ließ sie ahnen, dass das hier kein Routineeinsatz war.
Eine andere Stimme, die sie nicht kannte, sagte etwas, das sie nicht verstand.
Sie beeilte sich, die Treppe hinauf zu kommen.
Festes Klopfen gegen eine Wohnungstür war zu hören, die Worte “Aufmachen, Polizei!”, gerufen von einer Stimme, die weder Torsten noch Joachim gehört, und deren Unterton ebenfalls eine hohe Anspannung verriet, genau so wie die rasche Wiederholung der Worte und dem erneuten, heftigen Klopfen.
Das ganze Szenario spielte sich im dritten Stock ab.
Auf der vorletzten Treppe dorthin konnte Friederike Torsten oben auf der letzten Stufe stehen sehen, “Ruhig! Hört erstmal!” sagte er gerade und dann erklang das Geräusch eines sich im Schloss drehenden Schlüssels, eine Tür wurde geöffnet.
Sie bog rechtzeitig um die Ecke des Treppenabsatzes um zu sehen, wie vier Polizeibeamte sich in eine Wohnung drängten, Joachim, der mit dem Funkgerät in der Hand rechts neben der Wohnungstür gestanden hatte, machte ein paar Schritte hinterher und blieb im Türrahmen stehen.
Torsten stand nach wie vor auf der vorletzten Stufe und machte sich so breit, dass niemand an ihm vorbei kam.
Oliver hing rechts von ihm halb über dem Treppengeländer und filmte, wie die Beamten die Wohnung betraten.
Friederike blieb notgedrungen auf der zweiten Stufe der Treppe stehen und starrte hinauf zu Torstens Hinterkopf mit den kurzen dunkeln Locken, dann auf seinen breiten Rücken in der Lederjacke, an der irgend etwas nicht ins Bild passte, so wie sie es hier vor sich sah, ohne dass sie jedoch sagen konnte, was es war.
Sie nahm das auch bloß unterschwellig wahr, denn überwiegte im ersten Moment im ersten Moment der Ärger darüber, dass er hier den ganzen Weg einnahm und Oliver so am Filmen hinderte, so verstand sie ein paar Augenblicke später, dass er sich absichtlich so vor ihnen aufgebaut hatte um sie am Weitergehen zu hindern solange er nicht wusste, wie unübersichtlich, sprich gefährlich die ganze Situation war.
Seine Fürsorge rührte sie, auch wenn sicher nichts anderes dahinter steckte als die Order seines Vorgesetzten, dafür zu sorgen, dass die Fernsehleute sich nicht zu weit vorwagten.
Im wahrsten Sinne des Wortes.
Sie wollte das nicht, schließlich hatte er hier genug um die Ohren und außerdem war das Wort ausgegeben worden, das Fernsehteam würde im Hintergrund bleiben und sollte keinesfalls zur Belastung für die Beamten werden.
Um ihren Gehorsam zu demonstrieren machte sie ein paar Schritte zurück und blieb auf dem Treppenabsatz in der Ecke stehen.
Oben kam ein Beamter aus der Wohnung und ging zu Torsten.
Er war sehr gross, massig und die Schulterklappen auf seinem Lederblouson zeigten zwei grüne Sterne.
Friederike bekam nur Bruchstücke von seinem Bericht mit, es ging wohl um Geldstreitigkeiten innerhalb der Familie.
Während er noch erzählte öffnete sich im darunter liegenden Stockwerk eine Wohnungstür und ein Mann in Jogginghose und fleckigem Unterhemd erschien schlurfend am Treppengeländer.
“Hoffentlich ist bald Ruhe da oben!” schimpfte er hinauf.
“Verdammt Sippschaft, kann man hier nicht mal in Ruhe pennen? Hier wohnen wohl nur Vollidioten!”
Friede konnte gar nicht so schnell gucken wie Torsten daraufhin auf der Treppe herumfuhr und die Stufen hinab lief.
Unwillkürlich drückte sie sich ein wenig in die Ecke als er an ihr vorbei kam.
Torsten Nehrmann blieb etwa auf der Mitte der vorletzten Treppe stehen und seine Stimme klang zwar ruhig, aber doch schon mahnend als er sagte: “Guter Mann, hier läuft ein Polizeieinsatz! Hier brauchen Bürger unsere Hilfe! Da tut es schon mal Not, dass es etwas lauter wird! Gehen Sie doch einfach wieder in Ihre Wohnung zurück!”
Er machte einen entsprechenden Fingerzeig zu der hinter dem Mann offen stehenden Wohnungstür.
Friederike reckte ein wenig den Hals.
Hatte der Mann bei Torstens so plötzlichem Erscheinen auf der Treppe im ersten Moment noch ein wenig verwundert geguckt, so erholte er sich doch recht schnell wieder von seiner Überraschung.
“Was soll das heißen? Ich wohne hier und als freier Bürger und Mieter dieses Hauses kann ich mich aufhalten, wo ich will!”
Er versuchte, über das Treppengeländer einen Blick nach oben zu werfen um etwas von dem Geschehen mitzubekommen.
“Hier läuft ein Polizeieinsatz!” meinte Torsten jetzt noch einmal zu ihm und ging auf der Treppe noch zwei Stufen weiter nach unten.
Er sagte dies um einiges lauter und unüberhörbar drohend, Friederike, in sicherer Entfernung, verspürte ein gelindes Unbehagen.
Sie konnte Auseinandersetzungen ohnehin nicht gut haben!
“Gehen Sie am Besten in Ihre Wohnung wenn Sie sich nicht gefährden wollen! Es gibt da oben nichts zu sehen!”
Offenbar sprang der Mann sofort auf den Ton in seiner Stimme an.
Er war vielleicht Mitte Vierzig, wirkte ungepflegt und balancierte die ganze Zeit über eine Kippe im Mundwinkel.
Die nahm er jetzt heraus während er zwei eilige, jedoch empört wirkende Schritte in seinen ausgelatschten Pantoffeln nach hinten machte, Torsten Nehrmann dabei jedoch aufmüpfig ansah.
“Ey, was soll das denn jetzt? Ich hab ganz höflich gefragt was hier los ist!” beschwerte er sich.
“Na ob das höflich war oder nicht lasen wir jetzt mal dahin gestellt!” gab der Polizeibeamte zurück und ging auf der Treppe so weit nach unten bis er auf der letzten Stufe stand.
Friederike hatte das instinktive Empfinden, dass er den schlechteren Weg gewählt hatte um mit dem Mann umzugehen, dass er offensichtlich rein gar nichts davon hielt, ihn runter zu bringen sondern lieber noch einen drauf gab.
Natürlich wusste sie, dass sie sich kein Urteil darüber erlauben durfte, aber sie hatte das Gefühl, dass es besser gewesen wäre, das Gespräch zu beruhigen, und Torstens vielleicht auch bloß unbewusste Präsentation seiner Überlegenheit, indem er eine Stufenhöhe vor dem Mann stehen blieb obwohl er ohnehin schon größer war, noch dazu mit an die Hüften gestemmten Händen unter der Jacke, empfand sie ebenfalls als ein wenig ungeschickt.
“Aber ich sag’ Ihnen jetzt ganz höflich, dass Sie in Ihre Wohnung gehen sollen! Was hier geschieht, betrifft Sie nicht und wenn Sie nicht gleich verschwinden dann können Sie so lange im Polizeiauto sitzen bis hier alles vorbei ist!”
Friederike machte ein paar behutsame Schritte an der Wand entlang um doch noch etwas besser sehen zu können.
Aus dem Augenwinkel erkannte sie, dass Oliver, statt oben zu filmen, die Kamera in der Zwischenzeit auf die Auseinandersetzung hier unten gerichtet hatte.
Insgesamt fand auch sie das interessanter, was hier geschah.
“Ich hab` bloß ganz höflich gefragt, was hier los ist!” versuchte der Mann sich jetzt mit unschuldig ausgebreiteten Händen zu verteidigen statt einfach der wiederholten Anweisung zu folgen.
“Ich wohne hier und da wird man doch wohl mal gucken dürfen, was der Krach im Flur zu bedeuten hat! Es hätte ja sonst was sein können! Das ist meine Pflicht als Mieter! Ich … “
“Ihre Pflicht ist es, jetzt in Ihre Wohnung zu gehen und die Tür hinter sich zu zu machen!” unterbrach Torsten ihn harsch.
Seine Stimme war jetzt lauter und verärgert, und wieder wies sein Zeigefinger in Richtung der offen stehenden Wohnungstür.
“Ich sage Ihnen das jetzt zum letzten Mal sonst verbringen Sie mal ein paar Stunden in Polizeigewahrsam!”
Bei seinen letzten Worten tauchte jetzt in der Wohnungstür eine Frau in Leggings und weitem verwaschenem T-Shirt auf, mit einem Baby, das sie so ungelenk zwischen linken Arm und Körper trug, dass man jeden Moment befürchtete, es rutsche herunter und fiele zu Boden.
Sie kam jetzt auf den Flur und packte den Mann mit der freien rechten Hand, machte Anstalten, ihn in die Wohnung zurück zu ziehen, wobei sie beschwichtigend in Torstens Richtung meinte: “Ist schon gut, ich nehme ihn jetzt mit ‘rein! Ist schon gut!”
“Ja, ist auch besser, nehmen Sie ihn beiseite!” Torstens Stimme klang noch immer ärgerlich.
“Und halten Sie das Kind ‘mal vernünftig, das kann sich ja kein Mensch ansehen!”
Er wandte sich ab als die Frau den Mann zurück in den Wohnungsflur gezerrt hatte und die Tür hinter ihnen schloss, Friederike atmete insgeheim auf.
Lautstark ausgetragene Unstimmigkeiten, noch dazu in Unhöflichkeit ausgetragen, waren so gar nicht ihr Ding.
Ãœber dieses unerwartet friedliche Ende war sie froh, in ihrer Phantasie hatte sie schon ein kleines Handgemenge zwischen dem Mann und Torsten Nehrmann gesehen, an dessen Ende die Verhaftung des Mieters stand.
Torsten Nehrmann hatte noch ungefähr zehn Sekunden auf der vorletzten Treppenstufe verharrt, mit prüfendem Blick zu der verschlossenen Wohnungstür.
Dann kam er die Treppe wieder hinauf und Friederike drückte sich unnötigerweise wieder ein wenig enger an die Wand als er an ihr vorbei ging, konnte sich einen interessierten Blick zu seinem Gesicht dabei aber nicht verkneifen.
Es erstaunte sie ein wenig, dass sie darin keine Spur von Ärger oder Zorn über die vorangegangene Auseinandersetzung sah.
Er schien sich sehr gut unter Kontrolle zu haben, wirkte bloß ernst und konzentriert als er jetzt die letzte Treppe hinauf ging.
Dann steuerte er auf die rechte der beiden Wohnungstüren zu, die offen stand.
Oliver schloss sich ihm an und Friederike folgte ihnen.
‘Hempel’ stand in krakeligen Buchstaben auf dem kleinen Namensschild neben der Klingel.
Sie waren noch dabei, den kleinen Wohnungsflur zu betreten, der nicht viel sauberer war als der Hausflur und voll gestopft mit Regalen und allerlei Krimskrams, als ihnen zwei Beamte entgegenkamen, die vor ihnen hier gewesen sein mussten.
Einer von ihnen war der Große, Massige.
“Wir fahren wieder, die Lage ist unter Kontrolle!” meinte sein Kollege zu Torsten.
Er war ebenfalls sehr groß, hatte kurze graue Haare und einen silbernen Stern auf den Schulterklappen seiner Jacke.
“Jimmy und Klaus klären gerade den Sachverhalt!”
Er machte eine rasche Kopfbewegung zurück Richtung des Wohnzimmers, in dem sich außer den beiden angegebenen Beamten auch noch Joachim befand.
Torsten nickte.
“Ja. Alles klar. Tschö!”
Die beiden murmelten einen kurzen Abschiedsgruss und kaum waren sie auf den Flur hinaus wollte Friederike, weil gut erzogen, in einem Reflex die Wohnungstür hinter ihnen schließen.
Der scharfe Ton von Torstens Stimme ließ sie jedoch regelrecht zusammenfahren.
“Offen lassen!”
Erschrocken zog sie ihre Hand zurück.
Sein Blick ging ihr durch und durch und sie fand, dass er mit einem Mal wieder verärgert aussah.
Eingeschüchtert zog sie sich bis ganz an die Flurwand zurück und verfolgte, wie Torsten nun das Wohnzimmer betrat und sich kurz umsah.
“Det is’ also das berüchtigte Sofa!” meinte er dann halblaut zu Joachim und, wie Friederike erstaunt registrierte, auch mit einem klitzekleinen, sich vergewissernden Seitenblick Richtung der Kamera, mit der Oliver im Türrahmen stand und filmte.
Joachim grinste, stumm, wohl wissend, dass er diesen Scherz seines Kollegen nicht mehr toppen konnte, wie er es sonst so gerne tat.
Auch Friederike konnte sich trotz allem ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen.
Die beiden anderen Beamten kontrollierten unterdessen die Personalausweise des leicht schmuddelig wirkenden Paares von vielleicht Ende Fünfzig.
Der Rangniedrige von ihnen machte dabei Notizen.
“Jimmy, wir sind weg!” meinte Torsten zu dem Älteren der Beiden.
“Oder glaubst Du, ihr braucht uns noch?”
“Ich denke nicht!” gab der Angesprochene zurück, dann konnte Friederike vom Flur aus sehen, wie sein eben noch ruhiger Gesichtsausdruck auf wachsam umsprang während sein Kopf hochruckte, sein Blick sich auf etwas neben sie im Flur richtete.
Nur einen Moment später knallte die Wohnungstür an die dahinter liegende Wand und Friederike machte ganz automatisch noch ein paar Schritte beiseite als ein Jugendlicher in den Flur stürmte und brüllte: “Was macht ihr Wichser mit meinen Eltern?”
‘Dumm auch noch!’ ging es ihr ganz unwillkürlich durch den Kopf.
Sie schätzte den Jugendlichen auf vielleicht gerade mal Zwanzig und unter seiner halboffenen weißen Trainingsjacke trug er eine dicke Goldkette, die schon fast wie ein Tau wirkte, auf seiner nackten Hühnerbrust.
Torsten war mit drei Schritten an Oliver vorbei, im Flur, und versperrte dem Ankömmling den weiteren Weg ins Wohnzimmer.
Der Junge sah zu dem weitaus größeren, weitaus muskulöseren Polizeibeamten hoch.
“Ey, was soll das?”
Er versuchte, seine körperliche Unterlegenheit mit einem frechen Auftreten wett zu machen, doch selbst Friederike, die sich unbehaglich an eine geschlossenen Tür rechts
drückte, weil sich das Ganze in ihrer unmittelbaren Nähe abspielte, spürte, dass seine hervorgekehrte Selbstsicherheit bloß Schau war.
“Ausweis!” war das Einzige, was Torsten zu ihm sagte.
“Ey, Alter, was macht ihr hier mit meinen Eltern?” schnauzte der Junge zurück und versuchte, an Torstens rechtem Arm vorbei ins Wohnzimmer zu schauen.
Als ihm dies nicht gelang, sah er wieder zu dem Polizeibeamten hoch und tänzelte dabei von einem Fuß auf den anderen.
“Ausweis!” wiederholte Torsten bloß fordernd und wich seinem Blick nicht aus.
“Ey, Alter, ich wohn’ hier! Was soll das?” regte der Junge sich jetzt auf.
Torstens behandschuhter rechter Zeigefinger fiel daraufhin auf sein Brustbein.
“Ich will Dir sagen, was das soll! So lange hier Polizeibeamte sind will ich das Wort ‘Wichser’ nicht noch einmal hören! Haben wir uns verstanden? Und jetzt will ich Deinen Ausweis sehen!”
Der junge Mann schien daraufhin handsam.
“Okay, okay.” murmelte er eingeschüchtert, griff in die rechte Tasche seiner Trainingshose und zog sein Portemonnaie heraus, dem er seinen Ausweis entnahm.
Den reichte er Torsten.
Friederike kam es vor, als würde dieser ihn übermäßig genau studieren.
“Wir haben uns verstanden?” fragte Torsten Nehrmann dann noch mal als er dem jungen Mann seinen Personalausweis schließlich zurück gab.
Dieser nickte.
“Ja.”
Das klang unüberhörbar beklommen.
Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen wandte Torsten sich kurz zu seinem Kollegen um.
“Kommst Du, Joachim?”
“Ja.” gab dieser zurück und warf den beiden anderen Polizeibeamten noch einen raschen Blick zu während er Anstalten machte, das Wohnzimmer zu verlassen.
“Also, bis später!”
“Tschüss!” erwiderte der ältere Beamte während Joachims höfliches “Auf Wiedersehen!” von den Wohnungsbesitzern völlig ignoriert wurde.
Auch Friederike murmelte einen kurzen Abschiedsgruß, auch wenn sie wusste, dass es keinen interessierte.
Dann folgte sie Torsten, Joachim und Oliver hinaus.
Die ersten Schritte zum Wagen zurück hatte sie das Gefühl, in eine völlig andere Welt zurück zu kehren.
Es war ihr unbegreiflich, wie man in solchen Verhältnissen leben konnte, die sie bisher noch nie so hautnah kennen gelernt hatte.
Sicher, es gab immer wieder Leute, die mehr oder weniger unverschuldet in Situationen gerieten, aber musste man dann auch gleich Sauberkeit, Höflichkeit und Respekt außer Acht lassen?
“Pack schlägt sich, Pack verträgt sich!” hörte sie Torsten auf dem Weg in sein Funkgerät sagen als er Meldung an die Wache machte, dass der Einsatz für sie abgeschlossen war, und seine Stimme war eine Mischung aus gelangweilt und genervt.
Hätte man sie gestern gefragt, so hätte sie geantwortet, dass Polizeiarbeit sicher aus wichtigeren Dingen bestand als Unstimmigkeiten zwischen alkoholisierten Bürgern in sozialen Brennpunkten zu schlichten oder Freilufttrinker zu überreden, sich zumindest aus Rücksicht auf kleine Kinder einen anderen Aufenthaltsort zu suchen.
Heute hingegen verspürte sie ganz allmählich eine erschreckende Desillusionierung, es war kein Wunder, dass die Kriminalitätsrate stieg solange die Polizei sich mit Kinkerlitzchen beschäftigen musste, die es eigentlich gar nicht geben sollte!
Ob die Beiden sich damals auf der Polizeischule ihren Job wohl auch etwas anders vorgestellt hatten oder wurde an dort wohl schon darauf vorbereitet, dass die täglichen Einsätze in der Mehrzahl aus wenig spektakulären Streitereien bestand?
„Ich hätt’ jetzt Lust auf`n Kaffee.“ meinte Joachim als sie wieder im Auto saßen, und warf einen fragenden Blick zu Torsten hinüber.
Friederike stimmte ihm, lautlos, aus ganzer Seele zu, ihr war schon danach seit sie die beiden vor gut zwei Stunden im Büro der Wache verkabelt hatte und ihr dabei der Duft von frisch durchgelaufenem Kaffee aus einem der Nebenräume in die Nase gestiegen war.
Bevor Torsten sich jetzt jedoch dafür oder dagegen aussprechen konnte kam über Funk die Meldung über eine hilflose Person neben der Tankstelle an der Friederich-Ebert-Straße, gemeldet von einem Busfahrer.
Joachim bestätigte, dass sie sich darum kümmern würden.
„Geht das mit euren Einsätzen immer so Schlag auf Schlag?“ erkundigte sich Oliver jetzt verwundert.
„Ich mein`, Rheinsberg ist ja nicht gerade als Hochburg der Kriminalität bekannt!“
Joachim drückte einen Knopf und das Martinshorn erklang.
„Ãœberhaupt nicht.“ antwortete er dann.
„Oft ist kaum etwas, aber manchmal sind auch Tage dazwischen, da geht es ohne Pause, rund um die Uhr!“
„Und da weiß man beim ersten Einsatz manchmal schon, dass das ein Scheiß-Tag wird!“ fügte Torsten hinzu.
Friederike konnte auf Olivers kleinem Laptop-Display seinen angespannten Gesichtsausdruck erkennen, das rasche Hin und Her seiner dunklen Augen.
Auch Joachim saß auf seinem Sitz ein wenig nach vorne gebeugt und sah konzentriert durch die große Frontscheibe.
Es dauerte eine ganze Weile bis Friederike dies schließlich mit der Blaulichtfahrt in Zusammenhang brachte.
Sie überfuhren rote Ampeln und unter Missachtung einiger Verkehrsregeln, da hieß es, doppelt vorsichtig sein, denn schließlich konnte man nicht davon ausgehen, dass alle anderen Verkehrsteilnehmer sofort rechts heranfuhren und aus dem Gefahrenbereich blieben bis das Polizeifahrzeug vorbei war.
Irgendwo gab es immer ein paar Idioten, die meinten, sie würden vorher noch gut wegkommen!
Die Friedrich-Ebert-Straße lag nur ein paar Minuten von ihrem letzten Einsatzort entfernt.
Es war eine stark befahrene Hauptstraße mit der Tankstelle auf der linken Seite.
Knapp dahinter, vor einem etwas brach liegend aussehenden Grundstück stand ein Bus mit eingeschalteter Warnblinkanlage.
„Da wahrscheinlich irgendwo!“ meinte Joachim mit einem raschen Fingerzeig nach links.
Auf dem Bildschirm des Laptop war zu sehen wie er die Augen zusammenkniff und sich noch etwas weiter nach vorne beugte, „Da, an der Hecke!“ meinte er schließlich, mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Richtung weisend.
„Ja.“ stimmte Torsten ihm bloß knapp zu.
Er fuhr den Wagen rechts an den Straßenrand, schaltete den Motor aus, zog den Zündschlüssel ab und öffnete dabei schon die Tür, glitt aus dem Auto und hastete dann zwischen den fahrenden PKWs über die stark befahrenen Fahrstreifen der Hauptstraße, mit nicht mehr als einer auf halbe Höhe erhobenen Hand.
„Der ist irre!“ murmelte Joachim vor sich in während er ebenfalls rasch aus dem Wagen rutschte und hinterher eilte.
Als Friederike hinter Oliver schließlich, nachdem sie den Umweg über den Fußgängerüberweg benutzt hatten, am Ort des Geschehens eintrafen, saß ein Mann am Boden, mit dem Rücken mehr schlecht als recht an die einigermaßen stabil aussehende, dichte Hecke hinter sich gelehnt, und versuchte, Torsten zu fixieren, der neben im stand.
Der Geruch nach Alkohol verbreitete sich in der warmen Sommerluft recht deutlich und zahlreiche kleine Schnapsfläschchen lagen rundherum am Boden verstreut.
„Bisschen früh und ein ganz schlechter Platz um zu feiern!“ fand Torsten gerade und faltete sein Notizbuch um, das er aus der Brusttasche seines Hemdes genommen hatte.
Seine Stimme klang ein wenig atemlos und Friederike sah kleine Schweißperlen auf seiner Stirn.
„Wie sieht`s mit einem Personalausweis aus?“
Er begann, sich ein paar Notizen zu machen.
„Ich hab` nur Tee getrunken.“ lallte der Mann mühsam.
„Der hatte aber wohl ganz schön Kamille!“ schnaufte Torsten und sah zu Joachim, der ein wenig abseits rechts stehen geblieben war.
„Holst Du mal den AT?“
Friederike hatte immer noch das Bild vor Augen, wie er so einfach über die dicht befahrene Straße lief, praktisch sein eigenes Leben riskierte um das eines Bürgers zu retten, nur um dann feststellen zu müssen, dass es sich wieder `mal um jemanden handelte, der sich absolut nicht zu Hause hatte betrinken wollen.
Sie fragte sich insgeheim, wie oft ihm das schon passiert war, und bewunderte seine wohl dennoch ungebrochene Bereitschaft.
Wenn sie ganz ehrlich war hatte sie bereits mit einem Betrunkenen gerechnet als sie von der anderen Straßenseite aus, an der noch roten Fußgängerampel wartend, die Unterschenkel des halb unter der Hecke liegenden Mannes mit den hoch gerutschten Trainingshosenbeinen gesehen hatte.
Es war ein Vorurteil, das sie sich als gelernte Arzthelferin eigentlich nicht hätte erlauben sollen.
Aber der Vormittag hatte sie bereits viel gelehrt.
Joachim warf ihm einen Blick zu, der offensichtlich besagte, dass er von der Idee rein gar nichts hielt.
Gleichzeitig schien er sich jedoch zu besinnen, dass diese Szene später vielleicht im Fernsehen laufen würde und dass eine Vorverurteilung kein gutes Licht auf einen Ordnungshüter warf, auch wenn etwa drei Viertel des Publikums seiner Ansicht sein würden.
„Okay!“ meinte er dann nach einem langen Moment und wandte sich ab, trollte sich gemächlich in Richtung des Wagens davon, Friederike fragte sich insgeheim, mit was er wohl zurückkehren würde, was ein AT eigentlich war.
Aufgrund der Situation rechnete sie mit einem Alkoholtest und sie versuchte, sich in ihren Gedanken eine Notiz zu machen, dass das später in der Sendung den Zuschauern zu erklären sei.
Der Bus war mittlerweile weiter gefahren.
Schräg gegenüber in zwei benachbarten Vorgärten standen die zugehörigen Hausfrauen und hielten ein Pläuschchen, sahen dabei ab und zu neugierig zu ihnen herüber.
„Haben Sie Ihren Personalausweis dabei?“ fragte Torsten den Mann in der Zwischenzeit erneut.
Er sprach nun etwas lauter und sehr deutlich.
Der Mann hob den Kopf in seine Richtung, hatte aber nach wie vor Schwierigkeiten, ihn zu fixieren.
„Sind Sie Stefanie und Moni? Ich kenn` die Sendung!“
„Klar!“ Torsten nickte kurz und machte dann eine rasche Kopfbewegung hinüber zu Joachim, am Auto.
„Das ist Stefanie! Ich bin Moni!“
Dabei langte er nach dem Funkgerät in seiner Tasche und forderte dann einen Rettungswagen an.
Friederike fühlte sich tief in ihrem Inneren für einen Moment wieder versucht, zu lachen, konnte diesen Impuls nach all den heute bisher gemachten Erfahrungen aber noch unterdrücken.
`Stefanie & Moni – Auf Streife mit 2 Polizistinnen` hieß die Serie eines Mitbewerbersenders, in der es ebenfalls darum ging, den Polizeialltag den Bürgern näher zu bringen.
Nach den Erfolgen der ersten Ausstrahlungen wollte ihr Sender auch ein Stück des großen Zuschaueranteils abhaben und hatte sich das kleine Polizeirevier in Rheinsberg dazu ausgesucht.
Als Friederike zu Torsten Nehrmann sah, fing sie dessen Blick auf und auch wenn sein Gesichtsausdruck im ersten Moment amüsiert wirkte, so spürte sie doch seinen Sarkasmus und dass ihm diese Situation längst über war.
Wahrscheinlich hatte er sie in ähnlichen Formen schon zu oft durchgemacht, sie konnte sehr gut nachvollziehen, wie frustrierend das sein musste.
Sie schenkte ihm ein bedauerndes Lächeln und bewunderte jetzt bloß noch mehr seinen Einsatz und die Polizeiarbeit im Allgemeinen.
„Jut.“ meinte Torsten jetzt und notierte dabei kurz etwas in seinem Heft.
Joachim kam unterdessen mit einem länglichen Gerät zurück, dessen dünne schwarze Schlaufe um sein Handgelenk hing und an dessen oberem Ende sich ein matt-weißes Ansatzstück befand.
`Alkoholtest` stellte Friederike zufrieden mit sich fest.
„Pusten Sie `mal kräftig hier hinein!“ meinte Joachim jetzt zu dem Mann und hielt ihm das Ansatzstück in Mundhöhe vor das Gesicht.
„Hä?“
„Hier hereinpusten, so kräftig wie Sie können!“ forderte Joachim ihn erneut auf.
Der Mann beugte sich ein wenig schwankend vor und hatte sichtliche Schwierigkeiten, seine Lippen um das Mundstück zu fixieren.
Als es ihm schließlich gelungen war und er zu pusten begann erklang ein akustisches Signal, was aber wohl in Ordnung war, denn Joachim kommentierte: „Weiter, weiter … ja, so ist gut!“
Das Signal brach nach einer Zeitspanne ab, die Friederike ziemlich lang vorkam.
Die Sirene eines sich rasch nähernden Einsatzfahrzeuges war jetzt dafür zu hören.
„Zweikommasechs.“ lallte der Mann.
„Wird wahrscheinlich nicht so ganz ausreichen!“ gab Joachim cool zurück während er auf das Display des Gerätes sah.
Auch Torsten schaute herüber.
„Zweikommavier.“ meinte Joachim schließlich und sah zu dem Mann während Oliver die Kamera schräg hinter ihm auf das Display richtete.
„Respekt!“
„Bisher der Rekord für diese Woche bei uns!“ kommentierte Torsten trocken und nur ganz dezent klang in seiner Stimme Abneigung mit.
Ein Rettungswagen bog jetzt in die Friedrich-Ebert-Straße ein und stoppte am Straßenrand.
Zwei Sanitäter stiegen aus und kamen zu ihnen, grüßten, „Zweikommavier, dass ihr Bescheid wisst!“ meinte Joachim zu ihnen nachdem er den Gruß knapp erwidert hatte.
Einer der Sanitäter nickte bloß kurz und beugte sich dann zu dem Mann an der Hecke herunter und sah ihn auffordernd an.
„Na, wollen Sie uns dann `mal begleiten, junger Mann?“
Der Angesprochene betrachtete ihn daraufhin von oben bis unten.
„Fahr`n Sie mich jetzt nach Hause?“
Der Sanitäter machte einen Schritt beiseite und gab so den Blick auf den Rettungswagen frei.
„Sieht det aus wie`n Taxi?“
Sein Kollege trat nun an die rechte Seite des Betrunkenen und gemeinsam halfen sie dem Mann auf, führten ihn zum Rettungswagen und verfrachteten ihn dort hinein.
Einer von ihnen stieg mit ihm hinten ein während der andere hinter ihnen die Türen schloss und dann nach vorne zur Fahrerseite ging.
„Komm` Dicker, lass uns fahren! Ich möchte jetzt `nen Kaffee!“
meinte Joachim.
Er machte Anstalten zu gehen als irgendetwas am Boden sein plötzliches Interesse weckte.
Joachim stieß mit dem Fuß dagegen.
Es war ein Ring, golden.
„Guck` mal, da hat jemand seinen Ehering verloren!“
Er bückte sich und hob ihn auf.
Torsten warf ihm einen kurzen Blick zu.
„Den hat er nicht verloren. Den hat er weggeworfen!“ meinte er dumpf.
Joachim lachte.
Friederike fand, dass Torsten sich sehr desillusioniert anhörte.
Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu.
Sein Gesicht war ausdruckslos.
Ob es wohl Probleme in seiner Ehe gab?
Oliver kletterte vor ihr in den Bully.
Friederike mühte sich ab, die schwere Tür zuzuziehen und setzte sich dann wieder auf ihren Platz in der Ecke, griff sogleich zu ihrem Sicherheitsgurt.
Beinahe schon automatisch rutschten ihre Augen dabei zum Rückspiegel vorne, doch Torstens Konzentration schien diesmal gänzlich auf den Verkehr vor sich gerichtet.
Sie brauchten nicht lange zurück zur Wache.
Torsten stellte den Bully auf dem kleinen Parkplatz ab und gemeinsam betraten sie das Gebäude durch den Hintereingang, der Friederike bis dahin nicht bekannt gewesen war.
Diese besonders stabil aussehende Tür war von außen bloß durch einen Zahlencode zu öffnen, den Joachim eingab.
Zudem wurde sie videoüberwacht, wie unschwer an der kleinen Kamera links oben in der Ecke des Türrahmens zu erkennen war.
Friederike registrierte für sich ein weiteres Mal an diesem Tag, wie gefährlich der Beruf eines Polizeibeamten wirklich war.
Eine kleine Treppe führte von dem Zwischenstockwerk, das sie dann betraten, hinauf in das Erdgeschoss.
Friederike versuchte, sich trotz des veränderten Einganges zu orientieren.
Die beiden Büros, die sie bisher in diesem Gebäude kannte, mussten links liegen.
Dort verlief auch der kurze Flur, der nach vorne, in den gesicherten, etwas düsteren Haupteingangsbereich führte.
Joachim und Torsten bogen jetzt allerdings nach rechts ab und betraten den ersten Raum dort.
Es stellte sich als eine Art Aufenthaltsraum heraus, mit zwei Tischen je links und rechts, jeweils vier Stühlen an jedem und einer langen Arbeitsplatte direkt links neben der Tür, auf der eine Mikrowelle, eine Kaffeemaschine und ein Zwei-Platten-Kocher standen.
Eine Spüle war in die Platte eingearbeitet, ein Schrank hing darüber an der Wand und ein Zweiter stand unter der Platte, neben einem Kühlschrank.
Ein perfekt eingerichteter Raum um das Überleben im Schichtdienst zu garantieren, Friederike vermochte nicht einzuordnen, warum diese Küchenzeile sie weitaus mehr an die Unannehmlichkeiten der wechselnden Arbeitszeiten ahnen ließ als dies selbst der 3-Schichtdienst ihres Vaters früher getan hatte.
Zwei Polizistinnen, eine mit einem dunkelblonden Pferdeschwanz, die andere mit halblangen, offenen rötlichen Haaren saßen an einem Tisch links gegenüber und plauderten miteinander während sie aßen.
„Hallo Tina! Hallo Nadja!“ grüßte Joachim , „Hallo!“ meinte Torsten kurz.
Die beiden Frauen grüßten zurück, Friederike schenkte ihnen ein kleines unverbindliches Lächeln als ihre Blicke sie streiften und als ihre Augen auf die Lederjacke fiel, die die eine Beamtin über die Lehne ihres Stuhles gehängt hatte, kam ihr plötzlich greifbar in den Sinn, was ihr an Torstens Jacke vorhin mehr im Unterbewusstsein aufgefallen war:
Der fehlende Schriftzug ` POLIZEI ` !
Bisher hatte sie keinen anderen Beamten gesehen, auf dessen schwarzer Lederjacke nicht in Schulterhöhe die großen weißen Buchstaben `POLIZEI ` zu lesen gewesen waren.
Dabei hatte es sich bei seiner Jacke doch eindeutig um eine Polizeijacke gehandelt, sie hatte das Wappen von Nordrhein-Westfalen auf dem linken Ärmel gesehen, die Klappen mit dem silbernen Stern hatten sich auf den Schultern befunden und vor allen Dingen, er hatte sie während der Einsätze getragen, er trug sie sogar jetzt noch!
Noch ziemlich verwundert darüber fand sie sich ganz unvermittelt Joachim gegenüber, der sie ansah und fragte: „Auch `nen Kaffee?“
„Sehr gerne.“ gab sie zurück.
„Ich würd` gerne eine rauchen.“ hörte sie Oliver sagen.
„Kann ich hier oder muss ich `raus vor die Tür?“
„Musst `raus vor die Tür!“ erwiderte ihm Torsten und machte eine rasche Handbewegung nach links.
„Du gehst am besten vorne `raus, da lassen sie dich dann auch wieder `rein!“
„Okay.“
Oliver verließ den Raum in die angegebene Richtung und Friederike überlegte überrascht, wann sie verpasst hatte, dass Torsten und Oliver sich duzten.
„Bitte! Milch und Zucker steht da!“
Joachim machte eine rasche Handbewegung zu der Arbeitsplatte als er ihr die Tasse reichte.
„Danke. Ich trink` ihn schwarz.“ gab Friederike zurück.
Mit den Augen verfolgte sie, wie Torsten sich eine Tasse aus dem Hängeschrank nahm und Kaffee hinein goss.
„Wir haben heute also genau den richtigen Tag erwischt wenn man den Zuschauern den Polizeialltag näher bringen möchte?“ meinte sie zu Joachim und musste sich zusammenreißen, um nicht weiter an ihm vorbei Torsten Nehrmann zu beobachten.
Joachim dachte einen Moment lang nach und trank dabei von seinem Kaffee.
„Einen sehr guten Tag, ja.“ stimmte er ihr dann zu.
Auf dem Flur draußen gingen zwei Beamte vorbei und Friederikes Aufmerksamkeit wurde für einen langen Moment ganz von ihnen in Anspruch genommen als sie einen von ihnen plötzlich auflachen hörte und er dann seinem Kollegen drohte: „Wenn Du das machst, erschieß` ich Dich!“
Sie krauste die Stirn.
War das die typische berufsbezogene Drohung, so wie es bei Arzthelferinnen schon `mal hieß `Ich tu Dir `was in den Kaffee!` oder etwas bei Anstreichern: ‚Ich schmeiß’ Dich von Gerüst!`
Irgendwie fand sie das für diesen Berufszweig hier besonders unpassend.
Sie musste sich Mühe geben, um Joachim wieder folgen zu können, der fortgefahren war:
„Jetzt können die Leute `mal sehen, dass wir nicht bloß den ganzen Tag an irgendwelchen Kreuzungen hocken und den Verkehr beobachten!“
„Ist das die landläufige Meinung?“ horchte sie verwundert nach, noch immer ein wenig abgelenkt.
Das war ihr bisher nicht bekannt gewesen.
„Ja.“ stimmte Joachim ihr zu.
„Ich hab` das schon oft zu hören bekommen: Och, ihr hockt doch eh bloß den ganzen Tag in euren Autos!“
„Also, ich hab` so etwas noch nie gehört!“ gab Friederike betont sanft zurück um nicht den Eindruck zu erwecken, sie widerspreche ihm.
„Und falls irgendjemand in meiner Gegenwart `mal so etwas sagen sollte, kann und werde ich ihm vehement widersprechen!“
„Torsten? Joachim ?“ kam es in diesem Moment fragend von der Tür.
Als Friederike sich umwandte während sie dabei einen vorsichtigen Schluck von ihrem Kaffee nahm, sah sie im Türrahmen einen Polizeibeamten mit kurzem Bart und Brille stehen.
Aufgrund seines autoritativen Auftretens, dem wichtigen Ton seiner Stimme und vor allem der beiden silbernen Sterne auf jeder seiner Schulterklappen seines kurzärmeligen Hemdes vermutete sie, dass es sich um einen Vorgesetzten von Joachim und Torsten handelte.
„Wat gibbet?“ fragte Torsten und nahm einen Schluck von seinem Kaffee während er zu dem anderen Beamten sah.
„Verkehrsunfall auf der Wickrather Straße.“ antwortete der Gefragte.
„Könnt ihr euch darum kümmern?“
Friederike sah Joachim für einen Sekundenbruchteil stutzen bevor er anfing zu lachen.
Er tauschte einen raschen Blick mit Torsten bevor er wieder zu seinem Vorgesetzten sah.
„Ist es notwenig dahin zu fahren oder sollen wir laufen?“
„Vielleicht reicht es, wenn wir eben einen Blick aus dem Fenster werfen?“ fügte Torsten hinzu und sah ebenfalls fragend zur Tür.
Der Beamte dort grinste.
„Bis zur Sachverhaltsklärung würde ich euch schon bitten, ein Dienstfahrzeug zu benutzen!“ gab er zurück.
„Ich weiß nicht, was vor Ort für Einsatzmittel erforderlich sind. Vielleicht ist Alkohol im Spiel!“
„Also den AT wird Torsten so gerade noch tragen können.“ fand Joachim und nahm noch einen raschen Schluck von seinem Kaffee bevor er seine Tasse auf die Arbeitsplatte schob und sich zum Gehen wandte.
Friederike fing einen Blick von ihm auf, den sie als freundlich-auffordernd interpretierte.
„Kommen Sie?“
„Ja.“
„So gerade noch!“ hatte Torsten wiederholt und ebenfalls noch einen eiligen Schluck von seinem Kaffee genommen bevor er die Tasse auf der Arbeitsplatte abstellte und sich zum Gehen wandte.
Friederike tat es ihm nach.
Oliver musste draußen seine Zigarette austreten, er tat dies nach einem letzten hastigen Zug bevor er als Letzter in den VW-Bully stieg und die Tür hinter sich zuzog.
Die Wickrather Straße erwies sich als die Hauptstraße, die rechts an der Polizeiwache vorbei führte.
Der Unfall hatte sich in Höhe der Kreuzstraße ereignet, keine fünf Minuten vom Polizeigebäude entfernt und hätte man nicht damit rechnen müssen, irgendwelche Ausrüstungsgegenstände zu benötigen, so hätte man tatsächlich viel bequemer dorthin laufen können.
So allerdings musste Torsten den Wagen im dichten Verkehr erst wenden um auf die gegenüber gelegen Seite zu gelangen, ein Unterfangen, das einen holländischen LKW- und einen deutschen PKW-Fahrer so offensichtlich verwirrte, dass Joachim erst einmal vom Beifahrersitz rutschen und aussteigen musste um das Autogewirr draußen wieder zu entknäulen.
Dann brachte Torsten den Einsatzwagen wenige Meter vor dem Unfallfahrzeug, einem roten Golf, zum Stehen.
So gerade noch in der Kreuzstraße stand ein dunkelbrauner Passat Kombi, der unter offensichtlicher Missachtung der Vorfahrt dem Golf ziemlich heftig in die Beifahrerseite gerauscht war.
„Ist jemand verletzt?“ war das Erste, was Friederike Torsten fragen hörte als sie hinter Oliver am Ort des Geschehens ankam.
Am Passat stand ein leicht schmuddelig, beleidigt aussehender Mann mit verschränkten Armen und schüttelte beinahe uninteressiert den Kopf.
Torsten blieb bei ihm stehen während Joachim zu der Golffahrerin, einer recht umfangreichen Frau, ging, die ihn sogleich mit einem gewaltigen Wortschwall überschüttete.
Bei sich hatte sie einen vielleicht fünfzehn-, sechzehnjährigen Jungen in Jeans, die modisch abwärts von seinen Hüften dem Boden zustrebten, und einem weitem langen T-Shirt, mit einer Baseballkappe auf dem Kopf, vermutlich ihr