Mit gesenktem Kopf stapfte das Mädchen durch den Schnee. Es fiel nicht auf, es wurde nicht beachtet, doch es machte ihr nichts aus. Sie war es gewohnt, nicht bemerkt zu werden. Es wurde langsam dunkel und die Straßen wurden leer. Doch dem Mädchen machte es nichts aus. Es hatte jegliches Zeitgefühl schon lange verloren. Mit einer Hand hielt sie eine Kette, die sie um den Hals trug, fest umschlossen. Auf der Kette war der Name ‚Lilliane’ eingraviert. Sie roch an dem Schal, er roch nach ihm. In ihrer Jackentasche ertastete sie einen Zettel und eine Träne rollte ihr die Wange hinunter.
Ihre Augen waren ausdruckslos und völlig ziellos irrte sie herum. Immer wieder stellte sie sich dieselben Fragen: Wieso musste es passieren? Wieso ausgerechnet er? Wieso ausgerechnet jetzt? Wieso...?
Irgendwann konnten Lillians Beine sie nicht mehr tragen, sie waren steif vor Kälte und Lilliane ließ sich auf eine kleine Mauer sinken. Sie versuchte nicht daran zu denken, doch die Erinnerung kam zurück, sie konnte sich nicht wehren...
....
Kevin war auf dem Weg zu Lilliane. Es war bald Weihnachten und er schenkte ihr eine Kette mit ihrem Namen, zusammen mit einem Schal, den sie jetzt, wo es kalt wurde, gut gebrauchen konnte. Eigentlich dauerte es noch einige Tage, bis es soweit war, doch fuhr Kevin mit seinem Vater weg, und so wollte er Lilliane wenigstens eine kleine Freude bereiten. Gut gelaunt schlenderte er durch die Straßen und blieb schließlich vor dem alten Haus seiner Freundin stehen.
Lilliane öffnete ihm die Tür und Kevin überbrachte ihr sein Geschenk.
‚Nicht vor Weihnachten öffnen', warnte er sie Augen zwinkernd, denn er hatte eine leise Ahnung, dass Lilliane es nicht bis Weihnachten aushalten würde. Gut, sie war schon 17, doch war sie manchmal immer noch wie ein kleines Kind.
Schließlich machte Kevin sich auf den Weg nach Hause, doch zuvor musste er noch in die Stadt.
Lilliane öffnete das Geschenk trotzdem und hatte sich sowohl den Schal, als auch die wunderschöne Kette umgelegt. Dann machte sie auf den Weg zum Bäcker, um Brot zu kaufen, denn ihre Mutter lag krank im Bett und konnte nicht für Lilliane sorgen.
Es schneite. Der Bäcker war wieder einmal sehr freundlich zu Lilliane, er schenkte ihr ein warmes Brötchen für unterwegs. Sie nahm dankend an und verließ schließlich den Laden.
Plötzlich hörte sie Geschrei.
War das nicht Kevins Stimme? Lilliane versuchte herauszufinden, woher sie kam. Sie folgte den Stimmen bis zu einer schmalen, einsamen Gasse, und entdeckte gerade noch, wie ein junger Mann nach dem am Boden liegenden Kevin trat. Er traf ihn direkt am Kopf. Dann erblickte er das junge Mädchen und lief davon.
‚Kevin!’, rief Lilliane weinend, lief zu ihm und kniete sich hin. ‚Einen Krankenwagen, ich brauche eine Krankenwagen!’
Doch niemand hörte ihre Schreie.
‚Lil, ich… ich komme wieder…- ich…’, presste Kevin heraus und öffnete leicht seine Augen. Sein Körper war inzwischen völlig mit Schneeflocken bedeckt. Seine Hand war kalt, sie fühlte sich leblos an. An seinem Kopf entdeckte Lilliane eine Platzwunde; sie blutete sehr stark. Der weiße Schnee färbte sich nach und nach rot.
‚Kevin…’, hauchte Lilliane und sah ihn an. ‚Kevin, nein!’
Doch da waren seine Augen ausdruckslos, sein Körper leblos. Lilliane durchsuchte panisch seine Jacke, fand schließlich sein Handy und rief einen Krankenwagen.
Fünf unendlich lange Minuten später war der Rettungsdienst angekommen. Sie hievten Kevin auf eine Trage und brachten ihn in einen Krankenwagen. Der Arzt wandte sich an Lilliane.
‚Es tut mir unendlich Leid, es ihnen sagen zu müssen, aber ihr Freund, Kevin Hohmeier, ist leider tot. Er litt unter Unterkühlung und zu viel Blutverlust. Wir konnten nichts mehr für ihn tun. Es tut mir Leid.’
Lilliane sah ihn fassungslos und ungläubig zugleich an.
Dann lief sie davon. Sie sah nichts einmal mehr zurück. Ihr liefen Tränen die Wange hinunter, es schneite heftig. Doch nichts konnte sie mehr aufhalten. Irgendwann verlangsamte sie ihre Schritte. Sie wollte weg, einfach nur weg.
....
Jemand legte Lilliane die Hand auf die Schulter. Sie sah weder auf, noch wollte sie mit diesem Jemand reden.
„Hübsche Kette, gefällt mir", sagte eine männliche Stimme neben Lilliane. Sie kam ihr bekannt vor, aber Lilliane kümmerte sich nicht sonderlich darum.
Lilliane antwortete nicht, sah den Boden nur völlig verschwommen und machte Abdrücke mit dem Schuh in den Schnee. Sie wollte keine Gesellschaft, nicht jetzt, nicht hier.
„Lilliane...", sagte dann dieser Mann und ließ das Mädchen zum ersten Mal aufhorchen. Hatte er gerade ihren Namen gesagt? Sie hielt die Kette immer noch fest mit der Hand umschlossen.
Der Mann lachte leise.
„Ach Lil... ich werde nie verstehen, wieso du mir nicht vertraut hast... sagte ich nicht, ich werde wiederkommen?"
Lilliane sah den Mann nun zum ersten Mal an, er sah gut aus, doch war er schon um die fünfundzwanzig. Er hatte braune Haare, und diese Augen- wo hatte Lilliane diese Augen denn schon einmal gesehen? Und mit zitternder Stimme flüsterte sie schließlich heiser: „Kevin...?"
Kevin lächelte sie an.
„Sie hat mich erkannt!", rief er und sah sie an.
Lilliane rollte eine Träne nach der anderen die Wangen hinunter. Ihr blieb die Luft weg, völlig erstarrt sah sie den Mann an, konnte einfach nicht glauben, was sie sah.
„Ich verstehe nicht... du bist doch... wieso siehst du so..."
Der Mann nahm Lillianes Gesicht in die Hände und wischte ihr eine Träne weg.
„Ich habe versprochen, wiederzukommen, Lil. Und das habe ich getan. Und nun muss ich gehen... wir sehen uns..."
„Nein, warte! Kevin!", rief Lilliane verzweifelt und wollte nach dem Ärmel des jungen Mannes greifen, doch da hatte er sich schon in Luft aufgelöst.
Was hatte er gesagt? ...wir sehen uns...
Lilliane ließ sich in den Schnee fallen und fing an zu weinen.
7 Jahre später
„Sie bekommen einen neuen Partner", sagte Lillianes Chef und warf eine Akte auf ihren Schreibtisch. Lilliane arbeitete bei der Kriminalpolizei und vor kurzem war ihr Partner erschossen worden. Kein toller Anblick, doch Lilliane hatte seit Jahren nicht mehr um einen Menschen weinen müssen, seit sieben Jahren nicht mehr, sie war Pistolen, Blut und Schreie gewöhnt, sie waren etwas Alltägliches geworden. Lilliane dachte manchmal sogar selbst, dass sie vielleicht herzlos geworden war. Als hätte sich, als sie das letzte Mal geweint hatte, ihr Herz in Wasser aufgelöst, und mit den Tränen im Schnee versickert. „Gut", sagte Lilliane und rührte in ihrem Kaffee. „Sobald er da ist, schicken Sie ihn bitte zu mir."
Lillianes Chef verschwand wieder und sie wandte sich ihrem neuen Fall zu. Mysteriöser Mord am Sohn des reichen Sir Corsten... Schon wieder so etwas... Lilliane seufzte. Sie hasste solche Aufträge. Am Ende würde sich dann rausstellen, dass es jemand aus dem engsten Verwandtenkreis war, weil er scharf auf die Kohle war. Wie immer. Lilliane schüttelte ihren rotblonden Kopf leicht lächelnd und nahm einen Schluck auf ihrer Kaffeetasse.
„Hübsche Kette, gefällt mir."
Jemand stand in der Tür. Lilliane verschluckte sich am ihren Kaffee, spuckte ihn aus Versehen auf die Akte und starrte den Mann an, den Mann, den sie vor genau sieben Jahren schon einmal gesehen hatte. Dieser aber grinste nur und sagte: „Ich habe versprochen, wiederzukommen, Lil."