Max kommt nun in die neunte Klasse, doch seit der siebten Klasse hat er keine Lust mehr auf die Schule. Das verdankt er seinen Schulkameraden, die ihm einen fiesen Streich spielten. Im Schulbus lernt er einen neuen Schüler kennen. Der scheint ganz nett, doch hat er ein kleines Geheimnis. Dieses Geheimnis teilt er dann im wahrsten Sinne des Wortes mit ihm...
„Du lebst erst seit fünf Jahren hier? Dafür sprichst du aber wirklich ein gutes Deutsch.“, sage ich ihm verdutzt.
„Findest du? Dankeschön. Ich habe auch fleißig gelernt. Wie ist eure Klassenlehrerin so? Meine letzte Lehrerin war super nett.“
„Frau Schmidt? Och, sie geht. Wir haben mit ihr Französischunterricht, aber lernen kann ich bei ihr nicht wirklich. Aber sonst ist sie ganz nett, wenn man es auch zu ihr ist.“
Wir lachen und erzählen uns noch so einiges über uns. Er hatte in seiner alten Schule eine Klassenlehrerin, die für mich die absolute Traum-Klassenlehrerin wäre. Sie hieß Frau Schlüter und unterrichtete Geschichte und Musik.
Nun fahren wir langsam auf die Einfahrt unserer Schule und bei ihrem Anblick verschlug es Oliver glatt die Sprache. Unsere Schule ist nämlich ein altes Schloss und steht unter Denkmalschutz. Er erzählte mir, dass er noch nie in eine Schule ging, die so schön aussah. Ich jedoch fand sie schon seit dem ersten Tag an nicht wirklich atemberaubend.
„Ruhe Klasse, ruhe.“
Unsere Klasse ist nicht die leiseste, daher muss sich unsere Klassenleiterin erstmal Ruhe verschaffen.
„Darf ich euch bitten leise zu sein. Sicher, eure Ferien waren bestimmt ganz toll. RUHE!!!“
Das war das Machtwort, denke ich und endlich legte sich der Lärmpegel.
„Ich möchte euch einen neuen Schüler vorstellen. Er heißt Oliver und…ach, stell dich mal allein vor.“, schlägt Frau Schmidt vor.
„Okay. Ja hallo, ich heiße Oliver. Ich bin in London geboren und wohne nun schon seit fünf Jahren hier. Vorher ging ich auf eine andere Schule, dann zogen wir um und ich musste die Schule wechseln. Und hier bin ich.“ – Die ganze Klasse lachte.
„Gut, Oliver. Neben Max ist noch frei (Logisch, denke ich.). Setzt dich doch einfach neben ihm. Ich denke, ihr werdet euch super verstehen.“
„Oh, du Armer. Du musst neben Max sitzen. Du tust mir leid!“, flüsterte Sven, ein Junge aus meiner Klasse, doch ich konnte es hören und musste sofort wieder rot werden.
Oliver ließ sich auf den Platz neben mir nieder, doch entweder schien er den Satz von Sven nicht gehört zu haben oder es ließ ihn kalt. Zumindest ließ er sich nichts anmerken.
„So, nun beginnen wir mit dem Französischunterricht. Calmez-vous s’il vous plait. Puis, nous devenons à distingués…”, sofort fing unsere Französisch-Lehrerin an auf ihre Sprache zu plappern und so langsam bemerkte ich, wie meine Gedanken abschweiften und ich ihr gar nicht mehr zuhörte. Aber ich war nicht der Einzige. Auch Olivers Blick verschwamm und bald musste er seinen Kopf auf seinen Händen stützen, damit dieser nicht mit einem lauten Gong auf den Tisch knallt.
„Man, diese Unterrichtsstunde war echt die langweiligste Stunde, die ich je erlebt habe!“, jammert Oliver aber trotz allem lächelt er.
„Wie kannst du da nur lachen?“
„Tu ich doch gar nicht!“, und sofort verschwand sein Gesichtsausdruck und zog eine genervte Grimasse, „was haben wir jetzt eigentlich?“
„Warte, ich schau mal!“
Kurzerhand zog ich aus meinem Rucksack den neuen Stundenplan, den wir zum Stundenbeginn von unserer Lehrerin ausgeteilt bekommen haben.
Hmm… Montag…dritte Stunde, murmel ich meine Gedanken laut aus.
„Wir haben jetzt Mathematik. Ich bin schon gespannt, mit welchem Lehrer wir dieses Mal das Vergnügen haben. Seit der siebten Klasse hatten wir bestimmt schon 5 Mathe-Lehrer.“
„Wieso, was ist denn mit denen passiert?“
„Ich habe keine Ahnung. Wahrscheinlich wollten sie unsere Klasse nicht mehr unterrichten, oder sie haben sich in eine Psychiatrie einliefern lassen.“
Sofort fingen beide an schallend zu lachen.
Schon lange hab ich nicht mehr so herzhaft gelacht und das vor Allem mit Jemandem, den ich in so kurzer Zeit kennengelernt habe, denke ich mir.
So machten wir uns wohl oder übel auf den Weg in die nächste Stunde mit einer kleinen Überraschung. Es kam kein Lehrer. Doch unsere Klasse war da nicht so, wie man es von einer Klasse vom Gymnasium erwarten würde, wenn man sich die ganzen Vorurteile uns gegenüber mal vor Augen führt. Wir beschwerten uns nie im Sekretariat oder geschweige denn meldeten je, dass wir keinen Lehrer hätten. Wir verschlossen lieber die Tür und versuchten so leise wie möglich zu sein, damit niemand bemerkt, dass uns keiner unterrichtet.
So war es auch dieses Mal. Unser Mathelehrer kam selbst nach zehn Minuten Wartezeit nicht und obwohl wir dann hätten Bescheid geben müssen, setzte sich jeder an seinen Platz oder an den Anderer und unterhielt sich mit Jemanden. Doch normalerweise saß ich in solchen Situationen immer allein und zeichnete (ja, ich kann sehr gut zeichnen) oder machte sonst irgendetwas. Doch dieses Mal saß ja Oliver neben mir und mit ihm konnte ich wirklich super reden. Doch bald kam es zu einem Thema, das ich mit aller Kraft versuchte zu umgehen und es dann doch kam.
„Sag mal, Max. Du scheinst nicht gerade beliebt in der Klasse zu sein, habe ich da Recht?“, lautete seine Frage, doch ich versuchte ihm als Freund zu gewinnen und hoffte mit all meiner Kraft, dass er sich danach nicht in meiner Anwesenheit schämen würde. So erzählte ich ihm alles, was vor knapp zwei Jahren zur Klassenfahrt geschehen war. Doch ihn schien es nicht abzuschrecken. Irgendwie schien er eher was gegen die Vorgehensweise der Jungs, die an diesem Tag daran beteiligt waren, etwas zu haben.
„Das kann ja wohl nicht die ihr Ernst sein. Wie können die sowas nur wachen, wo sie schon ahnen, das du ein Problem mit Wasser hast.“, brüllte er.
„Nun schrei es doch nicht so rum.“, ermahnte ich ihn lächelte aber dabei, da ich ihn nicht gern gegen mich hätte. Er war sicher zwei Köpfe größer als ich, aber dennoch sehr schlank und wie er sich über die Jungs aufregte schien er eine Art Macht auszustrahlen, die jeden beindrucken würde. Und dennoch war ich sehr gerührt darüber, dass er sich so für mich einsetzte.
„Die müssen sich mal vorstellen, wie sich dabei fühlen würden. Tut mir Leid, Max, aber darüber rege ich mich sehr auf. So etwas finde ich hinterhältig und gemein!“, regte sich Oliver weiter auf.
„Tja, damit bist du der Erste, der so denkt.“. Damit war für mich das Gespräch beendet.
Bald ging auch diese Stunde zum Ende hin und wir machten uns auf in die nächste Stunde, Chemie. Auf den Weg dorthin hört ich Oliver immer noch leise etwas von „ungerecht“ und „fies“ murmeln, doch ich wollte ihn nicht darauf ansprechen und von ihm verlangen, er solle damit aufhören.
So saßen wir also in der Stunde von Herrn Lampert. Es ging darum, dass wir eine Lösung unter starker Erhitzung mit einer anderen Lösung zusammenmischen sollten. Doch bald wurde mir klar, dass Oliver wahrscheinlich noch nie Chemieunterricht hatte. Denn wie er mit den Chemikalien umging und seine Art die Lösungen umzurühren erinnerte mich doch vage an das Brauen eines Zaubertranks. Immer wieder musste ich über ihn lachen. Beim dritten Mal sprach er mich auch darauf an.
„Was lachst du denn?“, fragt er mich verdutzt; in der einen Hand hielt er eine Pinzette und in der Anderen hielt er ein Reagenzglas, dass schon sehr nah vorm Explodieren stand.
„Nun, deine Art, diese Chemikalien zu mischen, ist doch etwas unnormal.“, gestand ich ihn lächelnd. „Hast du das schon mal gemacht?“
„Natürlich. Ich habe schon seit der achten Klasse Chemieunterricht. Was ist denn daran unnormal?“. Er schien verdutzt.
„Nun, irgendwie mischst du deine Chemikalien wie eine Hexe in einem Film.“, erzählte ich ihn. Doch irgendwie schien ihn die Sichtweise darauf nicht gerade zu gefallen.
„Hör mal. Ich hasse Chemie. Ja, es kann schon sein, dass ich nicht gerade eine Leuchte darin bin, aber dennoch brauchst du mich doch nicht darauf aufmerksam machen.“, warf er mir mit roten Kopf entgegen.
„Ich dachte … ich wollte nur … .“, schon streikte mir meine Stimme. Das passiert immer, wenn ich aufgeregt bin.
„Ach, ist schon gut. Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Ich denke, ich hätte genauso reagiert.“ Damit schien wieder alles in Ordnung zu sein. Erleichtert gab ich in das Gemisch kleine Siedesteinchen hinein, Oliver hielt das Gebräu über die Flamme und zufrieden mit der Welt sah ich zu, wie es sich von braun zu weiß verfärbte.
Schön, dachte ich mir, jetzt habe ich endlich einen Freund gefunden, der so wie ich denkt und dann hätte ich es mir mit ihm schon fast am ersten Tag verscherzt. Glück gehabt, dass er es nicht so drastisch sieht… Erleichtert atmete ich tief ein und aus.
Jetzt kann das Leben ja beginnen. Vielleicht …