Autobiografische Geschichten, humorvoll erzählt, entführen in eine ganz andere Zeit, in ein skurril erscheinendes Früher, welches heute erstaunt und verwundert, denn heute ist alles anders, ob auch besser, mag jeder für sich entscheiden.
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Dorfgeschichten
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Kleine Erzählungen
Vorwort
Die Dorfgeschichten entstammen einer Zeit, die man sich heute kaum noch vorzustellen vermag. Sie spielen in den Sechzigern in der ehemaligen DDR. Die kleinen Dörfer in Mecklenburg/Vorpommern waren ziemlich isoliert, denn das Straßennetz war gelinde gesagt schlimm. Dazu kommt, dass die Busse oft nur einmal am Tage in die nächstliegende Stadt fuhren und am Abend wieder zurück. Das war alles, um einmal heraus zu kommen. Ein Auto besaßen die Wenigsten. Somit blieb man in seinem Dorf und versorgte sich mit eigener Tierhaltung und den Früchten des Gartens, ein kleiner Konsum lieferte den Rest.
Ich erlebte die Geschichten so wie erzählt oder ähnlich als Kind aus der Großstadt stammend. Für mich war das eine spannende und glückliche Zeit, auch wenn sie rein materiell betrachtet mit der heutigen nicht zu vergleichen ist, zudem hatten wir damals noch den allertiefsten Sozialismus mit all seinen Besonderheiten. Die vorliegenden Geschichten kritisieren nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse, das ist nicht das Anliegen des Buches, nein, sie zeigen unterhaltsam nur damalige Verhältnisse aus kindlicher Sicht.
Tante Hilde
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Es sind inzwischen unendlich viele Jahre vergangen seit ich das kleine Dorf verließ, um zu studieren, zu heiraten, Kinder zu bekommen, meinen Berufsweg zu gehen. Was alles in diesen schier unendlichen Jahren passierte, soll nicht Gegenstand dieser Erzählung sein, es würde den Rahmen sprengen.
Ich habe mich entschlossen das Dorf meiner Kindheit aufzusuchen, mein Mann sollte mehr wissen als nur ein paar Geschichten und ich wollte erfahren, wie ich diesen Ort mit den Augen einer Erwachsenen sehe und wertschätze. Natürlich sieht so ein Dorf nicht mehr so aus wie früher, das war mir im Voraus schon klar, dennoch so schlimm hatte ich es mir nicht vorgestellt.
Die Schule war nicht wieder zu erkennen, der damals ansehnliche Backsteinbau war schlecht mit grauem Mörtel verputzt und etliche Anbauten verschandelten das Haus. Im ehemaligen Dorfteich stand ein hässliches Haus, das sich „Ihre Kette“ nannte, offensichtlich ein Laden, der alles Mögliche zum Kauf anbot. Das Sozialgebäude, welches früher für viele Dorffeste Räumlichkeiten beinhaltete, war leer, absolut rott und mit Brettern vernagelt.
Den größten Jammer empfand ich als ich das Schloss erblickte. Es war eine Ruine, die Stallungen und Scheunen neben der Hauptzufahrt ebenso. Der Park, die Teiche, nichts war wieder zu erkennen. Alles rettungslos verwildert. Traurig und enttäuscht bin ich durch das Dörfchen gegangen und resignierend musste ich es verlassen. Hier war nichts so wie früher. Es war nur schrecklich.
Am Ende des Dorfes angekommen, wollten wir schon diesem Ort schnell den Rücken kehren, da winkte mir eine alte Frau zu. Erstaunlicherweise rief sie meinen Namen als ich stehen blieb. Ich schaute ihr ins Gesicht und überlegte krampfhaft, wer sie wohl sein mochte. Wer wohnte gleich hier am Ende des Dorfes in diesem Häuschen?
Sie lächelte: „Ich bin doch Tante Hilde“, sagte sie. „Du kennst mich wohl nicht mehr, meine Liebe?“
Ja, doch, dachte ich hoch erfreut und ging auf die alte Frau mit ausgestreckter Hand zu. Meine Mutter gab dem Sohn von Tante Hilde früher Nachhilfeunterricht, jetzt wusste ich, wer sie war. Ich war hier dann und wann und erhielt immer ein Stückchen Kuchen, etwas Schmalzgebäck war immer da für mich. Tante Hilde stand auf, sie saß wie früher auf der Bank vor dem Haus, um ins Haus zu gehen.
„Warte mal kurz!“ sagte sie freundlich. Kurz darauf erschien sie mit einem Teller auf dem ein paar Schmalzkuchen lagen, goldgelb in Zucker gewälzt. „Willst Du einen?“
Ich konnte nicht widerstehen und griff etwas verlegen grinsend zu.
„Du guckst jetzt wie früher“, meinte sie und forderte uns auf, sich mal kurz mit auf die Bank zu setzen. Sie fragte dies und das und hörte aufmerksam zu.
„Ja, hier hat sich auch allerhand entwickelt. Manches ist besser, vieles ist schlechter, nichts ist wie früher aber wir leben irgendwie und es muss ja auch immer weiter gehen. Du warst der Höhepunkt des Tages, “ sagte sie zu mir gewandt zum Abschluss und lächelte dabei wie früher. Das hatte sie zu mir als Kind auch immer gesagt und ich war dann furchtbar stolz.
Ich war der Höhepunkt des Tages, gerührt biss ich in den Schürzkuchen. Wer hätte das gedacht, ich war es immer noch…obwohl so vieles geschah…oder tragischerweise halt auch nicht…
Wichtiges lernen
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Als wir von Berlin nach Mecklenburg zogen, konnte ich immer noch nicht schwimmen und Rad fahren bedauerlicherweise auch nicht. Ich konnte übrigens auch nicht Schlittschuh laufen
Die Dorfkinder bestaunten mich bzw. lächelten über so viel Unvermögen und damit war ich gut bedient. Kinder können nämlich auch ganz anders reagieren. Sie können spotten, dass es weh tut. Komischerweise haben sie das in meinem Fall nicht getan. Heute weiß ich warum. Meine Mutter war ihre Lehrerin und mein Vater war der Hauptbuchhalter, beides hoch geachtet und Respektspersönlichkeiten. Man wagte also nicht, öffentlich über mich zu lachen. Als Kind war mir das nicht klar. Ich dachte alle wären sehr nett und lieb.
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Da wir im Winter zuzogen, musste ich als erstes auf den Dorfteichen Schlittschuhlaufen lernen.
Ein paar olle Schlittschuhe, von Neunzehnhundertkrug, leicht verrostet, fanden sich in unserem Kellergerümpel, ein paar hohe Schuhe auch. Somit konnte es losgehen.
Ein kleines Mädchen aus der Nachbarschaft, sie sollte mein beste Freundin werden (ist sie noch bis heute), versprach es mir beizubringen. Es war leichtes Tauwetter aber die Eisschicht wäre noch dick genug, meinte sie und auf dem Popenteich würde uns keiner bei den Übungen beobachten. Mir fiel ein Stein vom Herzen, denn es war ziemlich peinlich, das Normalste nicht zu können.
Auf dem Teich war eine ein Zentimeter hohe Wasserfläche zu verzeichnen. Das würde rein gar nicht stören, hieß es und ab ging es, zunächst in gebückter Haltung hinter dem Schlitten. Es ging sehr gut und nichts passierte. Dann kam der Moment, wo meine Freundin mir den Schlitten wegnahm und ich endlich alleine laufen sollte, was weniger gut ging. Kurz, ich fiel dauernd hin und war nass bis auf die Knochen. Das gehöre dazu, sagte sie und lächelte.
„Du heulst wenigstens nicht gleich“, sagte sie und das spornte mich an. Ich wollte es unbedingt lernen, meine Schmerzen verbiss ich mir. Mein ganzer Körper war von blauen Flecken übersät, stellte sich später heraus und ich konnte in der Schule kaum sitzen, dafür aber Schlittschuhlaufen.
Später bin ich auf einem anderen Teich, wo alle Kinder dabei waren, bis zum Bauch eingebrochen und habe mich dabei auch wacker geschlagen, indem ich einem kleinen Eisbrecher ähnlich bis zum Ufer stampfte, ganz ohne zu schreien. Die Bemerkungen der Kinder reichten von Anerkennung und Beifall bis zu einer gewissen kindlichen Fassungslosigkeit, die aber nur von kurzer Dauer ist.
Sorge bereitet mir innerlich nur, wie ich es meinen Eltern beibringen könnte, eingebrochen zu sein. Ich entschloss mich, durch die Waschküche das Haus zu betreten, mich dort auszuziehen und mich leise die Treppe in unser Kinderzimmer hoch zu schleichen, in der Hoffnung, sie würden es nicht merken. Die Hoffnung war vergebens, die Predigt nachhaltig, obwohl ich auch ohne diese vom Schlittschuhlaufen ziemlich lange die Nase voll hatte. Außerdem war ja auch einer der Schlittschuhe im Teich für alle Zeiten verblieben. Neue gab es nicht.
Als Nächstes musste ich schleunigst das Radfahren erlernen. Meine Eltern erwarben ein uraltes und viel zu großes, schwarzes Fahrrad, eine olle rostige Scheißklapperchese, wie ich es mehr oder weniger liebevoll nannte. Es war zu groß, um gut fahren zu lernen, so lernte ich eben schwieriger, länger und fiel mehrfach hin. Das Rad überlebte sämtliche Stürze mehr oder weniger gut, ich hatte blutige Knie und war wütend über mich selber, weil ich das Grinsen der Kinder bemerkte und mich das schrecklich ärgerte. Meine Freundin meinte, daraus müsse ich mir nichts machen, die wären eben so, so schadenfroh. Ich würde es schon lernen und außerdem könnte ich ja zurück grinsen, dann würden die sich auch ärgern.
Irgendwann konnte ich aber mit dem Rad einigermaßen umgehen, auch ohne Probleme abspringen und es an einen Zaun lehnen. Später musste ich damit täglich acht Kilometer über Land zur Schule fahren.
Das dritte Problem musste nun auch noch gelöst werden. Unbedingt! Jeder konnte hier bereits schwimmen, nur ich nicht und die Kleinen halt, die in der ersten und zweiten Klasse. Ich war schon Schülerin der vierten und musste endlich ein Schwimmzeugnis ablegen. Dafür meldete mich meine Mutter in ein Schwimmlager an, welches in den großen Ferien an einem nahe gelegenen See, dem Kasdorfer See, durchgeführt wurde. Im Dorf wurden in der Schule in den Klassenräumen Doppelstock-betten aufgestellt und fertig war die Unterkunft für die Nacht. Die LPG-Küche versorgte die Kinder und Erzieher bzw. Schwimmlehrer mit gutem Essen. Die Eltern der Kinder mussten nichts bezahlen für den Lehrgang, was mir natürlich damals egal war.
Meine große Schwester war damals schon Rettungsschwimmer und agierte mit ihren 15 Jahren als Schwimmlehrergehilfin, d. h. sie führte den Schüler am Seil (an der Angel) nach einigen Trockenübungen. Ich hing also bei ihr voller Vertrauen an der Angel.
„Und jetzt springst Du einmal, am Seil natürlich, alleine ins Tiefe“, sagte sie und ich dachte, man würde dabei keinen Schaden nehmen und nicht unter-gluckern. Ich gluckerte natürlich unter, kam aber ruckzuck wieder hoch und schluckte Wasser, weil ich sofort meine Schwester anschrie, sie hätte mich untergehen lassen und hier würde man ja eher sterben als schwimmen zu lernen.
Empört begab ich mich an Land und kehrte allen Schwimmlehrern und Kindern den Rücken, um hier einfach abzuhauen. Ich wanderte zornig in die Unterkunft, um meinen Campingbeutel zu packen, wütend und auch heulend, denn schwimmen konnte ich nicht.
Ich bückte mich, um etwas in den Rucksack zu stecken und schlug mit voller Wucht dabei mit der Birne an den grünen Kachelofen neben meinem Bett. Urplötzlich kam mir ein, dass ich furchtbar blöd war und mich mehr als peinlich verhalten habe, denn ich konnte nicht schwimmen.
Alle würden mich auslachen und das mein ganzes Leben lang, vermutlich würden Mutti und Papa meckern und mich ungerührt wieder hinschicken.
Meine Beule am Kopf indes wuchs und wuchs. Ich drückte ein Messer darauf und legte einen kalten Waschlappen darüber. Danach beschloss ich wieder an den See zu gehen und es noch einmal zu wagen, schließlich war ich ja noch am Leben, konnte sogar denken.
Die Kinder waren alle beschäftigt, auch meine Schwester, keiner nahm groß Notiz von mir. Ich gesellte mich hinzu und nach einer Woche erhielt ich auch mein Freischwimmerzeugnis wie alle anderen auch.
Der Wüstenexpress
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In unserem Dorf gab es eine Schule. Immerhin! Der Unterricht erfolgte in zwei unterschiedlichen Gebäuden, dem eigentlichen Schulhaus, in dem auch der Schuldirektor in der oberen Etage wohnte und es gab außerdem die sogenannte alte Steinbaracke. Hier wurden in einem Raum die Schüler der sechsten und fünften Klasse unterrichtet, weitere Klassenräume waren in diesem Gebäude nicht vorhanden.
Das „große“ Schulhaus hatte auch nur zwei Klassenzimmer, hier lernten die Kinder der dritten und vierten Klasse. Komischerweise mussten die Erst- und Zweitklässler, die Kleinen also, ins Nachbardorf pilgern, welches zwei Kilometer entfernt war. Das dortige Schulhaus hatte einen Klassenraum, indem der Direktor alle Kinder unterrichtete. Natürlich wohnte der Lehrer auch in diesem Haus. Das war so üblich. Er konnte in Hausschuhen am Lehrertisch sitzen. Natürlich hatten auch die Kinder ihre Hausschuhe dabei oder sie behielten einfach ihre Rosshaarsocken an, die man in den Gummistiefeln trug, um nicht kalte Füße zu bekommen.
War das Wetter schlecht und die Straße nass , also mit Schlamm bedeckt, dann trugen alle Menschen, egal ob Groß oder Klein Gummistiefel oder im Winter Filzstiefel. In der Regel fuhren alle Kinder mit einem Fahrrad zur Schule oder aber sie mussten zu Fuß los und eher aufstehen.
Ab der siebten Klasse wurde die Sache etwas problematischer, denn die Zehnklassenschule war in einem Dorf, welches von unserem fast acht Kilometer entfernt war und noch schlimmer: es gab keine vernünftige Straße dorthin. Man baute sie erst später, viel später. So fuhren wir mit den klapprigen Rädern Feldwege. Soweit so gut! In der Winterzeit war aber oft kein Durchkommen und wenn es stark geregnet hatte, ebenfalls nicht. So manchen Tag kehrte wir um und schoben das Rad durch die tiefen Modderlöcher wieder Nachhause.
Die Sache beschäftigte die Eltern, auch die Lehrer, denn die Fehlzeiten waren eigentlich nicht zu vertreten. Uns Kindern war das egal, wir hatten zusätzlich Freizeit und nahmen es als gottgewollt eben hin.
Eines Tages hieß es, eine Idee wäre geboren wie man das Problem einfach aber gut für alle lösen könnte. Der Einsatz des „Wüstenexpresses“ für Schulkinder wurde geplant und musste im Fall der Fälle abgesichert werden.
Die Feldbaubrigade würde schließlich auch damit aufs Feld gebracht werden und zwar bei jedem Wetter. Es handelte sich um einen geschlossenen Aufsatz aus Holz, der auf einem normalen Traktorhänger montiert wurde. Im Inneren wurden Holzbänke aufgestellt und auch so befestigt, dass sie nicht umfielen. Über eine kleine Trittleiter gelangte man leicht nach oben, eine Plane bedeckte die hintere Öffnung.
Ja, und der Traktorfahrer fuhr dann los und meisterte selbstverständlich alle unbefahrbaren Feldwege fast immer, bis auf die wenigen Male, wo auch ein Traktor stecken bleibt. Dann musste man halt warten oder zu Fuß durch den Dreck. Mit einem zweiten größeren Trecker, auch mit Pferden in Ausnahmefällen, wurde der Wüstenexpress aus dem Schlamm oder dem Schnee gezogen.
Somit gab es keinen Schulausfall mehr wegen zu morastiger Feldwege, nur kamen wir manchmal erst nach der ersten oder zweiten Stunde an und mussten nach der Schule warten, dass der Wüstenexpress uns wieder abholte. Das konnte dauern. So manches Mal sind die Kinder doch zu Fuß los und nicht nur einmal blieb man mit seinem Gummistiefel im tiefen Modder stecken.
Im großen Ganzen war der Wüstenexpress der blanke Fortschritt, denn er bot Schutz und brachte die Menschen von A nach B, alles kostenlos für die Nutzer dieser Errungenschaft in einem kleinen Dorf der Sechziger Jahre.
Kultur
Meine Eltern waren schon immer sehr an einem kulturvollen Leben interessiert. Nunmehr auf dem Dorfe lebend, mussten sie lernen, dass die Vorstellungen davon durchaus unterschiedlich sind.
Alles, was uns umgibt kann mit Kultur angereichert werden, ob es nun das Essen, Schlafen oder auch Trinken ist, mal abgesehen von den geistigen Genüssen, die in unserem Dorf im Großen und Ganzen durch den Herrn Pastor in der Kirche erfüllt wurden, zumindest gab er sein Bestes. Für meine Eltern war das nicht genug, sie wussten da gibt es mehr, was man den Dorfbewohnern nahebringen sollte.
So gründeten sie einen Dorfklub, indem sich jeder interessierte Bürger mit seinen Talenten einbringen konnte. Einige konnten recht gut singen, auch laut und fröhlich. So entstand ein gemischter Chor aus Männlein, Weiblein, Jung und Alt. Wer nicht singen konnte, der zeigte andere Fähigkeiten und es wurde eine kleine Theatergruppe geboren, die sich zunächst auf lustige Sketche konzentrierte, später wurde sogar ein richtiges Theaterstück eingeübt. Das ganze Jahr probten alle jede Woche einmal, bis das Programm stand und das Erntefest damit bereichert werden sollte.
Es wurde ein voller Erfolg mit stehenden Ovationen. Das hatte es noch nie gegeben, auch der Herr Pastor war begeistert, am liebsten wäre er auch dabei gewesen aber er traute sich nicht und fürchtete den Autoritätsverlust. Nun ja, er hatte ja seinen persönlichen Auftritt, wenn auch bei weitem nicht so lustig arrangiert.
Es gab aber auch Widersacher. Würde sonst nicht die Bühne samt Schauspieler zusammengekracht sein? In dem bekannten Stück „Der Lügner und die Nonne“ geschah es, als der Bischof die Hand zum Kusse reichte, knackte es im Gebälk und der Bischof ging unter. Das kann passieren, wenn's dem Herrn nicht gefällt. Die Leute klatschten umso mehr.
So zog die Kultur in unser Dorf ein und alle Kinder ließen sich ebenfalls mitreißen, wollten vorführen, was sie konnten und meine Mutter hatte alle Hände voll zu tun. Manchmal schnitt sie sogar den Kindern die Haare, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Würde das heute eine Lehrerin noch tun?
Einmal im Monat fuhr ein Bus mit den Theater-freunden in die Stadt, die ein eigenes Theater hatte. Man staunt aber der Bus war immer gefüllt. Eine Theaterkarte kostete nicht viel Geld und der Spaß während der Fahrt war organisiert und somit gesichert. Der eine oder andere Flachmann kreiste und so war jedes gebotene Stück fröhlich zu ertragen, selbst die dicken Beine des Balletts und der zuweilen schrille Gesang der Sopranistin.
Heute gibt es keinen Dorfklub mehr, auch keinen Chor und keine Theaterfahrt. Die Bibliothek ist verschwunden, der Kinosaal heruntergewirtschaftet. Der Pastor predigt aber immer noch. Für die Kultur im Leben muss wieder jeder allein sorgen, ein schweres Los.
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Fernsehen
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Heute weiß natürlich jeder, dass das Fernsehen und der entsprechende Apparat in jeden modernen Haushalt gehören. Ein Fernsehgerät zu besitzen, wird den Ärmsten auch von Amts wegen zugebilligt. Doch darum soll es hier nicht gehen, denn früher verhielt es sich völlig anders.Â
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Die Geschichte spielte sich in einem kleinen Dorf in Mecklenburg ab. Es liegt fern ab, quasi am Ende der Welt, selbst der klapprige blaue Bus, den sie „Onkel Bräsig“ nannten oder „Mudder Schulten“, endete hier. Er fuhr nur zweimal am Tag in die Stadt ansonsten war Ebbe und man musste zusehen, wie man weg kam, falls das einmal notwendig war. Ein Auto nannten nur drei Leute im Dorf ihr eigen und man kann sagen, sie waren sehr oft für die Menschen im Einsatz. Das war selbstverständlich. Man half sich, wo man kann.
Anfang der Sechziger besaß auch kaum jemand ein Fernsehgerät. Genaugenommen nur zwei Familien, eine davon wohnte, von uns gesehen, schräg gegenüber. Es war eine kleine Sensation, der Schwarzweiß-Fernseher flimmerte eine neue Welt ins Wohnzimmer. Man staunte und wollte ihn und die wundersamen Sendungen, besonders an den Sonnabenden, genießen. So klopfte man an die Tür des stolzen Fernseher-Besitzers und bat, etwas verlegen, um einen bescheidenen Platz im kleinen Wohnzimmer. Das Zimmer war bald gefüllt mit den fernsehhungrigen Nachbarn, die überall, auch auf dem Fußboden saßen, um einer bunten Sendung zuzuschauen. Die Eigentümer des Fernsehers erlaubten es lächelnd und sie waren von großem Stolz erfüllt. Im Hausflur türmten sich indes die Schuhe und Jacken.
Man saß beieinander, rauchte, schwatzte, aß Kekse und der eine oder andere Kööm machte die Runde. Die Kinder starrten wie gebannt auf den Bildschirm und sie durften sich dabei nicht mucksen, ansonsten drohte der Rauswurf bzw. man musste nach Hause gehen. So waren wir brav, um bis zum Ende der Sendung bleiben zu dürfen.
Die Hausfrau öffnete das Fenster, denn Onkel Erwin hatte fürchterliche Blähungen. Es wäre das Kraut, hieß es. Deshalb trank er noch einen ordentlichen Kööm, wegen der besseren Verdauung sagte er mit etwas schwerer Zunge. Einige Leute meinten leise, dass er lieber rausgehen solle an die frische Luft, wenn er wieder einen fahren lassen muss.
Wir Kinder mussten kichern. Der arme Onkel Erwin wollte nicht an die frische Luft, denn er gedachte die bunte Sendung bis zum Schluss zu erleben. Und das verkündete er auch mit lauter Stimme, wobei er es noch einmal krachen ließ. Die Männer lachten, die Frauen, die in der Nähe sitzen mussten, waren empört. Onkel Erwin meinte, dass alles nur menschlich sei und die Flatulenz nahm ihren Lauf. Irmchen scheuerte darauf dem unangenehmen Sofanachbarn eine und erntete Beifall von einigen anderen nicht mehr besonders aufmerksamen Fernsehzuschauern.
Die Hausfrau trug zwei Vasen in die Küche und stellte sich schützend vor das Fernsehgerät, was nicht ganz dumm war, denn Erwin war vom Sofa gefallen und versuchte aufzustehen, dabei war er auf die Katze getreten, die sich quietschend mit einem Satz in die Gardinen in Sicherheit brachte.
Emmi, die Hausfrau schrie ihren Mann an, dass der die Leute endlich rausschmeißen solle, weil der Fernsehabend nun beendet wäre. Meine Mutter stand schon im Flur und versuchte Papa zum Gehen zu bewegen aber der hoffte noch den Film zu sehen, meinte aber, dass die Kinder nun unbedingt nach Hause müssten. Das Programm und die Atmosphäre wären nicht gut für Kinder.
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Leider wurden wir gezwungen aufzubrechen. Die Atmosphäre fanden wir allerdings sehr spannend und eigentlich viel interessanter als die bunte Sendung im Fernsehen.
Papa kommentierte am nächsten Tag, alles hätte noch friedlich geendet und es wurde noch sehr gemütlich. Nach dem Film befragt, wusste er nicht mehr genau wie er war. Mir kam der Verdacht, dass das Fernsehen später nicht mehr im Mittelpunkt stand. Mutti vertrat die gleiche Meinung.
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Kino
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Nicht jeder hatte schon einen Fernseher und in die Stadt zu fahren, um einmal ins Kino zu gehen, war schwierig zu organisieren, denn kaum jemand hatte ein Auto. Man müsste am späten Nachmittag mit dem Bus hin fahren und zurück eine Taxe anheuern, was eigentlich viel zu teuer war. Für einen Kinobesuch wäre dieser Aufwand nicht zu verantworten.
Es gab aber eine Alternative: der Kinofritze könnte doch ins Dorf kommen und hätte durch den regen Besuch ein volles Haus garantiert. Damals gab es den fliegenden Kinofritzen, der natürlich staatlich finanziert wurde. Man musste nur einen entsprechenden Vertrag bekommen und einen Kinosaal nebst Leinwand zur Verfügung stellen. Genau das galt es zu organisieren.
Das Problem war der „Saal“. Man erwog den großen Speiseraum im Sozialgebäude dafür einzurichten, allerdings müsste das Essen dennoch stattfinden können. Zahlreiche Leute, auch die Lehrlinge gingen dort zum warmen Mittagessen.
In diesem Gebäude fand sehr viel statt, es hieß ja schließlich auch Sozialgebäude. Der Friseur brachte einmal die Woche die Köpfe der Bedürftigen in Ordnung, wer kein eigens Bad hatte und das waren viele, der konnte dort baden oder duschen und in einem der Räume befand sich die „Bibliothek“ des Dorfes, die aus einem sehr, sehr großen schwarzen Bücherschrank voller gespendeter Bücher bestand. Eine Rentnerin versah ehrenamtlich den Ausleihdiest. Darüber hinaus wohnten im Obergeschoss einige Familien, auch der Hausmeister und die Gemeindeschwester., die dann und wann eine Sprechstunde abhielt. Standen Feste an, wurde der Saal zur Tanzfläche und die Dorfcombo spielte Twist und andere scharfe Sachen, man tanzte, dass die Heide wackelte und trank giftgrünen Pfefferminzlikör und anderes. Das Sozialgebäude, ein Hort der Kultur! Hier feierte man den Frauentag und die Kinderweihnachtsfeier aber auch Erntefeste und so manche Hochzeit, eine Kinoveranstaltung wäre das I-Tüpfelchen. Nun, so kam es auch.
Fleißige Hände mussten die Tische wegschaffen und Stuhlreihen aufstellen, die große Leinwand musste aufgebaut werden und den Rest besorgte der fliegende Kinofritze, der mit seinem ganzen Geraffel in einem Transporter erschien, wenn auch nicht immer pünktlich. Er baute seinen Kram auf, kassierte und los ging es. Man verstand nicht immer alles, denn die Maschinen standen im selben Raum und verursachten einen Mordskrach, manchmal riss ein Film und manchmal war alles beendet, weil der Strom ausfiel. Zuweilen war der Kinofritze auch ein bisschen besoffen, denn im Nachbarraum (die Bibliothek) war schnell ein kleiner Ausschank organisiert. Der Mann, der den Konsum betrieb, leitete ihn, denn eine eigene Kneipe gab es in unserem Dorf nicht. Es war nicht ganz einfach, wenn der Strom ausgefallen war, etwas Besseres zur Überbrückung zu finden. Man wollte den Film zu Ende sehen, schließlich war ja der Eintritt bezahlt. So verging die Zeit, bis der Strom wieder kam, recht lustig. Wehe wenn der Kinofritze dann die Apparatur nicht mehr zum Laufen brachte, dann bezog er schon einmal die eine oder andere Maulschelle.
Über kurz oder lang war der Kinobetrieb im Sozialgebäude nicht aufrecht zu erhalten. Es gab Klagen. Ein anderer besserer Kinosaal musste her. Es gab im Dorf ein altes Schloss, indem so allerhand Leute wohnten aber auf der Rückseite des Gebäudes war ein sehr großer Raum. Er wurde bislang nicht genutzt.
Nun, man entschloss sich, hier zu investieren, zumal die Gegebenheiten sogar einen extra Raum für die Kinoapparatur zuließen, somit wäre kein Lärm mehr und man würde keine Stühle mehr bewegen müssen. Der Umbau wurde bewältigt und ein Dorfkino vom Feinsten entstand. Was hier passierte, wenn einmal der Strom ausfiel, ist nicht überliefert.
Heute ist der Kinoraum als solcher nicht mehr zu erkennen. Alles ist zerfallen, kein Mensch wohnt mehr in diesem Schloss und saniert ist es auch nicht. Es zerbröselt. Vermutlich ist der Eigentümer uninteressiert und die Leute, die dort einmal gewohnt haben, sind gestorben.
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Reini
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Die Familie lebte schon ein paar Monate im Dörfchen. Sie waren aus Berlin direkt zugezogen und waren dabei, sich so allmählich einzugewöhnen. Für das kleine Mädchen gab es sehr viel Neues, zum Beispiel die kleine Dorfschule, in der sie bis zur sechsten Klasse von fünf Lehrern abwechselnd unterrichtet wurde. Die Besonderheit bestand darin, dass zwei Altersgruppen Unterricht in einem Raum erhielten. Die eine Gruppe hatte sich leise zu beschäftigen, während die andere dem Lehrer zuhören musste. Das war schon absonderlich, zumal auch einige überalterte Schüler auf den hinteren Bänken saßen. Sie waren mehrfach sitzen geblieben, hieß es. Reini gehörte auch zu diesen Schülern, alle nannten ihn Opi.
Reini wurde von seinem Opa erzogen, die Oma war schon gestorben und die Eltern ebenfalls. Der Opa hatte ein paar Schweine, Kaninchen, Hühner, Gänse, Enten und einen kleinen Garten. Er wohnte mit seinem Enkel in einer Schnitterkate. Bequemlichkeiten gab es nicht, weder ein Bad, geschweige denn eine Wassertoilette. Man musste auf ein Plumpsklo im Garten gehen.
Reini hatte vor der Schule viele Pflichten. Er musste die Tiere füttern und im Sommer oft noch ein bis zwei Stunden zum Rübenverziehen aufs Feld. Das war hart. Reini schlief mit dem Kopf auf der Bank und konnte dem Unterricht wenig folgen.
Manchmal hatte Reini an den Waden dicke Striemen und manchmal gab die Lehrerin ihm ein Sitzkissen. Das kleine Mädchen fand das sehr merkwürdig. Die anderen Kinder meinten, dass Reini dann vom Opa bestimmt wieder Schacht bekommen hätte. Warum, fragte sich das Mädchen? Warum bekommt Reini bloß andauernd Kloppe und warum muss er vor der Schule so viel arbeiten? Kinderarbeit ist doch verboten. Sie beschloss das dem Opa einmal zu sagen.
Lange dachte sie darüber nach, wie sie es anstellen müsste, um nicht am Ende auch noch Senge zu beziehen, was sie als sehr schlimm aber eigentlich als unmöglich wähnte. Die anderen Kinder machten einen Bogen um den Opa und hielten gar nichts von der Idee, mit dem Alten zu sprechen. Der würde sofort schreien und seinen Gürtel schwingen, um sie zu verdreschen, so wie er es immer mit Reini tat, sagten die Kinder.
Das kleine Mädchen hatte Mitleid mit Reini, denn sie selber brauchte weder vor der Schule noch nach der Schule zu arbeiten. Sie war immer ausgeschlafen und konnte aufpassen, sie durfte nach den Schularbeiten spielen und war nur für die Ordnung in ihrem kleinen Zimmer zuständig, welches sie mit der Schwester teilte. Die Mutti war als Lehrerin tätig und genoss großes Ansehen. Der Opa würde es bestimmt nicht wagen, ihr etwas zu tun.
Sie musste etwas unternehmen, sonst würde Reini wieder sitzen bleiben. Am Ende würde er ewig auf der letzten Bank im Klassenzimmer hocken und schlafen, von dem Sitzkissen ganz zu schweigen.
 Reinis Opa saß am Sonntag auf der Bank vor seiner Kate und rauchte. Reini war Löwenzahn stechen für die Karnickel. Der Opa sieht gar nicht so böse aus wie er so dasitzt, dachte das kleine Mädchen und stellte sich mit etwas Abstand vor ihm hin.
„Guten Tag“, sagte sie laut. Der Opa schaute sie erstaunt an. „Tach auch“, antwortete er und wartete.
„Ich wollte Reini ein bisschen bei der Arbeit helfen“, sagte sie fest. Der Opa schaute noch erstaunter. „Warum?“ fragte er nun.
„Weil er immer so müde ist und gar nicht in der Schule richtig aufpassen kann und ich muss ja nicht morgens und abends arbeiten und Reini soll nicht noch einmal sitzen bleiben,“ sprudelte das Mädchen heraus, ging aber vorsichtigerweise einen Schritt zurück.
Der Opa runzelte die Stirn und sagte eine Weile nichts, schaute kurz auf seine Taschenuhr und zeigte anschließend in Richtung des Hausgartens. „Er ist da hinten.“
Das kleine Mädchen ging zu Reini in den Garten und zupfte mit ihm Butterblumenblätter bis der Korb voll war. Der Junge verzog keine Miene, sagte aber anschließend: „Dankeschön!“ Das kleine Mädchen hopste davon und freute sich. Sie hatte dem Opa alles gesagt und Reini ganz viel geholfen. Jetzt würde alles gut werden, dachte sie.
Am nächsten Tag erschien Reini nicht in der Schule. Zwei Polizeiautos erschienen am Abend im Dorf und standen vor der Kate, in der der Opa mit Reini wohnte, ein geschlossener Zinksarg wurde heraus getragen und in ein drittes größeres Fahrzeug geschoben. Die Leute erzählten, dass er mit einem Brotmesser in der Brust in seinem Bett aufgefunden wurde. Die Nachbarin hatte vorbei geschaut, weil die Schweine nicht gefüttert wurden. Sie beobachtete immer alles. Reini war verschwunden.
Manche Leute widersprachen. Sie meinten der Opa wäre einfach so gestorben, er hätte es ja mit dem Herzen.
Aber wo war Reini? Im Nachbardorf brannte in der folgenden Nacht eine Scheune gänzlich nieder. Man fand etwas später die verkohlten Reste eines Rucksackes, einer Gürtelschnalle und einer Taschenuhr. Das Gerede nahm kein Ende und Reini blieb verschollen.
Die Leute lesen meist schlechte Krimis und dann geht mit ihnen die Fantasie durch, könnte man denken. Doch man weiß ja nie, was wahr ist und was nicht.
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Das Schwein
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Im Dorf hatten fast alle ein bis zwei Schweine, die für den Eigenbedarf in ein bis zwei kleinen Buchten gehalten wurden. Man fütterte sie, mistete dann und wann aus und damit war dem Schweineleben genüge getan. Die armen Viecher erblickten nie das Tageslicht, geschweige konnten sie sich draußen an der frischen Luft mal wohlig, schweinemäßig im Schlamm suhlen. Sie mussten fressen und fett werden. Das war ihre Aufgabe.
Weiß so ein Schwein, wie es ist, sich saumäßig wohl zu fühlen? Das kleine Mädchen dachte manchmal, dass ein Mensch Schwein haben kann und damit halt Glück hat aber das Schwein dabei eine arme Sau ist, denn es wird immer irgendwann geschlachtet. Das arme Schwein!
Und so begann es, das Unglück. Die Eltern des Mädchens hielten sich kein Schwein, dennoch beabsichtigten sie eines zu kaufen und hinter ihrem Haus schlachten zu lassen. Der Schlachtermeister würde mit seinem Bolzenschussgerät kommen und das Schwein abmurksen. Man würde es stechen, damit das Blut gewonnen wird und es würde gebrüht werden, alles würde aus dem Bauch herausgeholt werden, wenn es auf der Leiter liegt, um damit die Wurst, die Leber und Blutwurst zu kochen. Die Frauen aus dem Dorf stehen dabei mit Rat und Tat zur Seite. Und dann dieser „Möhrbroan“! Kein normaler Mensch weiß, was das sein könnte aber ohne ginge es angeblich gar nicht.
Das kleine Mädchen wollte das Ganze nicht. Sie fand das Schlachten entsetzlich, das anschließende Wellfleischessen höchst widerlich, die Wurstmacherei, das Blutrühren nicht minder. Die Männer lachten und nahmen einen Schluck. Ein ordentlicher Schluck gehöre dazu, meinten sie bis sie völlig duhn waren. Sie aßen schmatzend das wabblige heiße rosa Wellfleisch mit Mostrich und brüsteten sich, wie viel Schweine sie letztes Jahr geschlachtet hätten.
„Schweinemörder“, dachte das kleine Mädchen und war heidenfroh, dass ihr Papa nicht dabei war. Er konnte nicht zusehen. Aber Wurst und Schinken wollte er auch. Mutti meinte, dass Männer immer Fleisch und Wurst wöllten. Das Mädchen fragte noch warum eigentlich aber Mutti winkte einfach ab und sagte, dass die das eben brauchen.
„Du willst doch auch eine Leberwurststulle, oder?“, fügte sie noch hinzu.
„Nein, und außerdem kann man Leberwurst im Konsum kaufen“, sagte das Mädchen ernst und etwas altklug.
„Das arme Schwein. Jetzt ist es tot“, schrie sie dann, „und es hatte ein Scheißleben in seiner dreckigen Buchte. Ich esse jetzt zur Strafe nur noch Marmeladenstullen. So.“
Die Mutter lächelte. Das kleine Mädchen rannte empört davon. Sie wollte jetzt unbedingt etwas für die Schweine, die noch lebten, unternehmen. In die Privatställe würde sie nicht unbemerkt hinein kommen aber am Dorfrand waren die Ställe des landwirtschaftlichen Betriebes, der Papa ihrer besten Freundin arbeitete dort als Schweinemeister. Sie war schon in dem großen Stall, in dem sehr viele Schweine grunzten. Sie durften dort zwar manchmal raus in ein kleines Vorgatter, aber sehr selten. Eigentlich sollte sie auch nur fressen, um geschlachtet zu werden. Sie wurden dafür in große Autos geladen und in einen Schlachthof gebracht, dabei schrien die Tiere ganz erbärmlich. Vermutlich ahnten sie, was ihnen bevorstand. Die armen Schweine!
Das kleine Mädchen versammelte ein paar verlässliche Freunde um sich und hielt einen flammenden Vortrag für die allerärmsten Schweine der Welt. Man müsse sie einfach freilassen. Sie würden dann in den Wald laufen und könnten sich vor den Männern mit den Bolzenschussgeräten verstecken, keiner würde sie einfach brühen oder in ihrem Blut herum rühren.
„Wir müssen den Schweinen helfen!“ rief sie. Die Kinder nickten. Und so geschah es.
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Sie gingen ganz unauffällig am Samstagmittag in die Ställe und öffneten alle Türen. Die Schweine rührten sich nicht. Ratlos standen die Kinder vor dem großen Stall. Nicht eine einzige Sau ließ sich blicken.
„Wir müssen sie scheuchen“, meinte das Mädchen. Ein Junge hatte eine Trillerpfeife. Und pfiff damit. Die Schweine grunzten und hielten ihre Rüssel in die Luft. Schließlich entschloss sich eines aus seiner Buchte auf den Stallgang zu kommen. Die Kinder jubelten. Ein paar andere Tiere kamen hinterher und wagten sich aus dem Gebäude.
Doch was die Kinder nicht bemerkt hatten, zwei Männer rannten auf den Schweinestallvorhof, um die Schweine wieder in den Stall zu treiben.
„Ihr bleibt hier“, riefen sie böse den Kindern zu, denn einige wollten sicherheitshalber verschwinden. Die Männer hatten zu tun. Einige Kinder waren dennoch abgehauen, ihnen schwante Unheil.
Eine Sau war inzwischen auf die Dorfstraße gelaufen und bewegte sich gemächlich mitten durch die Häuserreihen. Keiner bemerkte sie und so lief sie durch eine geöffnete Pforte, die Kirchhofpforte und wühlte ein wenig in den Gräbern, um sich dann neben dem Wasserhahn in einer Pfütze nieder-zulassen. Die Sau fühlte sich so echt wohl. Vermutlich das erste Mal in ihrem Leben.
Alle anderen Schweine waren wieder im Stall, die Kinder mussten sich eine gepfefferte Schimpf-kanonade anhören und es würde Folgen haben hieß es noch drohend. Als Folgemaßnahme wurde der Stall nun immer abgeschlossen. Alle gingen nach Hause.
Am nächsten Tag, als das halbe Dorf wie immer sonntags in die Kirche ging, war nicht zu übersehen, was ein glückliches Schwein so anzurichten vermag. Doch das Schwein blieb verschollen. Das kleine Mädchen dachte ein wenig triumphierend:
„Es hat Glück gehabt!“ und die Leute sollen ruhig zur Strafe den Kirchhof wieder herrichten, geschieht ihnen ganz recht, dachte sie und grinste dabei ziemlich schadenfroh.
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Hansi
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Vor fast fünfzig Jahren war sie aus der großen Stadt als kleines Mädchen mit den Geschwistern und Eltern im Dörfchen angekommen und verlebte unbeschwerte Kindertage.
Vierhundert Seelen lebten ruhig und zufrieden, arbeiteten in der Regel bis auf wenige Ausnahmen in den Ställen und auf den Feldern. Es gab ein ehemaliges großes Gutshaus, in dem viele Familien nach dem Krieg eine Wohnung fanden. Ein breiter Zufahrtsweg mit Kopfsteinpflaster führte zum Haupteingang des Hauses, rechts und links waren die Stallungen und Lagerräume, im hinteren Teil des Gutshauses befand sich der Saal. Man nutzte ihn für Festlichkeiten und für Kinovorführungen. Hinter dem Gebäude hatte man früher verschiedene sehr schöne Teiche angelegt, in denen man bei Bedarf im Sommer auch badete oder im Winter Schlittschuh laufen konnte. Das war nicht schlecht und sehr unterhaltsam, zumal sich unmittelbar hinter den Teichen ein parkähnliches Gelände ausdehnte, welches ebenfalls für Festlichkeiten gerne genutzt wurde. Für Jung und Alt gab es somit kaum Grund für Langeweile.
In diesem Dorf gab es zudem eine Schule, eine Kirche und das Sozialgebäude, in dem man das Mittagessen für wenig Geld einnehmen, Bücher ausleihen, den Friseur aufsuchen (einmal die Woche) und sich zu den diversen Dorffesten nach den Klängen einer dorfeigenen Combo im Tanze vergnügen konnte. Vieles war hier möglich, sogar ein Zimmer für Gäste war hier für den Notfall zu mieten, kein Problem. Man war stolz auf den kleinen Laden, der alles Wichtige im Sortiment führte, für das Große musste man sich halt in die Stadt bemühen. Der Bus fuhr einmal am Tage hin und am Nachmittag zurück. Das war in Ordnung, fanden die Dorfbewohner.
Die Welt schien einigermaßen in Ordnung bis Hansi sich im Dorfteich ertränken wollte.
Hansi war einer der Lehrlinge, die in dem Haus am Teich wohnten. Er wurde zuweilen ein wenig gehänselt, weil er anders war, weil er die Mädchen nicht so liebte wie es sich in seinem Alter gehörte. Nein, er suchte schon auch ihre Nähe, ihre Freundschaft, er liebte sie jedoch irgendwie anders, schien es. Er wollte so sein wie sie. Dann und wann zog er sogar ganz gerne Mädchenkleider an, denn er wäre gerne selbst ein Mädchen, viel lieber als ein Junge und er sang leidenschaftlich Schlager, kannte jeden Text und wusste genau, was Mode war, welchen Tanz man tanzte und wer mit wem ging. Er konnte sehr gut nähen und stricken auch. Die Jungs hielten ihn für reichlich meschugge.
Hansi war eigentlich einer der Lustigsten. Die Mädchen mochten ihn. Natürlich nicht für die wirkliche Liebe. Dafür schien Hansi kaum brauchbar, glaubten sie. Doch da irrten sie sich wirklich, denn Hansi würde ein Mädchen glücklich machen können, wenn sie nur wollen würde. Das wusste er und er hatte sich auch schon eines der Dorfmädchen ausgespäht. Es wusste nichts von Hansis Interessen, Neigungen und Plänen. Das erwählte Mädchen lachte manchmal ein bisschen mit und über Hansi, wie es halt alle taten. Hansi sagte nichts aber er merkte, dass sie auch über ihn lachte. Das tat weh, denn er wusste eigentlich nicht warum. Er war freundlich, immer gut gelaunt, wenn Menschen in seiner Nähe waren, er war hilfsbereit und freigiebig, ehrlich und redete niemals hinter dem Rücken anderer. Hansi war ein guter Junge.
Eines Tages fasste sich Hansi ein Herz und fragte das Mädchen, warum es immer so komisch lacht, wenn er allen etwas vorsang und sich dabei manchmal ein Kleid anzog, um den Schlagersängerinnen ähnlicher zu sein. Er wollte es nur besonders gut machen und ihr, nur ihr wirklich gefallen.
„Du hast eine Meise Hansi“, sagte sie und tippte an seine Stirn, “aber du gefällst mir nicht so, na du weißt schon. Ich kann niemals mit dir gehen, falls du das irgendwie denkst. Du bist behämmert aber du bist witzig, deshalb lachen wir.“
Hansi war von dem, was das Mädchen sagte, sehr betroffen. Er war völlig deprimiert. Er war tödlich getroffen. Das hätte er nicht gedacht. Hatte er doch immer geglaubt, man würde ihn mögen, wenigstens die Mädchen, die ja nicht so gemein waren wie die Jungs, die von Haus aus gemein waren.
Es ließ ihm fortan keine Ruhe mehr, was sie sagte. Er hatte also eine Meise und war behämmert, kein Mädchen würde deshalb je mit ihm gehen, er würde alt und einsam sterben. Er würde einsam sterben, behämmert und mit einer Meise. Hansi fand die Gedanken daran täglich unerträglicher. Und wie er wieder einmal in dem Haus am Teich alleine im Zimmer hockte, aus dem Fenster starrend, erblickte er eine Ente, deren Kopf im Wasser des Teiches verschwunden war. Er stand auf, ging aus dem Haus und schnurstracks in den Teich hinein. Es war Feierabend, die Jugendlichen saßen auf den Bänken am Teich und lachten.
Das kleine Mädchen stand rein zufällig auch am Teich um den Enten zuzuschauen. Sie sah Hansi, wie er in den Teich marschierte. Mit Sachen! Alle lachten. Hansi war in der Mitte des Teiches angekommen. Es war nicht sehr tief, nicht tief genug. Er bückte sich, um den Kopf ins Wasser zu stecken. Alle lachten. Hansi blieb lange unter Wasser. Das kleine Mädchen entschloss sich zu schreien. Sie rief „Hansi, Hansi, du musst jetzt wieder auftauchen!“
Es dauerte noch ein bisschen, dann kam er hoch…und fiel um. Das kleine Mädchen schrie nun noch lauter. Die anderen lachten immer noch aber einer sprang in den Teich, um Hansi heraus zu holen. Hansi weinte leise vor sich hin, ließ sich aber an Land führen. Er trottete ins Haus. Er hatte gesehen, dass sein Mädchen auch gelacht hat.
Am nächsten Morgen fand man Hansis leblosen Körper im Hofteich, der ein wenig tiefer war. In der Mitte konnte Hansi nicht mehr stehen. Nun lachte keiner mehr über Hansi.
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Das Wildschwein
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Im November geht man nicht so leicht und unbeschwert in die Natur hinaus. Der Nebel, der Geruch von feuchtem Laub, das frühe Dunkelwerden, dämpfen die Stimmung, das Schreien der Krähen erheitert sie kaum. Dennoch zwingt sie sich, jeden Tag einen Spaziergang durch die Straßen des Wohngebietes und die am Stadtrand befindlichen Felder zu unternehmen. Die Rüben waren auch schon raus und warteten in riesigen Haufen auf ihren Abtransport zur Zuckerfabrik. Der Horizont ist im Nebel verschwunden, die Gedanken an den kommenden Winter machten ihr zu schaffen. Und wieder flatterten die Krähen in den kahl werdenden Bäumen herum. Ihre krächzenden Laute versetzten sie in die Vergangenheit.
Sie fuhr mit ihrer Freundin auf ihrem klapprigen Fahrrad nach der Schule nach Hause. In der Apfelplantage hingen noch ein paar vergessene Äpfel an den Bäumen, das Laub war schon abgefallen. Sie konnten sich die Früchte leicht abpflücken und beschlossen ihre Beute gleich zu verspeisen. Bei den Weiden vielleicht, dort hatten sie im Sommer sich immer ein paar Minuten ausgeruht. Die schwarzen Krähen saßen in den Bäumen und schienen sie zu beobachten.
Die beiden Mädchen kletterten in die Weiden, jede in eine und krächzten laut und lustig wie die Krähen. Sie fanden ihr absonderliches Tun und Schreien ungeheuer witzig. Dann kramten sie die Äpfel hervor. Sie schmeckten wundervoll. Kalt, süß und sehr saftig.
Plötzlich näherte sich ein einzelnes, ziemlich großes Wildschwein den Weiden. Es kam aus dem nahe gelegenen Wald. Die Kinder bekamen einen Mordsschreck und schmissen mit den Äpfeln nach dem Tier. Das Schwein betrachtete die Gabe vermutlich als besondere Fütterung und kam näher statt abzuhauen. Nachdem es alles aufgefressen hatte, rieb es seinen kräftigen borstigen Leib an der Weide. Das Mädchen saß mit vor Schreck geweiteten Augen auf dem Baum und dachte ihr letztes Stündlein sei nun gekommen. Die Freundin auf dem anderen Baum sagte auch keinen Piep mehr.
Das Schwein hatte offensichtlich die Ruhe weg, es ließ sich direkt am Stamm der Weide nieder und grunzte genüsslich. Die Mädchen oben auf den Bäumen sahen keine Chance herab zu steigen. Sie mussten ausharren. Irgendwann würde das Untier doch weggehen, hofften sie inständig. Ab und zu krächzte eine Krähe aber das Schwein blieb liegen.
„Ich muss mal“, sagte das Kind in der Weide und es klang ziemlich kläglich.
„Ganz nötig“, fügte sie noch verzweifelt hinzu. Was sollte sie tun, sie konnte sich doch nicht in die Hosen machen? Die Freundin meinte leise: “Dann mach einfach. Es sieht ja niemand.“
So geschah es also. Die Kleine zog umständlich ihren Schlüpfer aus und strullte dem Wildschwein auf den Pelz. Das Tier schien es zu bemerken, denn es stand gemächlich auf und hob den Kopf. Oh, Je! Die Kinder hielten den Atem an, der Schlüpfer segelte wie ein altes Blatt langsam zu Boden. Das Schwein schnüffelte kurz daran, drehte sich um und trottete in Richtung Wald. Vielleicht dachte es, man müsse nun aufbrechen, weil es zu regnen beginnt. Man weiß es nicht. Was wilde Schweine so denken, ist bis heute nicht wirklich geklärt.
Die beiden Mädchen stiegen, als das Schwein weg war, von den Weiden und fuhren so schnell es ging nach Hause. Sie schworen sich, dieses furchtbare Geheimnis niemals einer Menschenseele anzuvertrauen. Es war auch zu peinlich, was ihnen passierte und es hätte noch viel schlimmer kommen können.
In Gedanken versunken aber lächelnd beendete sie ihren Herbstspaziergang. Belustigt sah sie den krächzenden Krähen nach. Die Zeit war gekommen. Jetzt erst würde sie das schreckliche Geheimnis vom „beregneten“ Wildschwein lüften und die Öffentlichkeit darüber aufklären, was man tun muss, um ein Schwein in die Flucht zu schlagen.
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Elfi
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In den Sechziger Jahren trugen fast alle Mädchen Zöpfe, manchen hatten darüber hinaus noch so einen kleinen Hahnenkamm gesteckt. Sie hatte weder Zöpfe noch einen Hahnenkamm, sondern einfach einen kurzen Haarschnitt, wie ihn freche kleine Berliner Mädchen halt hatten. Jetzt wohnte man allerdings in einem kleinen Dorf im tiefsten Mecklenburg, indem alles anders war, nicht nur die Haartracht der Kinder und alten Omas.
Die Kinder mussten den Eltern gegenüber unbedingt Gehorsamkeit erweisen, sonst blühte ihnen Sonstwas, hieß es. Sie verstand erst nicht, was dieses Sonstwas sein könnte, bis sie im Turnunterricht, diverse blaue Flecken und Striemen an den Körpern mancher Kinder sah. Wenn man nicht artig ist, gäbe es Schacht, sagten die Kinder. Das kleine Mädchen kannte diesen Begriff auch nicht aber man klärte sie schnell auf. Die Eltern verkloppten also regelmäßig ihre Kinder, musste sie tief bestürzt zur Kenntnis nehmen.
Ein Mädchen mit langen blonden Zöpfen und einem Hahnenkamm hatte auch beängstigend viele blaue Flecke. Nach dem Warum befragt, meinte sie, dass ihre Mutter gerne möchte, dass sie die Bibel auswendig lernen soll. Jeden Tag ein bestimmtes Pensum, welches sie am nächsten Tag aufzusagen hätte. Der Pastor würde sich freuen und es würde nicht schaden.
Das kleine Mädchen wunderte sich sehr und schüttelte etwas altklug den Kopf. Man musste ja schon in der Schule hin und wieder ein Gedicht auswendig lernen. Sie fand das ausreichend. Über die Bibel konnte sie natürlich nichts sagen, denn sie musste als Lehrerkind nicht vor dem Unterricht in die Bibelstunde zum Pastor. Noch in Berlin wohnend war sie die ersten zwei Schuljahre allerdings auch in der Christenlehre aber dort musste man keine Bibel auswendig lernen. Man bekam vorgelesen und darüber hinaus bunte Jesusbilder geschenkt. Das war zu ertragen.
Elfi tat ihr furchtbar leid. Sie würde diese dicke Bibel niemals auswendig können, soviel war gewiss. Ob Elfis Mutter vielleicht ein bisschen bekloppt ist, dachte sie. Was kann man da machen? Bekloppten ist meist nicht zu helfen, doof bleibt doof, war ihre Meinung. Sie hatte diese Art, ein Urteil zu fällen aus Berlin mitgebracht. Das kleine Mädchen war jetzt 11 Jahre alt und dazu erzogen, gegen Unrecht etwas zu unternehmen. Sie hat die Mutter oft genug sagen gehört, dass man nicht zulassen darf, dass Kinder geschlagen werden. Man muss etwas unternehmen, meinte dann der Vater und er schaute dabei sehr ernst.
Mutti muss da unbedingt einen Elternbesuch machen, dachte sie. Die Mutter sagte zu und meldete sich als Lehrerin zum Besuch an.
„Hast Du es gesagt?“ fragte das kleine Mädchen. Ja, nun wäre alles gut, versicherte die Mutter. Elfi würde keine Haue mehr bekommen.
„Ja, und muss sie immer noch die ganze Bibel auswendig lernen?“ schrie das Mädchen. Die Mutter hob die Schultern. Das wäre das Gebiet des Pastors, meinte sie noch.
Der Pastor war ein sehr großer dicker Mann, der immer schwarze Sachen an hatte. Er lächelte selten, er war streng. Die Kinder meinten, dass es besser sei, wenn man das machte, was er sagte.
Das kleine Mädchen hatte ein wenig Angst vor dem Mann, denn schließlich war sie ja nie in seiner Bibelstunde und deshalb wohl auch vermutlich wenig beliebt, dachte sie zumindest.
Es musste etwas geschehen. Elfi hatte ihr gesagt, dass sie immer noch Bibelsprüche auswendig lernen muss, jeden Tag, wenn auch die Mutter sie nicht mehr vermöbeln würde. Doch zur Strafe müsse sie nun immer die Kaninchenställe ausmisten, wenn sie ihr Pensum nicht beherrschen würde.
Das kleine Mädchen wollte nun unbedingt etwas unternehmen. Sie erkundigte sich bei den Kindern, wo sie die Bibeln hinlegten, wenn die Stunde vorbei war.
Sie wartete bis alle Kinder aus dem Raum im Pastorenhaus gekommen waren, der Pastor ging danach immer in die Kirche, seine Frau war mit ihren kleinen Kindern beschäftigt. Die Luft war also rein.
Das Mädchen schlich sich in den Raum, Türen wurden damals nie abgeschlossen, ihr Herz klopfte bis zum Halse hinauf. Fünfzehn schwarze Bibeln lagen in einem Regal. Sie steckte so schnell sie konnte, die Bücher in ihren Schulranzen und in den Turnbeutel. Dann rannte sie mit der doch erheblichen Last in die Schule, die neben dem Pastorengebäude stand. Atemlos saß sie endlich auch in der Schulbank. Die Bibeln noch im Schulranzen.
Die Lehrerin betrat den Raum und die Stunde begann. Die Lehrerin war die Mutter der kleinen Diebin, sie ging durch die Reihen. „Legt die Hefte mit den Hausaufgaben auf die Bänke“, sagte sie. Das kleine Mädchen kramte in der vollen Schulmappe. Das Heft war weg. Es war wohl unter den ganzen Büchern versteckt. Die Mutter stand nun an ihrer Bank, um ihren Strich unter die schriftliche Hausaufgabe zu machen.
„Na, wo ist dein Heft?“, fragte sie streng. Das Mädchen stotterte, wurde ganz rot und sagte, sie hätte das Heft Zuhause vergessen aber sie hätte die Hausaufgaben ganz bestimmt erledigt. Die Mutter, die ihrem Kind in der Schule streng aber gerecht begegnete, sagte dass sie dennoch leider einen Eintrag nicht vermeiden könne. Das Mädchen atmete hörbar auf und das kam ihrer Mutter irgendwie verdächtig vor. Ihr Kind hatte etwas zu verbergen, soviel war sicher. Aber was?
In der Pause strömten alle Kinder hinaus.
„Du bleibst hier“, sagte die Lehrerein zu ihrer kleinen Tochter. „Du hast gestern Deine Mappe gepackt. Ich habe es gesehen. Öffne jetzt die Schultasche, es muss darin sein.“
Die Kleine öffnete ihre Mappe und musste nun alles beichten, was sie verbrochen und warum. Das war nicht so einfach, denn sie ahnte, was die Mutter festlegen würde.
„Du gehst jetzt sofort zum Pastor und lieferst die geklauten Bibeln wieder ab. Du sagst ihm, was du damit erreichen wolltest, er wird Dich schon nicht fressen.“
Und so geschah es. Das kleine Mädchen musste zum Herrn Pastor, um die Bibeln wieder abzuliefern. Alles schien umsonst. Elfi und die anderen Kinder vermutlich auch, würden weiterhin daran ackern, die Bibel einmal auswendig zu können.
Der Pastor saß lesend an seinem riesigen Schreibtisch und hörte erstaunt, was sich in seiner Abwesenheit zugetragen hatte. Ein kleines Lehrerkind stahl also Bibeln, um zu verhindern, dass die Elfi und die anderen Bibelverse auswendig lernten.
„Und Elfi hat deswegen immer Haue bek
Helgaschreibt Re: Hier nun all deine - Zitat: (Original von Enya2853 am 10.05.2013 - 15:03 Uhr) Dorfgeschichten gesammelt und ich konnte sie noch einmal lesen. Wunderbare Kindheitserinnerungen, die zugleich ein Zeitzeugnis sind. Bei vielen Episoden musste ich schmunzeln, das meiste lässt mich nachdenklich werden. Wie viel hat sich doch geändert. Ob es immer zum Guten ist? Sicher nicht. Wie gut, dass ihr damals Tante Hilde getroffen habt. So konntest du ein wenig die Erinnerungen lebendig werden lassen. Ich denke, diese Begegnung hat dir etwas gegeben und so sollen Begegnungen auch sein. Helga als kleines Mädchen musste sich durchsetzen bei den Kindern der Dorfgemeinschaft, mutig sein. Radfahren, Schlittschuhlaufen, Schwimmen - all dies bewältigte sie mit Bravour, wenngleich auch manchmal nicht ohne Risiko. Schade, dass einiges verloren ging, was damals so besonders war. Sogar Kultur wurde gepflegt, das schweißt zusammen. So manches Fest beging man gemeinsam und es sind sicher schöne Erinnerungen. Vor allem aber wird hier von den Menschen berichtet. Traurige Erlebnisse manchmal und die heile Dorfwelt zeigt sich brüchig. Auch damals schaute man weg, wo ein Hinsehen doch angebracht gewesen wäre. manche Dinge ändern sich nie. Oft mischt sich die kleine Helga ein - aus ihrem Gerechtigkeitsempfinden heraus. Heil war sie sicher nicht immer, die Kinderwelt. Dennoch musste sich die Kleine wohl oft damit abfinden,was ihr so ungerecht und unlogisch erschien. Hier auf dem Dorf war einfach vieles anders. Man fühlt sich als Leser zurückversetzt in eine anachronistisch anmutende Zeit, die doch noch gar nicht allzu lange zurückliegt. Daher ist diese Erzählung - wunderbar aus kindlicher Sicht geschildert - auch ein Stück Zeitzeugnis. Man vergisst und verdrängt so schnell und mit dieser Art "Aufbewahrung" bleibt einiges erhalten. So prägt jede Zeit (und auch jeder Ort) die Menschen und im Umkehrschluss prägen auch sie die Zeit. Man bewegte sich in diesem Dorf in fest geprägten Mustern, die im gesellschaftlichen "Kleinklima" stark verwoben waren. Hier auszubrechen, schien schwer. Für damalige Verhältnisse scheint mir die Familie der kleinen Helga sehr fortschrittlich. Sicher hat das auch etwas mit dem vorherigen Stadtleben und der höheren Bildung zu tun. Gerade die etwas ärmlichen Verhältnisse begünstigen das Festhalten an den vorgegebenen Strukturen. Sie schaffen Sicherheit. Eine wunderbare Erzählung, die du hier meist aus der Sicht des kleinen Mädchens präsentierst. Man könnte eine Filmserie aus diesen Dorfgeschichten drehen, lauter kleine Episoden, die dann alle zusammen ein Gesamtbild der damaligen Zeit geben. Gerne noch mal gelesen habe ich deine Dorfgeschichte, manches schien mir sogar neu oder ich habe damals bei den einzelnen Teilen etwas übersehen... Liebe Grüße Enya Liebe Enya...das ist ja wieder einmal ein Enya-Kommentar! Da lacht meine Schreiberseele. Du kanntest ja schon sehr viele Episoden und hast trotzdem noch einmal gelesen. Ich lese diese Geschichten selber hin und wieder und plötzlich geht ein weiteres Türchen in meinem Kopfe auf, um mir ein altes Geschichtchen zu zeigen, welches ich schon vergessen wähnte. Alles ist irgendwo, man muss es nur wachküssen. herzlichst Helga |
Enya2853 Hier nun all deine - Dorfgeschichten gesammelt und ich konnte sie noch einmal lesen. Wunderbare Kindheitserinnerungen, die zugleich ein Zeitzeugnis sind. Bei vielen Episoden musste ich schmunzeln, das meiste lässt mich nachdenklich werden. Wie viel hat sich doch geändert. Ob es immer zum Guten ist? Sicher nicht. Wie gut, dass ihr damals Tante Hilde getroffen habt. So konntest du ein wenig die Erinnerungen lebendig werden lassen. Ich denke, diese Begegnung hat dir etwas gegeben und so sollen Begegnungen auch sein. Helga als kleines Mädchen musste sich durchsetzen bei den Kindern der Dorfgemeinschaft, mutig sein. Radfahren, Schlittschuhlaufen, Schwimmen - all dies bewältigte sie mit Bravour, wenngleich auch manchmal nicht ohne Risiko. Schade, dass einiges verloren ging, was damals so besonders war. Sogar Kultur wurde gepflegt, das schweißt zusammen. So manches Fest beging man gemeinsam und es sind sicher schöne Erinnerungen. Vor allem aber wird hier von den Menschen berichtet. Traurige Erlebnisse manchmal und die heile Dorfwelt zeigt sich brüchig. Auch damals schaute man weg, wo ein Hinsehen doch angebracht gewesen wäre. manche Dinge ändern sich nie. Oft mischt sich die kleine Helga ein - aus ihrem Gerechtigkeitsempfinden heraus. Heil war sie sicher nicht immer, die Kinderwelt. Dennoch musste sich die Kleine wohl oft damit abfinden,was ihr so ungerecht und unlogisch erschien. Hier auf dem Dorf war einfach vieles anders. Man fühlt sich als Leser zurückversetzt in eine anachronistisch anmutende Zeit, die doch noch gar nicht allzu lange zurückliegt. Daher ist diese Erzählung - wunderbar aus kindlicher Sicht geschildert - auch ein Stück Zeitzeugnis. Man vergisst und verdrängt so schnell und mit dieser Art "Aufbewahrung" bleibt einiges erhalten. So prägt jede Zeit (und auch jeder Ort) die Menschen und im Umkehrschluss prägen auch sie die Zeit. Man bewegte sich in diesem Dorf in fest geprägten Mustern, die im gesellschaftlichen "Kleinklima" stark verwoben waren. Hier auszubrechen, schien schwer. Für damalige Verhältnisse scheint mir die Familie der kleinen Helga sehr fortschrittlich. Sicher hat das auch etwas mit dem vorherigen Stadtleben und der höheren Bildung zu tun. Gerade die etwas ärmlichen Verhältnisse begünstigen das Festhalten an den vorgegebenen Strukturen. Sie schaffen Sicherheit. Eine wunderbare Erzählung, die du hier meist aus der Sicht des kleinen Mädchens präsentierst. Man könnte eine Filmserie aus diesen Dorfgeschichten drehen, lauter kleine Episoden, die dann alle zusammen ein Gesamtbild der damaligen Zeit geben. Gerne noch mal gelesen habe ich deine Dorfgeschichte, manches schien mir sogar neu oder ich habe damals bei den einzelnen Teilen etwas übersehen... Liebe Grüße Enya |