Beschreibung
Manche Menschen vergessen. Sei es durch eine Krankheit oder einfach aus Angst vor der bitteren Wahrheit.
Verwirrt
Das fahlblasse Licht der Neonröhren, ein stetes knistriges Summen, sterilweiße fensterlose Mauerwände. Als sie erwachte, fühlte sie sich eher wie in einem Hospiz als einem Hospital. Noch einmal schloss sie ihre Augen, schützend vor dem grellen Schein und lauschte ihrem eigenen Herzschlag, welcher durch den regelmäßigen Piepton des EKGs widergegeben wurde.
Warum war sie hier? Instinktiv tastete sie über das steife Leinentuch, welches ihren Körper bedeckte. Ihr Bauch war ganz flach, doch sie fühlte nichts. Noch einmal tastete sie, ohne weiter darüber nachzudenken. Es erschien ihr seltsam, der so flache Bauch, aber wieso? Wieder öffnete sie ihre Augen einen Spalt und verspürte daraufhin einen dumpfen Schmerz in ihrem Kopf, als jemand die Tür zum Krankenzimmer öffnete.
Die kleine stämmige Frau im türkisfarbenen Kittel wirbelte herein, die Jalousinen des Fensters am hinteren Teil des Raumes öffnend. "Na, sind wir schon wach?" Ihre piepsige Stimme war mit einem osteuropäischen Akzent durchdrungen.
Die junge Frau im Krankenbett war schlaff, fühlte sich matt und antwortete nicht.
"Jetzt lassen wir erstmal etwas Sonne rein! Ihr Mann wartet schon draußen mit ihrer Tochter und kommt Sie dann gleich abholen!"
Tochter? Sie konnte ihr keine Erinnerung zuordnen. Wie so vieles schien auch ihr Kind im Nebel verborgen. Wieder tastete sie über ihren Bauch und in diesem Moment erschien ihr ein Bild, welches sie selbst in einem hölzernen Schaukelstuhl zeigte, knarrend sanft wippend vor dem flackernden Kaminfeuer. Ein innerer Frieden stellte sich ein, auch zu jener Zeit streichelte sie sanft über ihren Bauch, denn sie war schwanger. Und auch, wenn ihr Gedächtnis ihr offensichtlich einen Streich spielte, war für sie auf einmal alles klar. Draußen wartete ihr Kind in den Armen des frischgebackenen Papas. Es war die logischste Erklärung und die Frau fühlte sich erleichtert. Vorerst.
Der Nebel
Sie waren auf dem Nachhauseweg, sie, ihr Ehemann und ihre Tochter. Es war ein grauer Herbstnachmittag und es gab nur wenig Gepäck. Sie spürte ihre Schritte nicht, wie in einem Traum, ihr Kopf, ihre Gedanken, schienen noch immer vernebelt, so wie auch die Häuser mit ihren kleinen Vorgärten, die sie an jenem Tag passierten. Die junge Frau wurde das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte und das stille Schweigen machte es nicht besser.
Etwas war hier falsch. Sie warf einen kurzen Blick auf ihren Mann, der das kleine Mädchen, ihre gemeinsame Tochter, an der Hand hielt. Bislang hatte sie es nicht einmal bemerkt, doch wie konnte das sein? Das Kind musste bereits älter sein, ein Neugeborenes läuft nicht an der Hand. Was stimmte nur nicht mit ihr? Wie alt mag das Mädchen wohl sein? Und wieso erinnerte sie sich nicht, sie war doch die Mutter? Auch spürte sie keinerlei Bindung, ihre kleine Tochter war eine Fremde für sie und das machte ihr Angst.
Gerne hätte die junge Frau Geborgenheit in den Armen ihres Mannes gesucht. Alles um sie herum war so kühl und das machte sie extrem unsicher. Und auch nur eine kurze Berührung seiner Hand hätte ihr gut getan, doch wagte sie es nicht, denn etwas war anders. Er wirkte nicht froh, sie zu sehen, sondern strahlte Verbitterung aus, er schien sich damit abgefunden zu haben, mit seiner Verantwortung, seiner Pflicht bewusst. Und das unsichtbare liebevolle Band zwischen ihm und seiner Tochter drängte sie noch weiter in die Rolle der Außenseiterin.
Die drei näherten sich dem gemeinsamen Haus, nur erkannte sie es nicht mehr. Ihr war ganz schlecht mit einem Kloß im Hals und den schwerwiegenden Stein auf ihrer Magengegend trug sie mit, über die Türschwelle.
Die Wahrheit
Auch im Haus war es noch sehr kühl und inzwischen war es Abend. Die junge Frau platzierte ihr Gepäck in einer Ecke des Schlafzimmers, während ihr Mann der Tochter den Schlafanzug anzog. Alle drei legten sich zum Schlafen in das gemeinsame Ehebett, das kleine Mädchen in der Mitte.
Auf einmal streckte es seinen nackten Fuß in das Gesicht der Mutter, woraufhin ihr wieder ein Bild aus alten Zeiten ihrer Erinnerung erschien.
"Wo ist Sammy!"
Der Mann schaute sie überrascht und müde an. "Er ist nicht mehr hier."
"Wo ist er!" Die junge Frau fürchtete sich vor der Antwort und vor der Wahrheit, unruhig und nervös schaute sie sich um. Ihr Herz pochte schwer und der Kloß in ihrem Hals setzte sich so fest, dass sie kaum zu Atmen vermochte. Eine wahnsinnige Angst vor dem Verlust trübte ihr Herz. Tief in ihrem Inneren kannte sie die Realität und ihre Unfähigkeit, etwas daran zu ändern.
"Im Kinderheim in Marburg." Seine Antwort war kurz und knapp und doch konnte er sich eine sarkastische Bemerkung nicht verkneifen: "Dort gibt es Spezialisten für solche Kinder!". Er drehte sich mit dem Rücken zu ihr.
Die junge Mutter flüsterte ungläubig und wirr vor sich hin. Ihr Herz schmerzte, sie zitterte. Sie wusste wieder alles, doch sah sie nur ein Bild vor sich; das unbeschwerte Lachen ihres kleinen 4-jährigen Jungen. Sie spürte seine Liebe und Herzenswärme für einen Moment nah bei sich, bis sie gänzlich verflog. Sie ahnte, die Wahrheit wurde noch grausamer, insbesondere zu ihr selbst. "Wer hat das entschieden...?"
Und die Stimme ihres Mannes war nun eiskalt.
"Du." -