Jahrstag
Jahrestag
© by Pinball
Es ist blöd, aber wenn ich morgens aufstehe, dann schaue ich auf den Kalender und zähle, wie viele Tage es noch sind.
Am 5. August im letzten Jahr ist es passiert und es sind nur noch wenige Tage bis zu meinem ersten „Jahrestag“.
Eigentlich ist es egal, wie lange es her ist, aber es ist trotzdem ein merkwürdiges Gefühl. Wie lange wird mich dieses Gefühl noch begleiten, wird es weniger werden und irgendwann ganz verschwinden?
Ich weiß, es geht mir gut, es ist alles in Ordnung, kein Grund, sich verrückt zu machen. Alles im grünen Bereich, wie man so sagt, alle Werte stimmen, aber trotzdem ...
Manchmal wache ich in der Nacht auf, horche auf meinen Herzschlag, ist er regelmäßig, war da ein Schlag zuviel, einer zu wenig? Ich fühle, wie mir der Schweiß ausbricht, versuche ganz bewußt ruhig zu atmen, ruhig und gleichmäßig und tief, bis diese Unruhe verschwindet und ich wieder ruhiger werde.
Am Tag, wenn ich in den Garten gehe und auf diese Pflanzsteine sehe, dann ist es manchmal auch wieder da, dieses Gefühl. Für mich ist es mit den Pflanzsteinen verbunden, irgendwie, weil es das letzte ist, an das ich mich erinnern kann, das letzte, das ich getan habe, bevor mich dieser blöde Infarkt von den Beinen geholt und mich abgeschaltet hat.
Das Wohnzimmer, ja, wenn ich da allein sitze, schaue ich manchmal, wo es gewesen ist, wo hab ich gelegen, als sie mich reanimiert haben und dann denke ich, egal, das ist vorbei, mir geht es gut.
Ja und dann ist da die Bahn, dieser Zug, der in Richtung meiner Arbeitsstelle fährt. Auch wenn ich nicht zur Arbeit fahre, es reicht schon, wenn es nur in die Richtung ist. Je länger die Fahrt dauert, umso nervöser und unruhiger werde, feuchte Hände und dieses in mich Hineinhorchen, ist da alles okay, da drinnen?
Aber ich weiß, es geht mir gut, meine Werte sind okay, aber sind meine Gedanken, meine Gefühle, sind das keine Werte? Sicher, keine messbaren, aber sie sind da, und wie sie da sind, manchmal mehr, manchmal weniger und manchmal absolut beherrschend, beängstigend.
Wie oft hab ich dich schon gefragt, wie das alles passiert ist, was alles passiert ist in diesen 14 Tagen, in denen ich nicht da gewesen bin, in meinen Koma-Tagen. Und immer wieder erzählst du es mir und ich sauge es auf wie ein Schwamm – und dann vergesse ich doch so vieles wieder.
Und meine Träume, so real, so unglaublich real waren sie und doch waren es nur Träume und oft frage ich mich, was davon waren wirklich nur Träume?
Gut geht es mir, wirklich gut, das sage ich jedem, der fragt und es fragen viele.
Schonen muß ich mich, Stress und Hektik sind nicht gut für mich, körperliche Anstrengung ist okay, aber vorsichtig und nicht übertreiben. Mache ich auch nicht, und bei Wetterumschwüngen, großer Hitze und Schwüle, da bin ich noch vorsichtiger.
Ich bin vernünftig und es geht mir gut, ja, wirklich, es geht mir gut.
Na ja, da sind eben diese Gedanken und Gefühle, diese Ängste, aber damit muß ich leben, damit kann ich leben, gut leben, die Hauptsache ist LEBEN!
