Gespensterbahn
„Du traust dich nicht.“ Jan grinste triumphierend. „Du hast Schiss, da rein zu gehen.“ Tim trat von einem Bein auf das andere und überlegte, wie er da wieder raus kam. Verdammt. Warum musste er seine Klappe auch immer so weit auf reißen. Was hat er auch so eine blöde Wette vorschlagen müssen. Er, geht alleine, nur mit einer Taschenlampe bewaffnet, zur Geisterstunde, zu Fuß, durch die Gespensterbahn, am Rummelplatz.
Auch die anderen Jung`s, die dabei waren grinsten.
Eigentlich war ja nichts dabei. Er war diese dämliche Bahn schon ein paar mal diese Woche gefahren. Figuren aus Metall und Kunststoff, Zum Leben erweckt, von Elektronik und Pneumatik. Nichts, was jemanden wie ihn erschrecken konnte.
Er sah zur Bahn. Irgendwie sah sie anders aus, als am Tag. Der Bahnsteig war mit einer Plane verhangen. Wie ein Leichentuch..
„Wie soll ich denn da reinkommen?“, versuchte sich Tim heraus zu winden.
Jan tippte sich an den Kopf. „ Mann, bist du blöd. Das ist nur n`e Plane. Da kannst
du locker durch schlüpfen.“
Noch ein letzter Versuch. „Die haben doch bestimmt die Türen abgeschlossen.“ Tim wusste, im selben Moment, als er den Satz ausgesprochen hatte, dass das Argument nicht zählen würde.
Die Gespensterbahn hatte das Thema `Wilder Westen` und die Türen, durch die die Wagen ein und aus fuhren, waren den Salontüren nachempfunden, die damals typisch für den wilden Westen waren. Zwei Schwingtüren, oben und unten offen.
Warum nur hatte er auf einmal solch eine Angst vor dem Ding. Nur weil es kurz vor Mitternacht war und der
Rummelplatz vom Vollmond in ein gespenstisches Licht getaucht wurde?
Es gab kein Zurück, wollte er vor den Jung`s nicht als Volltrottel das stehen. Er musste sich überwinden und da reingehen.
„Also gut, ich mach`s!“, sagte er so entschlossen wie möglich.
Er ging auf die Bahn zu, die mit jedem Schritt bedrohlicher wirkte. Die Figuren auf der Kulisse der Bahn grinsten ihn schadenfroh an. „Gleich haben wir dich, gleich gehörst du uns“, schienen sie zu sagen, oder zu denken. Tim verdrängte den Gedanken daran und schob die Plane so weit zur Seite, dass er hindurch schlüpfen konnte. Dann stand er neben
den Wagen, die in einer Reihe vor dem schwarzen Schlund standen, der sich hinter den Türen verbarg. Tim knipste seine Taschenlampe an, atmete tief durch und machte sich auf den Weg.
„Der schafft`s nicht“, war sich Jan überzeugt. „Passt auf. Gleich kommt er raus gelaufen, schreiend wie ein kleines Mädchen und mit vollen Hosen.“ Die anderen lachten gequält, denn ihnen war inzwischen, bei dem Anblick der gruseligen Kulisse der Bahn, auch mulmig zumute.
Hat sich da nicht etwas verändert? Grinsten die Figuren nicht mehr, als vorhin? Oder spielte ihnen das fahle Mondlicht einen Streich.
Tim öffnete die Tür, die zu seinem Erstaunen nicht mal abgeschlossen war. Drinnen erhellten nur einige grüne Notausgangsschilder die Szenerie. Wobei man von erhellen eigentlich gar nicht sprechen konnte. Sie machten das ganze Arrangement nur noch gruseliger, als es ohnehin schon war. Tim wünschte sich, dass sich die Figuren bewegten und mit Strahlern beleuchtet wurden, damit es gruselig wirken sollte, so wie, wenn die Bahn in Betrieb ist. Dann hätte er keine solche Angst. Dann wüsste er , dass alles nur künstlich war. So aber war alles tot. Er war umgeben von toten Figuren.. „Tot !“, flüsterte er. Und eine noch nie da gewesene Todesangst
überkam ihn. Er schüttelte den Gedanken ab. „Reiß dich zusammen !“, schimpfte er sich selbst. „Das sind nur ein paar alte verfluchte Puppen.“ Er ging weiter leuchtete mal hierhin und mal dorthin. Ja, es sah anders aus, als zur Betriebszeit der Bahn. Doch im Prinzip waren es die gleichen Figuren. Der schwache grünliche Schein der Notbeleuchtung und der bläuliche Schein seiner Taschenlampe ließ sie nur etwas anders auf ihn wirken.
Jan sah auf die Uhr. Wie lange kann man brauchen, um da durch zu gehen. Was macht er denn nur so lange da drin.
Tim ging weiter, immer den Schienen entlang. Die Cowboys, die sich
duellierten, der Gehängte, die Gräber, die sich normalerweise öffneten, wenn man vorbei fuhr, damit die Toten einen verfluchen konnten. Alles so, wie es normalerweise war
Doch dann war etwas anders. Ein Lichtschein. Etwas rötliches. Tim leuchtete in die Richtung und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Dann gab die Batterie seiner Taschenlampe den Geist auf.
Jan wurde immer unruhiger. „Ich sag euch, der wenn mich verarscht, kann er was erleben“, schrie er schon fast hysterisch die anderen Jung`s an. Einer schlug vor, sie sollten gemeinsam in die Bahn gehen und nach ihm sehen, oder
zumindest einen Erwachsenen holen.
„Nichts da“, entschloss sich Jan. „Ich hab schon genug Schwierigkeiten.“ Er schaute einen nach dem anderen an. „Der ist bestimmt durch den ersten Notausgang verschwunden und lacht sich jetzt ins Fäustchen, dass wir uns hier vor Angst in die Hosen machen.“ Nach kurzem Überlegen entschied er. „Kommt, lasst uns hier abhauen.“
Tim sah angestrengt in die Richtung des roten Lichts. Es flackerte etwas. Brannte es da etwa?
Dann sah er IHN. Tim`s Mund öffnete sich wie automatisch, damit er sich die Seele aus dem Leib schreien konnte. Doch kein Laut kam heraus. Tim war es,
als ob die Luft in seinen Lungen schlagartig gefroren wäre. Ein gewaltiger Schatten legte sich über ihn. Der Schatten des Todes.
Dann war alles still.
Ein paar Sekunden flackerten die Lichter der Notbeleuchtung noch, wie bei einer Stromschwankung, dann leuchteten auch sie wieder ganz normal, als wenn nichts gewesen wäre.
Tim war verschwunden. Auch eine groß angelegte Suchaktion in den nächsten Tagen, ja, Monaten ,brachte nichts. Tim war und blieb verschwunden.
Natürlich wurde auch die Gespensterbahn, die inzwischen weiter gezogen war, gründlich durchsucht.
Doch außer Tim`s Finger abdrücken auf den Türen, gab es keine weiteren Spuren.
Ein Jahr danach kam die Gespensterbahn wieder auf den Rummelplatz der Stadt. Jan und noch ein Junge, die damals Tim das letzte mal gesehen hatten entschlossen sich mit der Bahn zu fahren.
Die Cowboys, die sich duellierten, der Gehängte, die Gräber, die sich öffneten, damit die Toten die Vorbeifahrenden verfluchen konnten, alles ganz normal.
Dann sahen sie einen Sarg, am Rande des Friedhofes, dessen Deckel sich langsam, knarrend, öffnete.
Drin lag Tim, mit einem rostigen Messer
in der Brust. Seine toten Augen sahen sie vorwurfsvoll an.
Die beiden Jungen schrien sich die Seele aus dem Leib. Sie schrien immer noch, als der Wagen rumpelnd und holpernd auf dem Bahnsteig zum Stehen kam.
Irgendwie schafften sie es aus der Bahn und setzten sich erstmal auf die Stufen des gegenüber liegenden Autoscooters.
Dann stupste der Junge Jan an. „Sieh mal, das Schild“, sagte er.
Jan hob den Kopf und las das Schild, das letztes Jahr noch nicht da war.
Das Schild, das wie mit Blut geschrieben war.
NEUE GEISTER EINGETROFFEN!