Danke Mutter
Wie lange war es jetzt her, dass er nicht mehr zu Hause war. Fünf Jahre? Konnte das tatsächlich sein? Vor fünf Jahren starb sein Vater. Da hatte er auch zuletzt seine Mutter gesehen. Fünf lange Jahre war das her und die Zeit verging doch wie im Flug.
Die endlos lange Autobahn glitt unter ihm hinweg wie ein Band, das ihn in die Vergangenheit führen würde. Zurück zu seiner Mutter und zu den
Erinnerungen, die mit jedem Kilometer näher an die Heimat seiner Kindheit deutlicher wurden.
Das schmackhafte Essen, das es sonst nirgends auf der Welt gab, die tröstenden Worte, wenn er sich beim Herumtollen wieder mal verletzt hatte und die Geborgenheit, die er immer in ihrer Nähe fühlte.
Diese mit Worten nicht zu beschreibende Geborgenheit.
Tief in Gedanken versunken, einer CD mit klassischen Klaviersonaten lauschend während das endlose Asphaltband der Autobahn unter ihm hinweg huschte, übersah er fast das blaue Schild mit weißer Schrift, das
den Ratshof ankündigte, an dem er noch halten wollte.
Er erschrak, als er die Tachonadel sah, die auf die 195 Kmh Markierung zeigte. Er nahm das Gas weg, musste aber trotzdem ziemlich stark bremsen, wenn er die Ausfahrt noch bekommen wollte.
Hinter ihm hupte jemand und blendete mit der Lichthupe auf. „Ja, ich weiß“, entschuldigte er sich, wohl wissend, dass der Fahrer hinter ihm die Entschuldigung unmöglich hören konnte.
Er setzte den Blinker rechts und steuerte eine Parklücke auf dem Rastplatz an. Eine Tasse Kaffee und
eine Schachtel Pralinen für seine Mutter. Das war es, was er jetzt brauchte.
Einen riesigen Blumenstrauß hatte er schon mittels eines Blumenversandhandels an seine Mutter gesendet. Es hätte keinen Sinn gemacht, einen zu kaufen und ihn dann halb verwelkt, nach der langen Fahrt, seiner Mutter zu überreichen. Aber mit leeren Händen wollte er dann auch nicht vor ihrer Tür stehen.
Ihre Tür. Es war auch mal seine Tür, als er noch nicht seine Karriere im Kopf hatte.
Das kleine Häuschen am Stadtrand. Die Gartenzwerge auf dem kleinem
Rasen vor dem Haus. Der große Garten mit den alten Obstbäumen und Gemüsebeeten hinter dem Haus. Und auf dem Rasen neben den Gemüsebeeten hatten sie so manche lustige Grillparty verbracht.
Als er seinen Kaffee getrunken und die größte Pralinenschachtel gekauft hatte, die zu finden war, machte er sich wieder auf den Weg.
Er lächelte, als er endlich den Namen seiner Heimatstadt in weißer Schrift auf blauem Grund las. Er verließ die Autobahn. Jetzt waren es nur noch wenige Kilometer idyllischer Landstraße, bis er an seinem Ziel war.
Endlich bog er in die Straße ein, die so lange seine Straße war. Er stoppte den Wagen vor seinem Elternhaus.
Er atmete noch ein mal tief durch. Es war alles noch immer so wie damals. Schon vom bloßem Betrachten strahlte dieses Haus Geborgenheit aus.
Er öffnete die Gartentür, die wieder einmal klemmte. Wie oft hatte sein Vater sie schon repariert und wenig später klemmte sie wieder. Er nahm sich vor, sie gleich morgen wieder zu reparieren, genau so, wie sein Vater es unzählige male tat. Seine Mutter würde dann sagen: „Du bist ein guter Junge:“
Dieses Lob würde ihm mehr wert sein, als alles Geld , das er verdiente.
Dann stand er vor der Haustüre und drückte auf den Klingelknopf. Er ging noch einmal im Gedanken durch, was er seiner Mutter sagen wollte. Wie er sich dafür entschuldigen wollte, dass .er so lange Zeit nicht mehr hier war. Es sollten große Worte sein. Versöhnende Worte.
Noch während er in Gedanken war, öffnete seine Mutter die Türe. Ihr Haar war noch weißer, als er es in Erinnerung hatte und sie lächelte ihn an. Das Lächeln, das Geborgenheit bedeutet.
„Da bist du ja Junge“,sagte sie. „Du
musst eine lange Fahrt hinter dir haben. Komm doch erst mal rein und ruh dich aus!“
Er sah sie an. Die ganzen großen Worte waren weg. Alles, was er antworten konnte war:
„Danke Mutter.“