Beschreibung
Hier eine zweite Episode, in der Dichtung und Wahrheit sich wieder in Freundschaft die Hand reichen.
Heimathafen. Vorratskammer
Was doch der Abbruchstaub des kleinen Häuschens nebenan so hoch wirbeln kann. Noch über den alten Fahrradsattel auf meiner Fensterbank hinweg, sehe ich auf unserem Hofplatz Fritz. Fritz unser Hausschwein. Und das ist gut fünfzig Jahre her, wo das fleischfarbene, treue Tier dort unten gerade meiner Mutter um die Beine streift und sie angrunzt. Klar kennt er sie. Er kennt sie ganz genau und Mutter krault ihm zwischen den Ohren, und er mag es. Er weiß nur nicht, dass Mutter ihn so verwöhnt, weil sie in seine geräucherten Schinken beißen will und in die in Erbsensuppe gekochte Schlappernase.
In diesem Jahr war der Fritz doch auf gute zweihundertundfünfzig Pfund gekommen. Und wäre er nicht auf dem glatten Estrich des Stallbodens so unglücklich in seiner eigenen Scheiße ausgerutscht, und wäre er nicht so blöde auf den rechten Schinken gefallen, und wäre er nicht so schrecklich quiekend liegen geblieben, dann hätte Fritz sein Schlachtgewicht, so erzählt die Geschichte, bis zum Schlachtfest Ende Oktober noch um gute fünfundzwanzig bis dreißig Pfund erhöhen, erfressen können. Ja, Mutter, dich trifft keine Schuld. Du hast wie immer jeden Morgen den Stall gemistet. Es ist, wie es ist. So lag das verletzte Tier, dem Schlagbolzen des Schlachters hilflos ausgeliefert, bald auf dem Hofplatz, dort vor den Rosenbüschen, die so herrliche dunkelrote Rosen hervorbringen, übrigens heute noch. Sie könnten euch auch erzählen, liebe Leser, was so in den Jahren auf diesem Hof passiert ist. Immer hier vor der Tür erlegte zum Beispiel mein Kater seine Amazonen. Wer das kennt, weiß, was das für ein Konzert abgibt. Da bleibt des Nachts kein Auge geschlossen. Aber es war ja schließlich mein Kater. Also, ich will euch heute nicht von dem Schlachtfest und dem Familientreffen erzählen. Das ist wie zu einem Begräbnis, es ist ja auch zu Ehren des lieben Fritz. Sie kommen alle zusammen und Lachen und Schwitzen und Kochen und Braten und Kneten und kochen Därme aus und vieles mehr. Sondern, will ich berichten, von den Schinken des guten Schweines Fritz. Der rechte Schinken war durch den Bluterguss des Sturzes sozusagen für das Räuchern untauglich geworden und wanderte in die Wurst. Schade war es schon. Mutter hatte den Fritz so verwöhnt und Fritz hatte sich nun auch tatsächlich alle Mühe gegeben, recht groß und stark und schlachtreif zu werden. So, genug davon. Der linke Schinken war in Ordnung und wanderte zu Wildfang in den Rauch. Das Weihnachtsfest und auch das neue Jahr konnten mit dem frischen Schinken gefeiert werden. Das alles bekamen natürlich auch Gustav und Barbara mit, die zu diesem Zeitpunkt sich erst um sechs Kinder zu kümmern hatten, denn der Peter fehlte damals noch in dieser Sammlung.
So hatten wir bereits Mitte November den bei Wildfang lecker geräucherten Schinken in der Vorratskammer hängen. Der frische Räucherduft zog durch das ganze Haus und natürlich auch durch die Belüftungsgitter nach draußen in den Gang zum Nachbarn. Wir hatten Glück mit dem Wetter, denn es war bereits recht frisch und so hatten wir keinen duftigen Gegenwind aus dem Plumpsklo von nebenan. Wir konnten das zusammengeknüllte Zeitungspapier vor den Belüftungsgittern entfernen und uns freuen, dass am Ende doch noch alles gut war. Vielleicht noch so viel zu den beiden Belüftungsgittern, sie maßen so fünfzehn mal fünfzehn Zentimeter im Quadrat.
Die Freude des Hauses war dann nicht ganz ungetrübt durch die Einladung zu einer Hochzeitsfeier, eine plötzliche Mussheirat, unserer hanseatischen Verwandten. Nicht, dass wir uns nicht über eine Hochzeit gefreut hätten. Da gab es wieder ein Familientreffen und feiern und essen und erzählen und tanzen und lachen und, und, und. Nur hanseatisch feiern, eine Mussheirat und hundert Kilometer mit der Eisenbahn fahren und Mutter musste zum Friseur und ein neues Kleid war auch fällig, und auch ich konnte das gute Tuch von der Einschulung nicht mehr ohne Änderungen an den Körper bringen. Letztendlich, damit sich das Ganze dann auch lohnte, wollten wir den Hanseaten trotzen und nicht nur den Hochzeitsschmaus verzehren helfen, sondern weitere acht Tage bleiben und zu Hagenbek und zu Planten und Bloomen und zu den Landungsbrücken und zum Michel und, und, und. Gesagt getan. Vielleicht noch so viel. Während unserer Abwesenheit fraß mein Kater Rattengift und war hinüber, als wir wieder daheim eintrafen. Die Amazonen hatten sich neu zu orientieren. Er lag auf seinem Lieblingsplatz unter dem Küchenherd und war steif wie ein Brett. Weitere Details will ich euch ersparen. Ersparen will ich euch aber nicht, dass wir trotz unserer großen Trauer um das in Hamburg „verschwendete“ Geld und den Tod meines Katers, meine Mutter den frisch geräucherten Schinken aus der Vorratskammer holte, sie ihn anschnitt und er uns köstlich schmeckte. Schmatz, schmatz, schmatz. Wieder zu Hause.
Dem Schinken geschah nun ein Wunder. Er wurde rapide schlanker und schlanker. Und auch einige von uns selbst eingedosten Blut- und Leberwurstvorräte verschwanden spurlos. Die Katze kam sowieso nicht mehr in Frage und meine Mutter hatte mich in soweit ausgeforscht, das erfuhr ich später, dass nur noch sie selbst – ausgeschlossen – oder mein Vater die Täter sein konnten. Mein Vater reagierte überhaupt nicht auf ihre hinterlistigen Fragen, warum auch, er war völlig unbedarft und unschuldig. Meine Mutter hielt das wohl für einen völlig ungeahnten Charakterzug an diesem Mistkerl. Denn als sie sich nach nunmehr vierzehn Tagen Dosenschwund und Schlankheitskur am Schinken und erfolgloser Detektivarbeit meines Vaters Täterschaft völlig sicher war, rammte sie, so impulsiv wie sie sein konnte, das bereits hervorgeholte Schinkenmesser mit Wucht und Knall vor ihm in den Küchentisch. Wow. Der Holzfußboden erwies sich als guter Leiter und Geschirr und Bestecke schepperten in allen Schränken. Dieser beachtlich tief ins Tischholz gefahrene Messerspalt hat uns noch so einige Jahre die Treue gehalten und so manchen gemütlichen Küchenabend gestartet. Aber heute war andere Stimmung und der Mistkerl, der Dosen- und Schinkendieb, der Frau und Kind bestiehlt, und, und…Ich werde nie den Blick vergessen, mit dem mein Vater sich erhob und die Kulleraugen, mit denen meine Mutter zurück wich. Ich war groß genug, um in Blitzeseile zu sehen, wie sie beide sich in ihrem Blute am Boden wälzten und mich zur Vollwaise stachen. Doch nichts dergleichen geschah. Mein Vater ging entschlossen an die Vorratskammer und Mutter und ich staunten mit offenen Mündern, wie er damit begann, diese Stück für Stück leer zu räumen. Sehr sorgfältig die Regale herausnahm und sich Zugang zu den Belüftungsgittern verschaffte. Auf den ersten Blick nichts. Anfassen und Herausziehen war einfach. Ja, wirklich. Einfach. Meisterhafte Präzisionsarbeit, so mein Vater. Oh, Gott, oh Gott. Meine Mutter fiel tatsächlich vor meinem Vater auf die Knie und faltete um Vergebung bittend die Hände gen Himmel. So wie in der Kirche. Mein alter Herr blieb davon völlig unbeeindruckt, forderte nach einem Bindfaden und einem Stück unseres kostbaren Schreibpapiers. Darauf schrieb mein Herr Papa mit seinem Maurerbleistift:
„Ab heute essen wir den restlichen Schinken alleine.
Dosen stehen es auch keine mehr in der Nähe.“
Bindfaden dran und durch ein Belüftungsloch in den Gang gehängt. Was soll ich noch erzählen? Wie die Nachbarn den Schinken so galant beschnitten haben? Wie Mutter die ganze folgende Nacht Buße tat? Wie die beiden Alten kicherten und lachten dazu?
Vielleicht das noch, weil es mich heute bei den Abbrucharbeiten auch wieder einholt. Warum hat Vater dem Gustav von nebenan am nächsten Tag fünf Mark gegeben? Sein komplettes Taschengeld für einen Monat Juno. Zehn Schachteln Juno a´ 6 Stück. 6o Juno, jeden Tag zwei zum Rauchen! Vielleicht hätte ich ihn doch fragen sollen, aber ich wollte nicht verraten, dass ich es gesehen hatte. Für die Nacht der Buße kann es nicht gewesen sein, denn Ehepflichten wurden damals noch mit anderen Akzenten gesehen. Wahrscheinlich war es für die Präzisionsarbeit an den Gittern, denn mein Vater liebte als Mauermann diese Art der Genauigkeit. Was auch immer es war.
Gut Jungs! Obwohl ihr bei euren Vernichtungsarbeiten mein altes Fahrrad so mitleidslos zertreten habt, bin ich euch heute dankbar für den Vorratskammerstaub.