Ich habe wirklich sehr viel Glück! Ich habe ein wundervolles Leben und bin eine Katze. Wenn man es genau nimmt, habe ich also sogar sieben wundervolle Leben. Was bin ich doch für eine Glückskatze. Ob das an meinem dreifarbigen Fell liegt? Schließlich nennt man Katzen wie mich ja auch Glückskatzen.
Um mich vollends vorzustellen: Mein Name ist Jolene, ich bin eine dreifarbige Katze und wohne bei einer Familie, die mich sehr verwöhnt. Jeder meiner Gedanken wird mir von den Augen abgelesen. Wenn ich vor einer Tür sitze, wird sie geöffnet, wenn ich neben meinem leeren Futternapf sitze, wird er gefüllt, wenn ich, während meine Familie isst, neben dem Küchentisch sitze, wird das Essen mit mir geteilt.
Doch so ein perfektes Leben ist auch nicht immer das einzig Wahre. Deshalb habe ich einen Plan:
Ich setze mich vor die Haustür, die mir natürlich wie immer sofort geöffnet wird, und laufe dann in den Garten. Ich schaue nach rechts. Auf dieser Seite trennt nur eine ganz niedrige Mauer unseren Garten vom Nachbargarten. Da entlang bin ich schon oft gegangen.
Also wende ich mich nun nach links zu dem Maschendrahtzaun. Der ist allerdings mehrere Meter hoch und ich weiß, dass ich es nicht schaffe, darüber zu klettern.
Deshalb laufe ich an dem Zaun entlang und entdecke nach kurzer Zeit tatsächlich, was ich mir erhofft habe: Ein Loch. Kein sonderlich großes Loch, aber doch groß genug für mich. Ich krieche hindurch - und stehe vor einem weiteren Maschendrahtzaun! Dieser ist allerdings wesentlich niedriger. Und weil ich so eine neugierige Katze bin, springe ich natürlich darüber.
Doch sofort nach der Landung bereue ich es, denn vor mir sitzen zwei Katzen. Zugegeben, auf den zweiten Blick sehen sie schon etwas komisch aus: Ihre Ohren sind sehr viel länger als meinte, ihre Schwänzchen sehen eher aus wie Wattebäusche und ihre Gesichter machen den Eindruck, als wären sie gegen eine Glasscheibe gelaufen. Eine dieser komischen Katzen ist weiß, die andere schwarz, und beide schauen mich mit ihren dunklen Augen an.
„Was guckt ihre denn so?“, spreche ich sie an. „Habt ihr etwa noch nie ein schönes Tier eurer Art gesehen?“
Sie sehen einander an und dann wieder mich.
„Unserer Art?“, fragt mich die eine Katze. „Willst du etwa behaupten, dass du auch ein Hase bist?“
Sie lachen.
„Nein, ich will euch daran erinnern, dass ihr Katzen seid.“
Sie sehen mich verwirrt an und lachen wieder.
Erst jetzt erinnere ich mich an das Wort: Hase. Ein junger Mensch aus meiner Familie hat einmal davon erzählt.
Wie peinlich! Schnell wechsle ich das Thema. Ich strecke einem der Hasen meine rechte Pfote hin und stelle mich vor: „Mein Name ist Jolene und ich wohne bei der Familie, der der Nachbargarten gehört.“
Aber entweder sind Hasen extrem unhöflich oder sehr stark darauf angewiesen, auf allen vier Pfoten gleichzeitig zu stehen. Jedenfalls gibt mir der Hase nicht die Pfote, sondern schaut mich nur misstrauisch an.
„DU bist das?“, fragt er.
„Ich bin was?“ Ich verstehe nicht, was er meint.
„Nimm ihn nicht so ernst.“, mischt sich der andere Hase ein. „Ich bin S und das ist R.“
„S und R? Das sind seltsame Namen.“ Ich grinse.
„Unserem Züchter sind irgendwann keine Namen mehr für die Hasen eingefallen du da hat er angefangen, und einfach nach dem Alphabet durch zu benennen.“, erklärt mir S.
„Sehr einfallslos.“, muss ich zugeben.
„Es kann eben nicht jeder so einen tollen Namen haben wie du. Jolene… das klingt so perfekt.“
„Um nochmal auf Rs Aussage zurückzukommen: Ich bin was?“, wecke ich S aus seinem Traum, in dem er offenbar gerade beinahe verschwindet.
„Ach ja, er wollte nur auf die Gerüchte anspielen, die er gehört hat.“
„Gerüchte? Über mich?“ Ich bin entsetzt.
R hoppelt zu einem kleinen Holzhäuschen und verschwindet darin.
S wendet sich wieder mir zu: „Man erzählt sich, dass du eine total verwöhnte Katze bist. Aber keine Sorge, ich glaube nicht daran.“
„Glaub ruhig daran, es stimmt nämlich. Ich bin ziemlich verwöhnt, aber wieso scheint er mich deshalb nicht zu mögen?“ Ich schaue zu dem Häuschen, in dem R verschwunden ist.
„Na ja…“, S zögert, „verwöhnte Tiere sind doch auch irgendwie eingebildet und denken, sie sind etwas Besseres, oder?“
„Was?! Nein!! Immer diese Vorurteile!“, rege ich mich auf. „Ich meine, es gibt bestimmt eingebildete Tiere, aber ich bin nicht so! Ehrlich!“
„Schon gut, schon gut!“, beschwichtigt mich S. „Ich glaube es dir ja! Und wenn du willst, dann rede ich auch mit R. Warte hier.“ Er hoppelt zu dem Holzhäuschen.
Ich warte.
Kurze Zeit später kommt S wieder aus dem Häuschen. Er zieht den wütenden R hinter sich her.
Als sie bei mir sind, setzt er ihn ab.
„R möchte dir etwas sagen.“ S gibt ihm noch einen kleinen Schubs.
R räuspert sich. „Es tut mir leid, dass ich so abweisend dir gegenüber war. Ich bin mir jetzt sicher, dass du keins dieser eingebildeten Tiere bist.“
„Als ich mich kurz darauf verabschiede – Rs Entschuldigung klang zwar einstudiert, aber ich bin trotzdem mehr als zufrieden damit – lädt S mich ein, gerne einmal wieder zu kommen. Das lasse ich mir natürlich nicht zweimal sagen!