Kurzgeschichte
Die Familie des Kanzlers

0
"Die Familie des Kanzlers"
Veröffentlicht am 15. Mai 2013, 10 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
http://www.mystorys.de
Die Familie des Kanzlers

Die Familie des Kanzlers

Kapitel 1

Der Regen prasselt wütend gegen die Fensterscheibe meines Zimmers in dem Haus, in das ich nicht gehöre. Ich sitze zusammengekauert in der hintersten Ecke im Dunkel und höre dem Wind zu, wie er um das Haus peitscht. Es ist spät, doch hört man noch immer die Stimmen der Anderen. Meiner Familie. Laut und deutlich. Schnelle unheilvolle Schritte stampfen an meiner Zimmertür vorbei. Gott sei Dank! In der Hand halte ich meinen alten abgegriffenen Teddybären. Das

letzte Überbleibsel von meiner glücklichen Kindheit.

 

Die Stimmen werden immer lauter, wütender. Sie streiten sich mal wieder. Wie so oft in den letzten zehn Jahren ist dieser Streit der Abschluss eines viel zu langen, trübsinnigen und hoffnungslosen Tages. Die donnernden Worte ziehen durch die dünnen Wände, die kaum einen Schutz vor den Menschen dahinter darstellen. Fiebrig überlege ich, ob ich wieder etwas falsch gemacht habe in ihren Augen? Ob ich mit einer Strafe rechnen musste.

Das Geschrei wird noch lauter, hasserfüllter. Nun kommen dröhnende Bässe und wütende Gitarren- und Schlagzeug-Klänge hinzu. Nein die Wände dieses Hauses haben kaum liebevolle oder freundliche Wörter gehört. Ich schließe meine verweinten Augen und sehe das Gesicht, nach dem ich mich so sehr sehne vor mir. Die liebevollen warmen blauen Augen und das freundliche Gesicht meiner Mutter, auf dem sich stets dieses aufmunternde Lächeln befunden hat.

 

Wie sehr ich sie all die Jahre schon

vermisse. In der Nacht, als ich sie zum letzten Mal sah, hat es genauso geregnet wie heute. Es war dunkel und kalt. Sie hatte Angst, das spürte ich. Doch konnte ich ihre Angst damals nicht verstehen. Heute ist das anders. Ich drücke den Teddybären fester an mich. An meine schmerzende Brust. Traurig ziehe ich die Decke über mich und versuche diesem Ort – wenigstens für ein paar Stunden – zu entfliehen. ...

 

Vorwort

 

"Die Lüge ist ein sehr trauriger Ersatz für die Wahrheit, aber sie ist der einzige, den man bis heute entdeckt hat."
(Elbert Hubbard)

 

Mein Beitrag zum 54. Wortspiel auf BookRix!

Kapitel 2

Wahrheit? Was ist die Wahrheit?

 

10 Jahre zuvor:

 

Mit viel zu hoher Geschwindigkeit fahren wir im kleinen roten Fiat über die regennasse Landstraße. Es herrscht eine finstere Nacht und starker Regen prasselt auf das Auto. Die Hände meiner Mutter zittern, obwohl sie mich immer wieder beruhigend anlächelt. „Annie, Liebes. Alles wird gut. Bleib unten!“ wie ein Mantra wiederholt meine Mutter diese Worte. Seit Papa am Nachmittag bei uns war ist sie ganz anders. Hektisch! Sie hat große Angst! Warum?

 

Hinter uns tauchen nun Scheinwerfer auf, die sich sehr schnell nähern. „Annie, bitte duck dich Schatz!“, bellt meine Mutter mich an. Das tut sie sonst nie. Das Zittern ihrer Hände wird stärker. Nun beschleunigt den Wagen noch etwas. „Ich habe Angst, Mama!“, schluchze ich. „Annie, alles wird gut“, versucht sie mich zu beruhigen.

 

Im nächsten Moment tauchen vor uns weitere Scheinwerfer in der Dunkelheit auf. Die direkt auf uns zu kommen. Durch die regennassen Scheiben blenden mich die Scheinwerfer. Meine Mutter hat keine andere Wahl als abrupt anzuhalten. Der Wagen kommt seitlich abseits der Straße zum Stehen. Jetzt zittern nicht nur ihre Hände, sondern ihr gesamter Körper. Sie weint! „Ich liebe dich Annie. Vergiss das nicht!“ flüstert sie mir ins Ohr, während sie mich ganz fest an sich drückt.

 

Langsam bewegen sich mehrere große Schatten auf unser Auto zu. Ich erkenne die wütende Stimme meines Vaters wieder. „Mama“, schluchze ich und versuche mich noch fester an sie zu drücken. ...

 

Kapitel 3

Was wenn die Lüge leichter zu ertragen ist als die Wahrheit? Ist die Lüge dann ein zulässiger Ersatz für die Wahrheit?

 

Heute:

 

Schweißgebadet wache ich auf, den Teddy fest an mich gepresst. Mein Nacken schmerzt und meine Glieder sind ganz steif. Die Sonne schickt ihre warmen Strahlen zum Fenster herein. Einladend. Wärmend und trotzdem ist mir eiskalt. Das grelle Licht aus dem Traum und die Schatten halten mich noch gefangen. Die Ungewissheit. Ich weiß bis heute nicht genau, was mit meiner Mutter in dieser Nacht passiert ist. Schreckliche Vermutungen, doch nichts 100 % Sicheres.

 

Nur wenige Tage nach dieser Nacht ging mein Vater mit mir zu Mamas Beerdigung, dicht gefolgt von Hunderten von Paparazzi. Die Schlagzeilen der Zeitungen feierten meinen Vater als Held, der mich vor dem Selbstmord meiner Mutter gerettet hat. Die Beliebtheit meines Vaters beim Volk stieg. Sie stellten meine Mutter als depressiv und alkoholabhängig hin. Jedoch ist das nicht die Wahrheit!

 

In meinem Herzen fühle ich, dass mein Vater für den Tod meiner Mutter verantwortlich ist. Mein Herz und mein Kopf beginnen wieder zu pochen. Ich schließe die Augen und schüttle meinen Kopf um diese gefährlichen Gedanken zu vertreiben. Ich sollte bzw. durfte nicht so denken. Dieses Gefühl ist doch nur ein Hirngespinst, wie mein jahrelanger Therapeut es nannte. Ein Produkt meines Traumas. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht.

 

Wieder lausche in die Stille des Hauses hinein. Es dauert nicht mehr lange, bis das Gepolter und Geschrei wieder von vorne losgeht. Ich muss mich daher beeilen, um ins Bad zukommen, bevor die gesamte Familie wach ist. Schnell suche ich meine Kleidung für heute zusammen und dann schleiche ich auf Zehenspitzen so leise ich kann ins Bad. Mein Herz klopft mir bis zum Hals.

 

Klick. Geschafft. Aus dem Spiegel sieht mich ein hageres, durchschnittlich großes, dunkelblondes Mädchen mit dunklen Augenringen und traurigen blauen Augen an. Blaue Augen wie die meiner Mutter. Die kurzen Haare des Mädchens im Spiegel stehen zu allen Seiten ab. Ich habe dich nicht vergessen Mama.

 

Schnell wende ich meinen Blick ab und gehe duschen. Ich sollte keine kostbare Zeit verlieren! In Windeseile Duschen und anziehen, diese Disziplin habe ich in den letzten 10 Jahren perfektioniert. Doch da mich der Traum heute einfach nicht loslassen will, beginne ich leicht zu schwächeln. Als ich gerade beim Zähneputzen bin, klopft es schon an der Tür. „Bastard beeil dich“, schimpft mein Bruder Dominik ungehalten los.

 

Kapitel 4

Meine Hände beginnen leicht zu zittern. Beruhige dich, ermahne ich mich selbst. Nur noch ein paar Wochen, dann habe ich es geschafft. Dann werde ich 18 und kann ausziehen. Gut das mit dem Ausziehen wird sich noch bis zum Studienbeginn im September hinziehen, aber was sind schon 12 Wochen im Vergleich zu 10 Jahren? Ich atme tief durch und versuche zu lächeln, als ich die Tür öffne.

 

Doch kaum, dass die Tür offen ist, rempelt Dominik an mir brutal und achtlos vorbei. Er ist groß gewachsen wie unser Vater. Seine dunklen Haare sehen immer perfekt aus. Alle Mädchen in der Schule stehen auf ihn. Ich glaube die wenigen vermeintlichen Freundinnen, die ich habe, sind nur mit mir befreundet, weil sie ihn kennenlernen wollen.

 

In der Hoffnung, dass ein eingezogener Kopf mich unsichtbar macht, gehe ich zurück in mein Zimmer. Doch leider geht der Plan nicht auf und ich stoße fast mit meiner Stiefmutter Susanne zusammen. „Kannst du nicht aufpassen!“, faucht sie mich an. „Ent... Entschuldigung“, stammle ich und gebe ihr schnell den Weg frei.

 

Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, rauscht sie an mir vorbei. Ich sehe ihr kurz hinterher. Susanne ist eine bildschöne elegante, ebenfalls dunkelhaarige Frau. Die zu Mensch gewordene Perfektion. Schlank, attraktiv, intelligent, aber auch eiskalt und berechnend. Ich weiß nicht, was mein Vater an ihr findet. Schönheit ist doch nicht alles! Ihr oder ihren Plänen in die Quere zu kommen, hat schlimme, folgenschwere Konsequenzen für jedermann zur Folge. Unweigerlich läuft mir ein kalter Schauder über den Rücken.

 

„Ah Annie!“ Die Stimme meines Vaters lässt mich automatisch zusammenzucken, obwohl sie heute ungewöhnlich freundlich klingt. Mein Vater ist ein groß gewachsener, breitschultriger, dunkelhaariger Mann mittleren Alters mit stahlgrauen Augen. Er strahlt Macht und Stärke aus. Der Schatten aus meinem Albtraum.

 

Etwas verwirrt sehe ich ihn an. „Gut, das ich dich sehe.“ Automatisch stelle ich mich aufrechter, gerader hin. „Guten morgen Papa“, begrüße ich ihn leise. Doch darauf geht er gar nicht ein. „Wann kommst du aus der Schule?“ Erstaunt über sein Interesse an mir starre ich kurz wortlos in sein freundlich lächelndes Gesicht. Dann fällt es mir wieder ein. Das Interview ist ja heute. Da ich diese Termine nicht leiden kann, habe ich es ziemlich erfolgreich aus meinem Gedächtnis verdrängt. Wie so manches andere Erlebnis!

 

„Ich glaube um 15:00 Uhr“, beantworte ich seine Frage stammelnd und weiß genau, es wäre besser gewesen, wenn ich gar nichts gesagt hätte „Was soll das heißen, du glaubst?“ faucht er los. Seine Augen funkeln mich zornig an und sein Lächeln verschwindet. Nun zeigt er sein wahres Gesicht. Dieses Bild von ihm sollte die Öffentlichkeit sehen! Doch die Bürger sehen ihn nur als liebenden Vater und als Kanzler, der jeden Schritt wohl überlegt, zum Wohle des Volkes. Das Volk lässt sich so gerne von ihm belügen, dass seine Wiederwahl eigentlich schon feststeht.

 

Da er mich immer wütender ansieht, antworte ich ihm besser. „Ich werde rechtzeitig da sein, Vater!“ Nun erhellt sich seine Miene wieder und er nickt mir wohlwollend zu.

 

Kapitel 5

Der Kanzler streift durch die langen Korridore der St. Anton Klinik. Schnellen Schrittes bahnt er sich den gewohnten morgendlichen Weg über das grau/weiße Linoleum entlang der tristen weißen Wände. Sein Weg endet in einem hellen Wintergarten, mit hell brauen Parkettboden. Mehrere beigefarbene Sofas sind zu Sitzgruppen zusammengestellt. Es halten sich bereits einige Patienten hier auf.

 

Sein Blick schweift unruhig durch den Wintergarten, bis er sein Ziel gefunden. In einer kleinen hinter ein paar Blumen versteckten Ecke sitzt Annie. Ihr Gesichtsausdruck ist traurig, ernst. Sie wirkt blass und ängstlich. Er will gerade auf Annie zugehen, da wird er von ihrem Arzt, Dr. Heller, aufgehalten.

 

„Herr Graumann. Guten morgen.“ Dr. Heller streckt ihm die Hand entgegen. „Guten Morgen, Dr. Heller. Wie geht es Annie heute?“ Dr. Hellers Gesichtsausdruck wird auf die Frage hin bedrückt. Ein kurzer Blick zu Annie und dann hat er die bedauernswerte Aufgabe, ihren Vater über den erneuten paranoiden schizophrenen Schub zu unterrichten.  

0

Hörbuch

Über den Autor

hjwhite

Leser-Statistik
34

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
hjwhite Re: -
Zitat: (Original von Brigitte am 16.05.2013 - 13:19 Uhr) Sehr spannend geschrieben. An welchen Kanzler hattest Du gedacht ? Liebe Grüße Brigitte



Liebe Brigitte,

freut mich, dass es Dir gefallen hat.

Ehrlich gesagt, habe ich an gar keinen bestimmten Kanzler gedacht. Nur an einen mächtigen Mann und an Politik. Es war so eine fixe Idee in meinem Kopf, die ich schon seit längerer Zeit hatte.

LG Heike
Vor langer Zeit - Antworten
Brigitte Sehr spannend geschrieben. An welchen Kanzler hattest Du gedacht ? Liebe Grüße Brigitte
Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
2
0
Senden

90297
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung