„Lass mich einfach in Ruhe!“
Ich schreie sie wütend an. Ich will in Ruhe gelassen werden.
Diese ewigen Streitereien machen mich einfach nur krank. Der Höhepunkt eines Tages, der sowieso schon scheiße war.
Ich schließe die Tür zum Badezimmer hinter mir.
Bevor ich darüber nachdenke, habe ich eine Klinge in meiner Hand.
Ich will ihn spüren. Der Schmerz, der mir zeigt, dass ich noch da bin.
Doch ich zögere.
Will ich das wirklich?
Will ich Schmerzen haben?
Will ich durch Narben gezeichnet sein, die nur meine eigenen Niederlagen dokumentieren?
Will ich mein Leben lang mit einer Essstörung kämpfen müssen?
Will ich nie wirklich glücklich sein können?
Ich schlage vor Wut mit meiner Faust gegen die Wand. Die Klinge lasse ich in das Waschbecken fallen. Nein. Natürlich will ich das nicht.
Wütend haste ich durch die Wohnung, greife im Vorbeilaufen meine Autoschlüssel und bin Sekunden später in meinem Auto.
Während ich den Motor anspringen lasse, kommen die ersten Tränen.
Trotzig bahnen sie sich einen Weg über meine Wangen.
Ich biege aus der Einfahrt auf die Straße ab und fahre einfach los.
Wohin?
Keine Ahnung. Ich will einfach nur weg. Alles hinter mir lassen.
Ich versuche möglichst geradlining von meiner Wohnung weg zu kommen.
Die ersten zwanzig Kilometer fahre ich durch bekanntes Gebiet. Ich weiß, wo ich bin, auch wenn ich mich nicht darauf konzentriere. Alles woran ich denke ist die Klinge, die in meinem Badezimmer liegt. Ich hätte sie mitholen sollen. Ich muss den Schmerz spüren. Ich will. Ich muss. Ich will. Ich muss.
Irgendwann wird mir bewusst, dass ich die Orientierung verloren habe und durch mir völlig unbekannte Straßen rase. Ich drossele mein Tempo und schaue mich genauer um. Die Gegend ist sehr ländlich. Rechts und links der Straße sind Felder, Wiesen, Waldstücke. Nur ab und zu fahre ich durch eine kleine Ortschaft.
Die Tränen auf meinem Gesicht sind getrocknet und es kommen auch keine neuen mehr nach. Ich spüre nur noch die altbekannte Leere, die ich so sehr hasse.
Abrupt bremse ich ab und halte auf einem schmalen Seitenstreifen. Ich steige aus, knalle die Tür hinter mir zu und laufe los. Ich renne einfach über das erste Wiesenstück, das vor mir liegt. Ich will weg. Ich will verschwinden.
Wohin, spielt keine Rolle.
Ich weiß nicht, wie lange ich, tief in Gedanken versunken, so Abstand zwischen mich und mein Auto bringen. Zehn Minuten? Zwanzig? Es scheint mir so unwichtig.
Irgendwann komme ich an ein paar Baumstämmen vorbei, die dort nach dem sie gefällt wurden noch liegen und auf ihren Abholer warten. Ich lasse mich auf den ersten fallen. Die Einsamkeit legt ihre eisernen Klauen um mich.
Mühselig versuche ich meine Atmung zu kontrollieren.
Tief einatmen, tief ausatmen. Immer und immer wieder.
Ich darf nicht zulassen, dass die Panik, die in mir aufkommt die Oberhand gewinnt.
Ich drehe den Kopf zur Seite und sehe über die Baumrinde neben mir eine kleine Spinne krabbeln. Meine normale Reaktion wäre Ekel zu empfinden, weg zu gehen oder das arme Viech sogar platt zu machen. Doch in diesem Moment empfinde ich nichts von dem. Im Gegenteil, sie hat sogar etwas Tröstliches an sich.
Ich bin doch nicht so allein, wie ich dachte.
Eine Weile liege ich nur so da und sehe der kleinen Spinne zu.
Als sie aus meinem Blickfeld verschwindet, stehe ich langsam auf. Ich gehe in eine unbestimmte Richtung und versuche meine Sinne für meine Umgebung zu öffnen.
Ich konzentriere mich nicht mehr auf mich, sondern auf die Wiese vor mir und den Wald an meiner Seite.
Meine Schuhe treten auf staubigen Boden. Das bisschen Sonne der vergangenen Tage hat hier schon seine Wirkung gezeigt und die Erdkruste teilweise aufspringen lassen. Ich umkreise die kleinen Äste, die den Weg schmücken und trete vorsichtiger auf. Zufrieden registriere ich, dass meine Schritte nun kaum mehr zu hören sind.
Dafür dringt der Gesang unzähliger Vögel an mein Ohr. Waren die die ganze Zeit schon da? In der Ferne bellt irgendwo ein Hund.
Ich trete aus dem Schatten der Bäume und warmes Sonnenlicht umhüllt meinen Körper. Ich spüre ein angenehmes Prickeln auf der Haut. Immer noch gehe ich langsam weiter. Verborgen vor meinem Blick zirpt eine Grille munter vor sich hin.
Der Himmel ist klar, ich kann keine einzige Wolke entdecken, dafür aber einen Heißluftballon. Ich senke den Blick wieder und sichte einen Ameisenhügel direkt zu meiner Rechten. Ein paar Minuten bleibe ich stehen und beobachte das Treiben der winzigen Lebewesen, dann gehe ich weiter. Hin und wieder raschelt es im Unterholz oder auf der Wiese neben mir, doch kann ich nicht erkennen, wer da vor mir flüchtet.
Nach einer gefühlten Ewigkeit finde ich einen Platz, an dem ich bleiben will. Ich sinke auf einen Stein und lehne mich an den Baum an, der hinter mir steht. Dadurch, dass ich immer bergauf gegangen bin, habe ich jetzt einen wundervollen Ausblick. Die Häuser und die Straße, die ich gerade noch so erkennen kann, kommen mir unendlich weit weg vor. Ich sehe nur Natur. Keine Menschenseele ist in meiner Nähe.
Und zum ersten Mal in meinem Leben genieße ich die scheinbare Einsamkeit. Scheinbar, weil mir bewusst ist, dass hunderte Lebewesen um mich herum sind.
Nur habe ich sie vorher nicht wahr genommen.
Wer weiß, ob mir das nicht vorher schon passiert ist? Vielleicht habe ich einfach nicht richtig hingesehen, nicht richtig zugehört, mich nicht von ganzem Herzen geöffnet.
Hass. Wut. Trauer. Angst. Verzweiflung. Alles, was ich eben noch fühlte ist verschwunden.
Ich bin von einem ganz anderen Gefühl erfüllt.
Ich denke an meine Probleme und mir wird klar, dass es vielen Menschen schlechter geht. Dass ich das alles in den Griff kriegen kann. Dass alles, was mir im Weg steht letztendlich nur ich selbst bin. Dass es sich zu kämpfen lohnt.
Es ist nicht einfach Glück.
Es ist nicht einfach Dankbarkeit.
Es ist nicht einfach Zufriedenheit.
Es ist nicht einfach Erleichterung.
Es ist Frieden.
In diesem Moment, in dem ich sonnenbeschienen den Vögeln lausche, schließe ich Frieden mit mir.