Teil eins der 'GinWood' Reihe
Erschrocken schrie Marja auf, als jemand ihre Hand berührte. Erst jetzt bekam sie mit, dass sie nach wie vor wie verlassen vor dem Brunnen stand, den Kelch in der Hand.
„Marja?“, die Stimme ihres Cousins drang zu ihr durch. Marja drehte sich zu ihm um. Er sah sie besorgt an.
„Was?!“, eigentlich sollte es eine normale Frage sein, dennoch kam sie als wütendes Fauchen über ihre Lippen. Wie jedes mal, wenn sie kurz davor war ihre Beherrschung zu verlieren, wich der Krieger einen Schritt zurück.
„Du warst wie erstarrt. Alles in Ordnung?“, seine Stimme klang dennoch fest. Er hatte sich also wirklich Sorgen um sie gemacht. Kurz überlegte Marja, ob sie es ihm sagen konnte. Sie dachte an die schwarzen Augen und an Floor – konnte es sein, war er der junge Wolf von damals?
Dann aber fielen ihr die Warnungen ihrer Familie vor den Moren wieder ein und so beschloss sie, die Ereignisse lieber für sich zu behalten. Stattdessen schüttelte sie nur den Kopf.
„Tut mir leid. Ich war in Gedanken...“, murmelte sie – ihre Stimme war bereits um vieles ruhiger geworden. Minjink sah noch einen Moment auf seine Cousine, er schien sich eine eigene Geschichte zusammenzureimen, dann nickte er und deutete zur Haupthöhle.
„Komm, wir müssen gehen. Deine Mutter möchte ihre Rede beginnen. In wenigen Augenblicken ist es Mitternacht“, meinte er grinsend. Als sich Marjas Gesicht wieder verfinsterte, nahm der Krieger ihre Hand, er würde sie schon zum Podium bringen, ob sie dies wollte oder nicht.
„Ach komm, lächle mal etwas“, witzelte er noch, dann gingen die beiden los. Marja trat ihm zur Antwort nur gegen das Schienbein, doch zu ihrer Enttäuschung verzog er noch nicht einmal das Gesicht.
Diesmal kamen die beiden jedoch von einer anderen Richtung, sie waren nicht, wie auch all die anderen Gäste durch den großen Eingang vorne in die Höhle getreten, nein, weiter hinten gab es noch einen zweiten Durchgang. Es war ein schmaler Tunnel, der hinter dem Brunnen in den Felsen drang und direkt vor dem Podium in die große Höhle mündete. Dadurch dass er nicht groß war, konnten ihn die Krieger leicht verstecken, wenn er nicht gebraucht wurde, so bemerkte keiner, wie die beiden die Höhle betraten.
„Da bist du ja meine Kleine!“, eine helle Stimme ertönte neben ihnen. Marjas Gesicht verzog sich zu einen leichten Lächeln, als sie zu ihrer Mutter sah, sie neigte leicht den Kopf.
„Mutter.“
Diese nahm ihre Hand, dann schritt sie mit hoch erhobenen Kopf auf das Podium – all die Krieger, welche die beiden begleiteten waren nun in ihrer Wolfsgestalt – zwei von ihnen sogar als die riesigen Wölfe, als diese sie die Wälder durchstreiften. Einer von ihnen, Marja erkannte den braunen Wolf als Morim wieder, zwinkerte ihr leicht zu.
Kaum dass sie neben ihrer Mutter zum Stehen gekommen war, legten sich die beiden großen Wölfe in einem Halbkreis um sie, der Rest saß aufmerksam rund um das Podium. Ein paar Fürsten und Minjink standen noch in ihrer menschlichen Gestalt hinter ihnen. Alles in allem sahen sie so doch sehr Ehrfurcht erregend aus. In der Höhle hatte sich leises Gemurmel erhoben, einige der Wölfe hatten Marja vorhin schon gesichtet, doch dass sie zur Herrscherfamilie gehörte, dass hatte keiner von ihnen bedacht.
Mit einer einzigen Geste der Alphafehe Furial verstummte die Menge jedoch. Sie ließ ihre Hand noch für einen Moment erhoben, dann senkte sie ihn wieder. In gespannter Erwartung sahen nun alle auf sie. Einen Moment wartete Furial noch, dann erhob sie ihre Stimme und füllte damit den ganzen Raum.
„Volk der Kirimwölfe! Lange herrschte Krieg zwischen unseren Rudeln. Das verlassen des eigenen Reviers war tödlich, kam man in feindliche Gebiete, so wurde man zerfleischt. Doch wir sind eins! Wir sind ein Volk, eine Rasse, eine Wesensart, dazu bestimmt auch als ein Bündnis zu leben!“, kurz hielt sie inne und sah sich um. Einige Wölfe hatten grimmig das Gesicht verzogen – hauptsächlich Moren, andere aber jubelten ihr entgegen. Die Zeiten des Krieges waren vorbei, dank ihr. Wieder hob Furial eine Hand – und die Menge schwieg.
„Es hat mich viel Zeit und Anstrengung gekostet, doch nun sind wir an unserem Ziel! Wir sind eines, ein Volk – ja noch immer in Rudel und Stämme geteilt, doch stehen sie in Freundschaft zu einander!“, wieder erhoben sich die einzelnen jubelnden Stimmen junger Wölfe, „aus diesem Grund habe ich dieses Fest veranstaltet! Zu Ehren meiner Tochter, zu Ehren unseres Friedens!“, der Jubel wurde lauter, doch Furial gebot ihm wieder Einhalt.
„Mein Volk, meine Wölfe. Wie ihr wisst, ist meine Tochter nun alt genug, die Pfade einer Frau zu durchwandeln. Sie ist prächtig herangewachsen und ich kann mit Stolz sagen, dass sie eine schöne, wie auch starke junge Wölfin geworden ist! Dennoch...“, nun legte sich Stille über die Menge, was nun wohl kommen würde?
„Dennoch“, begann Furial von neuem „meine Tochter braucht einen Begleiter. Gerne würde ich sie als meine Nachführerin ernennen, doch ohne einen Begleiter kann sie sich nicht dem geforderten Kampf stellen!“, schwoll ihre Stimme nun an. Aller Augen waren auf Furial gerichtet. Gab es bereits einen Auserwählten? Oder hatten die Fürsten und Rudelführer vielleicht doch die Chance ihre Söhne vorzustellen? Furial jedoch ließ ihre Hände sinken, sie selbst schien alles gesagt zu haben, was zu sagen sei.
Keiner der unten versammelten rührte sich, sie warteten alle noch auf einen weiteren Satz. So verstrichen einige Sekunden, ein Minute, zwei Minuten. Auf dem Podium herrschte Stille. Langsam breitete sich wieder Unruhe zwischen den Gästen aus, doch dann trat jemand anderer vor die Menge.
Der Kirimlord Sabul höchstpersönlich. Die Unruhe wich Staunen. Einige traten ein paar Schritte zurück, andere neigten ehrfürchtig ihre Häupter, keiner sprach mehr ein Wort.
„Wie meine Gefährtin dies bereits sagte, wir suchen einen Begleiter für unsere Tochter“, ein Blick von ihm reichte und der aufkeimende Jubel wurde erstickt, „daher richte ich meine Worte nun an jeden Wolf von hohem Stande in diesem Raum. Jeder der denkt, sein Sohn – oder auch er selbst – sei der Prüfung gewachsen, könnte den Kampf bestehen, ist erwünscht!“, seine raue Stimme hallte durch die Höhle. Man sah, wie einige junge Wölfe erwartungsvoll den Kopf hoben. So einfach war es also?
„Denkt aber nicht, dass es einfach wird. Die Prüfung ist hart, der Kampf kann tödlich sein, nur der Stärkste unter euch, derjenige der wirklichen Charakter, wirklichen Mut, wirkliche Stärke zeigt, der kann gewinnen“, seine Worte schienen einigen jungen Kriegern den Wind unter den Segeln wieder genommen zu haben.
Kurz ließ er seine Blicke durch die Menge schweifen, dann hob er seine Hand und deutete zum Höhlenausgang. Alle Blicke folgten der Hand des Lords. Sie blickten in den Schein des Mondes, welcher hoch oben am Himmel thronte.
„Morgen, wenn die Sonnen den Zenit erreichen, erwarten wir euch am Kalumsbaum, dort könnt ihr euch eurem Schicksal stellen. Der Gefährte wird von uns erwählt, zur Sonnenwende des Basul!“, den letzten Satz hatte er feierlich in die Menge gerufen, dann trat er zurück.
Die Wölfe, welche sich um sie herum postiert hatten, stimmten ein freudiges Heulen an, in welches viele der Gäste einfielen. Marja war einen Schritt zurückgetreten und sah ihre Eltern an. Hatte einer der beiden sie auch gefragt, ob sie das wollte? Wütend folgte sie ihnen, niemals würde sie sich irgendeinem Halbstarken dort unten fügen.
Als das Heulkonzert zu Ende war, hatte Marja das Fest bereits verlassen. Sie saß auf dem dicken Ast eines Baumes und starrte zum Mond. Ihre Füße baumelten leicht in der Luft und sie dachte nach.
„Da bist du ja! Ich habe dich überall gesucht!“, die weiche Stimme ihrer besten Freundin Santja drang an Marjas Ohren. Verwirrt schüttelte sie den Kopf und kehrte wieder in die Realität zurück. Sie sah sich kurz um, dann fiel ihr ein, dass die Stimme von unten gekommen war.
Mit in die Hüften gestemmten Armen stand die Wölfin mit den kurzen zotteligen grauen Haaren neben dem Stamm des Baumes. Marja hätte beinahe zu lachen begonnen. Ihre beste Freundin sah einfach zu lustig aus, wenn man sie von hier oben betrachtete, wie ein kleines Dreijähriges Kind, dass etwas zu Essen wollte.
„Komm runter!“, verlangte sie leicht beleidigt, doch Marja schüttelte nur den Kopf. Stattdessen klopfte sie mit der Hand leicht neben sich auf den Ast.
„Der ist stark genug für zwei!“, rief sie zu Santja nach unten. Diese verdrehte kurz die Augen, dann sprang sie aber mit einem elegant anmutenden Sprung auf den Baum. Während dem Sprung verwandelte sich das Mädchen in einen riesigen Wolf, in etwa fünfmal so groß, wie die Wölfe, welche wir von Bildern kennen. Die Krallen gruben sich tief in die Rinde des Baumes, bis dieser zu bluten anfing, dann sprang sie weiter.
Als sie neben Marja landete, hatte sich das zottelige Wesen wieder in eine junge Frau verwandelt, die ihre kurzen Haare lachend schüttelte. Grinsend sah sie auf ihre beste Freundin.
„Was machst du hier?“
Marja sah wieder weg von Santja und auf den Mond, er war bereits ein gutes Stück gewandert. Nun stand er nicht mehr am Zenit sondern war beinahe hinter den hohen Bergen im Norden des GinWoods verschwunden. Eine Weile saß sie nur stumm da, dann drehte sie sich aber doch zu der Wölfin neben sich um.
„Ich will selbst entscheiden, wer an meiner Seite wandern wird...“, meinte sie trotzig. Santja, die einzige, der Marja jemals alles erzählt hatte, sah sie fragend an.
„Du suchst ihn doch nicht noch immer? Marja du bist-“
„Ich habe ihn heute gesehen...“, unterbrach Marja ihre Freundin und somit auch deren Gedanken. Verdutzt starrte sie auf die weißen Locken ihrer Herrin.
„Was?! Und das sagst du mir erst jetzt?!“, für einen Moment war sie leicht sauer auf ihre beste Freundin. Sie hätte ihn ihr vorstellen können, doch dann begriff sie, was Marja ihr damit eigentlich hatte sagen wollen. „Er ist also wieder einfach so verschwunden?“, fragte sie trotz allem leise und vorsichtig nach.
Marja funkelte sie kurz an, dann nickte sie aber, den Blick auf den untergehenden Mond gerichtet. Sie baumelte mit den Füßen, wie ein kleines Mädchen, während sie auf ihrer Lippe herum biss.
„Wieso macht er das immer?“, fragte sie leicht verzweifelt. Wobei 'immer' war nicht unbedingt das richtige Wort, immerhin hatte sie ihn erst zweimal gesehen.
„Weißt du denn wie er heißt?“, fragte Santja , einfach um irgendwas zu sagen, sie wollte ihre beste Freundin aufheitern, doch wusste sie nicht wie. Marja sah kurz zu ihr rüber, für den Bruchteil einer Sekunde waren ihre Augen hell und leuchtend gewesen, doch dann sah sie wieder traurig zum Mond.
„Ja Floor...aber mehr habe ich auch nicht erfahren...“, meinte sie mürrich.
„Immerhin schon was“
„Na und? Was soll mir das jetzt bringen?“, fragte Marja bissig und knurrte dann leise. „Außerdem weiß er jetzt wohl, wer ich bin...somit kann ich es eh schon vergessen...“, murrte sie leise.
„Ach was! Vielleicht kommt er morgen!“, Santja boxte ihr spielerisch in die Seite, sie wollte Marja wieder lachen sehen – und zu ihrer Verwunderung tat sie dies auch, Marja grinste nun.
„Ja...damit könnte ich ihn wiederfinden, vielleicht hast du ja recht!“, ihre Stimme war nun wieder frech und fröhlich. Das Glitzern war in die Augen der Wölfin zurückgekehrt. Erleichtert, dass Marja den Kopf nicht mehr hängen ließ, grinste Santja nun auch. Die Wölfin deutete auf den Mond, der schon fast nicht mehr zu sehen war.
„Siehst du, du wirst keinen Halbstarken nehmen müssen, es melden sich bestimmt auch ein paar gute Wölfe“, lachte sie – und auf Marjas wütenden Blick hin fügte sie schnell hinzu, „und auch der einzige, der es dir recht machen kann, wird sich melden!“
Marja verdrehte die Augen, konnte ihre beste Freundin eigentlich auch mal eine Sekunde lang ernst bleiben und nicht gleich immer alles nur mit Humor sehen? Hin und wieder konnte so eine Eigenschaft echt nerven.
„Man wird sehen...“, meinte sie, stand auf – und ließ sich vom Baum fallen.
Weich und sicher landete Marja auf ihren Händen und Füßen, rappelte sich hoch und warf ihre Haare über die Schultern. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah zu Santja hoch.
„Ich geh ins Bett...habe in den letzten Wochen kaum geschlafen!“
Keine Sekunde später war auch die graue Wölfin neben ihr.
„Dann lass uns mal gehen!“, grinste sie. Leicht neckend gingen die beiden Mädchen davon um sich in ihre Baumhöhlen zu legen.