„Handle“, denke ich. „Ich muss handeln, irgendwas, egal, wie oder was!“
Ich bedeute dem Journalisten mit einer Herrscher-Handgeste, die Audienz sei beendet, beuge mich vor und will gerade den Motor starten.
Doch Haupt-Plagegeist, unterstützt von seinem Kompagnon, lässt nicht locker, zieht sich nicht vollständig aus dem Fenster zurück, hat einen Unterarm darauf gelehnt, während der andere unverrückt seine Lichtfunzel sowie Kamera ins Auto richtet. Schlecht kann ich so starten, ohne jemanden zu verletzen. Reizen würde es mich schon sehr.
„Warten Sie noch einen Moment“, sagt er nicht – solche Tiere muss man vertreiben, bevor sie von ihrer Beute lassen. Als welches Art von Tier bezeichnete ich ihn? Genau!
Man kennt das: du hast Dich unter Druck gesetzt, dies und jenes zu erledigen, obwohl du längst schon im Hirn die Überflüssigkeit und Überholtheit des Ziels Deiner Handlung erkannt hast, trotzdem kannst Du Dich nicht zurücknehmen und beruhigen. Du musst es tun. In der gleichen Lage befinde ich mich nun auch.
Ich setze bereits wieder mit meinen zwei Fingern an dem Schlüssel an, doch irgendetwas hält mich vom erneuten Starten ab. Die Journalisten sind doch ehrfürchtig zurückgetreten, warten nun, bis ich starte, erkennen mein Zögern und nutzen es sofort aus, indem der eine wieder sein Raubvogelgesicht ins Auto hereinhält.
Es muss seine Bedeutung haben, dass ich so lange zögere und dass mich die Journalisten nicht ungehindert ziehen lassen, sage ich orakelhaft und delphiegleich. Mensch, denk mal nach! Fliehen hat ja jetzt auch keinen Zweck mehr – du bist bestimmt schon in aller Munde, bekannt wie ein bunter Hund. Was also kannst Du noch Sinnvolles tun für Dein Ziel, Berühmtheit zu erlangen? Nichts! Eigentlich nichts! Oder?
Da kommt mir eine Idee.
Die Hyänen fressen mir doch jetzt wie die Lakaien und Verhungernden aus der Hand. Die Gelegenheit, sich erst einmal ein Heißgetränk von diesen Kanaillen bringen zu lassen, ist einmalig. In dieser Klickerlestankstelle hier gibt es so etwas nicht, aber die Journalisten werden Tod und Teufel in Bewegung setzen, um mir einen Capuccino, Kaffee oder dergleichen zu besorgen, bloß um mich noch einige Minuten länger in ihrer Reichweite zu wissen. Ja, darauf kann man getrost seine Seele verwetten.
Als ob sie darauf gewartet hätten und sich nichts Besseres vorstellen können, flitzt einer sofort quietschenden Reifens los, in der vagen Hoffnung, ein paar Sendeminuten mehr mit dem Ungeheuer herauszuschlagen. Da rollt der Rubel, herrje!
Ich setze fernsehwirksam und fotogen den Lauf der Pistole auf des Polizisten Schädel. Der Kameramann, ganz kirre und gleichsam geifernd wie eine ausgehungerter Geier, beugt sich bedrohlich nahe durchs Fenster herein mit seiner Stalinorgel oder so. Ich setze meine Hand auf das Objektiv, um ihn zurückzupfeifen. Irr tanzend geht er, stets Kamera wie ein MG auf uns gerichtet, an der Vorderfront um den Wagen herum, um des bedauerlichen Gesicht des Opfers und Geisels willen, nämlich in seiner totalen Ohnmacht aus einem anderen Standpunkt aus ins Auge zu fassen. Sein Auftraggeber wird über diese Bilder frohlocken, wie da die Zuschauerzahlen expotentiell in die Höhe schnellen, es ist eine Wucht.
Es läuft wie geschmiert – bis, was muss ich da sehen?
Ich raune dem Polizisten ins Ohr: „Sie kennen doch die Regeln hier. Los, zeigen Sie ein paar Schweißtropfen. Pressen Sie!“ Er schaut mich irritiert an, als habe ich nunmehr vollständig meinen Verstand verloren.
Ich demonstriere, wie es geht: Ostentativ wie ein gezähmter Löwe blecke ich mit weißen Zähne ins hunderttausendzählige Publikum. Lächeln, wir sind im Fernsehen.
„Lächeln Sie wenigstens, wenn Sie schon keine überzeugende ängstliche Mimik und Gestik zustandebringen, Mann!“ Ich stoße ihm mit dem Ellenbogen in die Seite.
Das tut er dann auch, indem er dito in die Linse grinst.
Den Zuschauern werden die Gänsehäute nur so über den Rücken schaudern: Todeskandidat zeigt sich tapfer in seiner ausweglosen Situation, in der er gefangen gehalten wird. Toll! Phantastisch! Ich rechne, dass ich mittlerweile wieder gepunktet habe. Ob es hinsichtlich meines morgigen Bücherverkaufs bis in die Besten-Liste oder besser Bestseller-Liste des Spiegels reichen wird, das und nur das ist hier die Frage.
Der andere Journalist kommt nun in einem Affenzahn wieder zurück: kavalierbremsend, aus dem Wagenschlag hopsend, vor sich gehalten wie die heilige Monstranz einen riesiger Papp- oder Plastikbecher, plus einem 9-Monats-Schwangernen-Bauch von einer Papiertüte, die beinahe überquillt mit heißem Junkfood. Sag ich’s nicht?
Überraschend stapft tollpatschig mein Bekannter aus seinem Cockpit der Tankstelle auf uns zu, wie immer im blauen Trainingsanzug, weiß der Geier, warum er diesen stets trägt. Wechselt er denn nie die Hosen, denke ich immer. Ein Rätsel.
Den Schirm beugt er nach hinten, sich selbst zu mir herein und stammelt: „Wenn es Dir nichts ausmacht... Du stehst leider im Weg... Du verscheuchst mir hier die Kundschaft...Du verstehst mich, ich sage das nicht gerne...“ Die Floskel glaube ich ihm aufs Wort. Mein Contergan-Freund hat es nicht nötig zu lügen, außerdem kann er keiner Fliege etwas zu leide tun.
Ich schaue nah hinten, verrenke mich nach vorne, um links und rechts in die dunklen Ecken zu spannen und deute in eine: „Dort hin?“
Völlig überraschend schüttelt er schwermütig sein Haupt. „Um ehrlich zu sein, am liebsten wäre mir, Du verschwindest völlig hier von diesem Areal!“ Aus diesem Munde klingt es gesalbt und weisungsbefugt – und niederschmetternd, nach allem, was ich für ihn getan habe, die müßigen Stunden, mit denen ich mit ihm oder wir uns gemeinsam die Zeit totgeschlagen haben mit Allerwelts- und Tausend-und-Einer-Nacht-Geschichten und jetzt das!
War ich nur mehr ein Lügenbüßer für seine müßigen Stunden in seiner schlecht frequentierten Tankstelle oder was?
Ich runzele gewaltig die Stirn. „Junge, ich weiß momentan nicht, wohin!“
Mein Freund zuckt sogar schwermütig die Schultern und sagt bedauernd: „Mein Chef hat Dich im Fernseher gesehen und mich gerade angerufen, Du verstehst?“ Trotz allem bleibe ich freundlich. „Ich verstehe. Selbstverständlich fahre ich von hier weg!“ Nur weiß ich immer noch nicht, was ich so recht tun soll in dieser Situation. Wohin soll ich schon fahren, nachdem ich jetzt im Fernsehen bin. Jede Minute läuft für mich.
Verrückt, im Vergleich von vor ein paar Stunden ist es jetzt umgekehrt: die Zeit läuft für mich, nicht ab, sondern, na halt – für mich!
Doch fühlte ich mich meinem Bekannten verpflichtet. Ich drehe mich um, erblicke durch die Heckscheibe eine Unmenge von inzwischen sich dort sich konzentrierenden Polizeiautos. Das ganze Tankstellen-Terrain ist mittlerweile mit der Grünen Minna umgeben. Das entspricht einem Belagerungszustand, fix!
„Hm!“, entfährt es mir. „Blöd!
Doch einer nervt weiter. „Ich möchte Dich dringend bitten, sofort von diesem Areal hier herunterzufahren! Ja!“ Das sind neue, unbekannte Seiten und Töne meines Freundes. Ich kann mir vorstellen, dass er unter starkem Druck seitens seines Chefs steht.
Er schlägt leicht mit seinem Handballen auf den Fensterrahmen, um seiner Aussage größeren Nachdruck zu verschaffen. Daraufhin folgt ein aggressives Schweigen.
Dieses Verhalten kommt mich komisch an. Noch niemals habe ich meinen Bekannten wütend und erregt erlebt, bloß eingehüllt in einen Kokon fatalisierender Schwermut.
Und zum zweiten Mal heute verkehrt sich die Welt und steht kopf.
Wo habe ich meine Augen gelassen? Mit einem Mal herrscht das Gefühl vor, dass nicht ich ihm mit Mitleid begegnet bin, sondern er mir, er sich meine Geschichten angehört hat , weil ich einen mitleidserregenden Zuhörer gesucht habe, dem man damit beglücken und die Zeit vertreiben konnte, wenn man ihm ein Ohr hinhielt.
Diese Erkenntnis ist ein Schock.
Bislang bin ich davon ausgegangen, dass er mich nötiger gebraucht hat als ich ihm. Jetzt jedoch scheint es sich umgekehrt verhalten zu haben. Ich stehe als ehemaliger Bittsteller da - was ein Ding, furchtbare Verdrehung der Verhältnisse ist da entstanden.
Ich bin der bemitleidenswerte Teil unseres Beziehungsverhältnisses gewesen, so sieht’s aus!
Mir verschlägt’s den Atem.
Aber insgesamt ist er doch beschissener dran, räsoniere ich wieder...
Ich sag’s ja, ich kann mein Mitleidsstreben nicht unterdrücken. Stets sehe ich die anderen als Opfer, obwohl ich doch selbst nichts anderes bin. Aber so ist’s nun einmal.
Und so denke ich, klar, Arbeitnehmer...
Aber nein, Schluss damit, mit diesem Mitleidsgetue! Denn trotzdem, trotzdem allem, trotz schwerem Stand in der Arbeitswelt, Schwer-Behinderter hin oder her, jetzt reicht’s mir!
Ich stoße die Tür auf, die meinen Freund in den Bauch schlägt, so dass er zurücktaumelt, stolpert und zu Boden sackt, Hebelwirkung sei’s gedankt.
Dieses Grischperl von einem Mensch packe ich um die Hüften, halte ihn hoch, schleppe ihn zum Auto und will dem Polizisten ein Zeichen geben, er solle die Hintertür aufmachen.
Er sitzt jedoch nicht mehr im Auto.
„Verflucht!“, brülle ich, drücke mich an die Karosserie, hangle mit den Fingern das Schloss aus, öffne mit einem Fuß die Tür und werfe meinen Freund auf den Rücksitz. Aber schon steht mir wieder neuer Ärger ins Haus. Diesmal nicht vom Polizisten. Von diesem auch. Der Ärger ist schon da, weil er sich aus dem Auto gestohlen hat und die paar Meter zu seinen Kumpels gerobbt und sich dort in Sicherheit gebracht hat.
Neuer Ärger scheint von ganz unerwarteter Seite zu kommen. Inzwischen hat sich ein Mopedfahrer unbemerkt von allen auf dieses heiße Terrain hier begeben. Es kann nur sein, dass er aus der Richtung der Felder und Äcker gekommen ist, aus der entgegen der Polizei aufgebauten halbkreisförmigen Umzingelung. Sein Moped an die kleine Zapfsäule neben dem Cockpit zum Auftanken für derartige Vehikel gestellt, ist ihm unser Tumult nicht entgangen.
Er kommt breitbeinig auf mich zu., also einer, der seine Beine beim Gehen weitmöglichst auseinanderhält.
Die Füße sind nach links und rechts ausgeschert. Ein betont stenzhaften Eindruck.
Der soll mir nur kommen. Eine zweite Geisel kommt jetzt wie gerufen, bin ich doch sauer über die Flucht meiner Goldpolice. Einer muss für den entstandenen Mangel Ausgleich herstellen. Unsicherheit empfinde ich über meine jetzige Geisel, abhängig davon, dass es sich dabei um einen Behinderten handelt. Mensch ist Mensch, soll man meinen. Aber wer weiß, was andere denken? Aber jener dort scheint mir ein Ausländer zu sein. Eine Geisel als Migrationshintergrund ist immer gut.
„He, was machen Sie da?“
Unverzagt latscht er dabei, als ginge er auf einem Fass, auf mich zu.
Bislang hat es mir wirklich richtiggehende Freude bereitet, meine Kräfte und Geschicklichkeit zu spüren, als ich meinen behinderten Freund überwältigt habe, weit mehr noch bei der Überwältigung des Polizisten. Hier werde ich vor einer erneuten Probe gestellt: Jugendlicher - wobei ein solcher nicht zu unterschätzen ist.
Auf einen körperlichen Fight will ich es aber nicht ankommen lassen.
„Stopp Großer!“
Stehen bleiben. Tut er nicht. Aber verlangsamen tut er seine Schritt wenigstens.
Kann der bislang nur einen Satz sprechen?
Immer näher kommt er.
Mensch, ich sollte ihn einen Deutschkurs anbieten.
Er schlurft und schlurft immerzu auf mich weiter her.
Zum Sprachkurs ist es leider aber jetzt zu spät, alles ist zu spät, wenn ich nicht auf internationale Semiotik zurückgreife, sprich Zeichensprache. Abgesehen davon attestiert man mir ohnehin mißerablestes Deutsch.
Er guckt in die Mündung meiner Knarre.
Na endlich, er gehört dem menschlichen Kulturkreis an. Ich streiche mir die Schweißperlen mit dem Handrücken von der Stirn.
Doch kann ich nicht an seinem Gesicht ablesen, wie ernst er die Bedrohung nimmt. Checkt er stattdessen ab, wie er mich am besten attackieren kann?
Ich schaue ihn mir genauer an, um wen es sich wohl handelt. Ich tippe auf einen Türken. Okay, unterziehe ihm den Sprachtest.
„Iyi Günler!“
Er antwortet nicht. Ich werde wieder unsicher.
„Marhaabah!“
„Grüß Gott!“ statt „Schönen Tag!“ - ist er ein Dschihadist, ein potentieller Gotteskrieger, dann würde er daraufhin reagieren.
Auch nicht.
„Dreh Dich rum!“
Jetzt sind gerade dabei, in eine außerordentlich ernsthafte Phase zu schliddern, schallte nicht plötzlich eine Stimme aus einem Megaphon: „Hier spricht die Polizei! Machen Sie, was Ihnen dieser Mann sagt. Gehen Sie kein Risiko ein. Er ist schwerbewaffnet und gefährlich! Ich wiederhole...“
Der junge Mann glotzt in Richtung der Polizei. Doch umdrehen will er sich nicht, tut er zunächst halt nicht. Scheit er es darauf ankommen zu lassen, den Helden zu spielen? So stark kann doch keiner unter Integrationsdruck stehen, dass er sein Leben dafür aufs Spiel setzt.
Nicht rührt sich bei ihm.
Okay, vielleicht liegt wirklich nur ein kulturelles Missverständnis vor. So will ich ihm zu Hilfe zu kommen und mache eine Kreisbewegung mit der Hand, voran die Finger.
Er nickt jetzt. Habe ich ein Glück, dass er dies verstanden hat, doch vorsichtig sein und abwarten, ob dieses Zeichen weltumspannend gleich gedeutet wird? (Mir gefällt das hier gar nicht, dieser Job mit der Pistole. Ich würde lieber wieder einen Bleistift zwischen die Griffel haben. Aber heutzutage gehört wohl beides zusammen.)
Jetzt macht er es doch. Eine halbe Umdrehung. Aufatmen.
„Heb noch die Hände, Junge!“
Macht er. Mensch, er versteht alles, ich habe mich hier zum Narren gemacht, lächerlich und peinlich.
„Bleib stehen, rühr Dich ja nicht!“
Macht er auch.
Ich hole mir ein Paar Handschellen aus dem Auto. Bei Benzin sorgt die Polizei nicht vor, aber bei Handschellen schon. Ein ganzes Knäuel davon liegt im Kofferraum.
Dann schnelle ich ihm eine um. Aber dieses Mal - ich bin ja nicht blöd - mit Händen am Rücken verschränkt. So, Geisel Nummer zwei, ab ins Auto, und zwar auf dem Beifahrersitz.
Auch ich werfe mich wieder auf meinen Sitz und denke: so jetzt sitzt du hier mit zwei Geiseln, was nun?
Die Journalisten haben natürlich alles gefilmt, sehr gut, das puscht den Verkauf meiner Bücher um ein weiteres. Darum geht’s!
„Handle! Tu etwas, egal wie oder was!“
In dieser Lage hieße das, endlich von hier wegfahren und zu verschwinden!
Aber nun, erschießen lassen will ich mich ja jetzt nicht mehr.
Soll ich mich vielleicht ergeben?
Wie käme das beim meinem Publikum an, bei den neuen Lesern?
Darüber musst Du dir auf jeden Fall im Klaren sein. Ich brauche als ein bisschen Ruhe. Zum Nachdenken.
Und diese Journalisten, die mit ihrer Lichtfunzel mal dahin, mal dorthin leuchten, nerven mich gewaltig. Genau, für was hat man schließlich so ein Ding? Ich ziehe meine Knarre.
Ich winke mit dieser dem Journalisten, dem Leithammel davon, zu mir her.
Als er kommt, gebe ich ihm einen erneuten Wink, sich mir sein Ohrwascherl zu leihen, in dem ich unmissverständlich deutlich hineinraune: „Macht mal einen Rückzieher für zwanzig Minuten.“
„Ja!“, stößt er aus.
„Und zwar zwanzig Meter Entfernung von hier, klar!“
„Klar!“, kommt es munter. Er hat einiges geboten bekommen.
Außerdem hört er aus meiner Stimme, das wir noch nicht am Ende sind, eine Menge Potential steckt in unserem Teamwork, das keineswegs für beendet erklärt ist mit einer zwanzigminütigen Auszeit.
Er winkt seinen Kompagnon zu und sie ziehen sich tatsächlich in ihre Autos zurück, die sie auf zehn Meter Abstand zurückstoßen.
So, das wäre mal erledigt.
Ich beuge mich in meinen Sitz zurück, schließe für einen Moment die Augen und denke angestrengt nach.
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