Beschreibung
David hat Visionen.
Visionen, in denen er die Zukunft sieht. Visionen, die ihm zeigen, wie das Leben laufen wird. Visionen, die ihn in einen Abgrund zu stürzen drohen, als er sieht, wie die Liebe seines Lebens stirbt. Visionen, gegen deren Verwirklichung er anzukämpfen beginnt um den Mensch zu beschützen, den er am meisten liebt.
Prolog.
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Ein Tropfen Liebe ist mehr als ein Ozean Verstand.
- Blaise Pascal
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Was aus Liebe getan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.
- Friedrich Nietzsche
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Es gibt für jeden Menschen diese eine Person, die perfekt zu ihm passt.
Diese eine Person, die dich so nimmt wie du bist – mit all deinen Fehlern.
Der du wichtiger bist als alles andere.
Die dein erster Gedanke am Morgen und dein letzter am Abend ist.
Die dich blind versteht.
Deren Nähe dir Geborgenheit gibt.
Die dich zum Lachen bringt, auch wenn dir nach Weinen zumute ist.
Die dein Seelenverwandter ist.
Die dir das Gefühl gibt etwas Besonderes zu sein.
Die dein Halt ist, wann immer du orientierungslos bist.
Diese eine Person, die dein Leben ist.
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Und jetzt stell dir vor diese Person ist bereits an deiner Seite...
Wie weit würdest du gehen um sie zu schützen?
Was würdest du für sie aufgeben?
Für die Liebe deines Lebens?
1
David verdrehte die Augen. Leonie übertrieb wie immer maßlos. Seit einer geschlagenen Stunde durfte er sich jetzt schon einen Vortrag darüber anhören, wie gedankenlos, egoistisch und gemein er doch sei. Und das alles nur, weil er ihren Eltern gegenüber erwähnt hatte, das Hausarbeit nicht gerade ihre Stärke sei...
„Die denken jetzt wahrscheinlich, dass ich selbst mit meinen 23 Jahren gar nichts auf die Reihe krieg. Und dass ich mich kein Stück weiter entwickelt hab. Danke dafür!“
„Leonie, mach doch jetzt keine Riesending aus der Sache. Deine Eltern haben drüber geschmunzelt, weil sie dich und dein Chaos kennen und gut ist. Das ist kein Drama!“
„Gott, du bist doch so ein verdammter Idiot. Verstehst du eigentlich gar nichts?“
Leonies Stimme wurde immer lauter. Wütend funkelte sie ihn mit ihren grünen Augen an. Ihre braunen Locken standen in alle Himmelsrichtungen ab, als würde sie unter Strom stehen und sie hatte ihre Augenbrauen derart zusammen gezogen, dass er einfach anfangen musste zu lachen. Sie sah ihn verdutzt an. Ärger flackerte über ihr Gesicht.
„Was?!“, blaffte sie ihn an.
„Du siehst so verdammt süß aus, wenn du wütend bist.“
Leonie wirkte überrascht. Zuerst versuchte sie weiterhin ihre böse Miene beizubehalten, doch schon nach ein paar Sekunden scheiterte sie und ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen.
David musste ebenfalls wieder lächeln. Ihre Launen waren nie von langer Dauer. Er hatte gewonnen.
Langsam streckte er seine Hand aus und strich ihr zärtlich über ihre Wange.
Er liebte diese Frau so sehr.
Seine Hand wanderte in ihren Nacken und sachte drückte er sie in seine Richtung.
Ihre Lippen berührten sich und er konnte spüren, dass sie immer noch grinste.
„Dass du mich aber auch immer um den Finger wickeln musst... Ich falle immer wieder auf deinen Sunnyboy-Charme rein...“, kicherte sie.
„Sunnyboy-Charme?“, wiederholte er mit gespieltem Abscheu.
Sie löste sich von ihm und begutachteten seinen Körper. Mit hochgezogener Augenbraue fing sie an aufzuzählen: „Dunkler Teint, muskulöser Oberkörper, blaue Augen, blonde Haare... Ein Sunnyboy wie er im Buche steht!“
Er verdrehte die Augen, und nahm ihre rechte Hand, in die seinen.
„Ich wusste, dass du dich beruhigst...“, flüsterte er. Seine Stimme hatte den amüsierten Ton verloren.
„Jaja, ich weiß, ich bin sprunghaft und meine Launen wechseln im Sekundentakt. Blablabla.“
Gespielt genervt boxte sie im gegen den Oberarm.
„Nein, Leonie. Ich wusste es.“ Der ernste Unterton in seiner Stimme, ließ den unbekümmerten Ausdruck aus Leonies Gesicht verschwinden.
„Deine Visionen?“
„Ja.“
Ja. Seine Visionen. Seit er sich erinnern konnte hatte er diese kurzen Einblicke in die Zukunft schon. Passieren konnte es jederzeit und überall. Und dann sah er für ein paar Sekunden Dinge, die noch nicht geschehen waren, aber in nächster Zukunft passieren würden. So hatte er heute Morgen, während er unter der Dusche stand das Ende ihres Streits gesehen. David mochte diese Fähigkeit noch nie. Für ihn war es kein Segen, sondern ein Fluch. Es gab einen Grund, warum Menschen solche Dinge nicht wissen sollten, fand er und deshalb versuchte er so gut es ging seine Visionen zu ignorieren. Er kannte keinen einzigen Menschen, der auch dazu in der Lage war und mit dem er darüber hätte reden können. Außer Leonie wusste auch niemand von seinem Geheimnis. Jeder normale Mensch würde ihn direkt abstempeln und in die geschlossene Psychiatrie enweisen lassen, aber sie war eben nicht normal. Zumindest nicht für ihn. Sie versuchte von Anfang an ihn zu verstehen und ihm zu helfen. Zweifel äußerte sie kein einziges Mal. Er seufzte. Womit hatte er diese wundervolle Frau nur verdient?
„David?“ Leonies sanfte Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Ihre Hände hielten die seinen fest. Prüfend musterte sie ihn. Wahrscheinlich versuchte sie abzuschätzen, wie negativ er gerade gestimmt war.
„Du bist der wundervollste Mann, den ich kenne. Unabhängig davon, was du kannst oder nicht kannst. Ich liebe dich. Und das wird auch für immer so bleiben.“
Er nickte und zog sie an sich. Vergrub sein Gesicht in ihren Haaren.
Ohne sie wäre er verloren.
„Ich liebe dich auch.“
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David verschränkte die Hände vor seinem Gesicht, um sich wenigstens ein paar Sekunden vor der blendenden Sonne zu schützen.
„Da haben wir sie!“ Leonie fischte aus ihrer Tasche endlich seine Sonnenbrille und schwenkte sie triumphierend durch die schwüle Luft.
Er bedankte sich, während er danach greifen wollte. Doch sie war schneller.
„Hol sie dir doch!“, schrie sie den Kopf nach hinten geneigt und rannte los. David fluchte, schulterte seinen Rucksack und folgte ihr. An der nächsten Straßenecke warf sie einen Blick über ihre Schultern um zu sehen, wie groß ihr Vorsprung war, dann bog sie ab. Er hatte keine Chance sie einzuholen, sie war einfach zu schnell. Maulend raste er um die Ecke, während er jetzt schon bei der drückenden Hitze kaum noch Luft bekam. Wo holte sie nur diese Ausdauer her? Leonie quietschte vergnügt als sie die nächste Häuserecke hinter sich ließ und jetzt freien Blick auf den Eiffelturm hatte. David wusste wie sehr sie dieser Komplex beeindruckte. Sie hatte sich schon immer gewünscht einmal hierher zu kommen und zu ihrem fünften Jahrestag sollte es nun so weit sein. Er bremste ab und blieb stehen, während er sich schmerzverzerrt die Seite hielt. Bei dieser Hitze konnte doch niemand laufen! Seine Hand wanderte zu seiner Hosentasche und umfasste das Schmuckkästchen mit dem Ring. Wenn er die Sache mit dem Heiratsantrag wirklich durchziehen wollte, musste er jetzt eine Pause einlegen, sonst hätte er dafür nachher keine Puste mehr. Unwillkürlich musste er den Kopf schütteln. Fünf Jahre verbrachte er jetzt schon an ihrer Seite und trotzdem kam es ihm vor, als ob sie erst gestern in sein Leben gestolpert wäre. Sie hatten sich damals in einem Café kennengelernt, in dem sie als Aushilfe kellnerte. Er hatte ihr zugezwinkert und sie ihm vor lauter Nervosität den Kaffee über die Beine geschüttet. Geschicklichkeit war eben noch nie ihre Stärke. Trotz des Seitenstechens musste er jetzt schmunzeln, als er Leonie sah, die mittlerweile auch stehen geblieben war und sich ihm zugewandt hatte. Mit ihren großen grünen Augen, die sie verzückt aufgerissen hatte, strahlte sie ihn an, wie ein Kind, das vom Weihnachtsmann beschenkt wird. Ihre Lippen formten das Wort „Wunderschön.“, bevor sie sich erneut umdrehte und los lief. Und dann ging alles rasend schnell. Viel zu schnell.
David hörte das Hupen eines Autos, quietschende Reifen und sah Leonie. Seine Leonie. Die wie eine Puppe durch die Luft flog. Er schrie und rannte los.
Er hörte nichts mehr, alle Geräusche und Gerüche waren wie weg geblasen. Die Zeit stand still. Sein Kopf war leer gefegt, sein Blick auf die Unfallstelle fokussiert. Platz war nur noch für einen einzigen Gedanken: „Nein!“
Nein. Nein. Nein. Ihr durfte nichts passiert sein. Er schob die Leute zur Seite, die sich bereits um eines der Autos gesammelt hatten, sprang über eine Metallstange und landete neben ihr.
David sah das blutgetränkte T-Shirt, die aufgerissene Verletztung an ihrer Taille, die Abschürfungen an ihren Armen und die seltsamen Winkel, in denen ihre Beine abstanden.
Ihre Augen waren geöffnet und sie sah überrascht aus, doch ihr Blick war in weite Ferne gerichtet.
„LEONIE!“ Er schrie ihren Namen und schüttelte an ihren Schultern. Das durfte nicht sein. Alles. Nur das nicht. Sie musste aufwachen. Fast erwartete er, dass sie die Augen aufreißen, aufspringen, ihn auslachen und davon laufen würde, doch das tat sie nicht. Reglos und stumm lag sie in seinen Armen. Er fühlte keinen Pulsschlag mehr.“
„Hilfe...“ Seine Stimme war nun mehr ein Flüstern. „Bitte helft mir doch!“ Er hob den Kopf und sah die Passanten in nächster Nähe an. Ein älterer Mann legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„NEIN! Holt Hilfe!!! Macht doch etwas! Nous avons besoin d’aide!" David schrie wieder. Wie konnten sie alle einfach nur da stehen und nichts tun? In der Ferne hörte er Sirenen langsam näher kommen. Und doch wusste er tief in seinem Herzen, das sie nicht rechtzeitg bei ihr sein würden. Sie war schon weg. Und zwar für immer. Er konnte förmlich spüren wie sein Herz zerbrach. Seine Verzweiflung bahnte sich einen Weg nach draußen und er fing an zu schreien. Er konnte nicht mehr aufhören. Er schrie und schrie und schrie...
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„DAVID!“
Schlagartig kam er zu sich. Leonies besorgtes Gesicht beäugte ihn misstrauisch. Ihre Hände hatten ihn an den Schultern gepackt und schüttelten ihn.
„Du hattest einen Alptraum und hast geschrieen... aber ich hab dich nicht wach bekommen. Ist alles ok?“
Er atmete langsam ein und aus um sich selbst zu beruhigen und Zeit zu gewinnnen um seine Gedanken zu ordnen. Er lag in seinem Bett. Er war zu Hause. Was war passiert? Gedankenfetzen flimmerten durch seinen Kopf. Paris. Lachen. Laufen. Auto. Unfall. Tod.
Leonies Blick hing immer noch an ihm, während sie beruhigend über seine Oberarme strich.
Was zum Teufel war das? War das eine Vision? Sie war ungewöhnlich lang, aber auch zu intensiv um nur ein Traum gewesen zu sein.
Oh, mein Gott. Eine Vision. Leonie würde sterben! Er versuchte die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Er würde sie beschützen. Er musst sie beschützen! Er sah den fragenden Ausdruck in ihrem Gesicht. Sollte er ihr von seiner Vision erzählen? Immerhin betraff es sie... aber würde es etwas ändern, wenn sie es wüsste? Nein. Sie würde unnötig Angst haben und traurig sein, aber mehr auch nicht. Wenn sie ihm überhaupt glauben würde. Leonie hatte zwar nie an dem, was er sah gezweifelt, allerdings hatte er auch nie den Tod eines Menschen voraus gesehen. Und in diesem Fall würde es ihr Tod sein! David entschied sich sich dafür, sie vorerst im Unklaren zu lassen, bis er selbst einen Plan hatte.
„Es ist schon ok, es war ja nur ein Traum...“ Er versuchte zu lächeln, während tausend Emotionen, in ihm tobten und zog sie an sich. Sie kuschelte sich an ihn und eine zeitlang lagen sie einfach nur so schweigend da. Wut. Trauer. Verzweiflung. Panik. Angst. Nach ein paar Minuten spürte er wie sich Leonies Körper langsam wieder entspannte und sie einnickte.
Sein Kopf hingegen arbeitete auf Hochtouren. Am liebsten würde er aufspringen und anfangen laut zu schreien. Was sollte er bloß tun?
Er durfte nicht zulassen, dass ihr etwas passiert. Das würde er irgendwie verhindern müssen.
David drückte ihren Körper fester an den seinen und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.
Egal, was es kosten würde, er würde dafür sorgen, dass sie leben würde.
Seine Gedanken wanderten an Tage zurück, die viele Jahre zurück lagen. Er war damals gerade vierzehn Jahre alt geworden, als er in einer seiner Visionen Benchi sterben sah. Benchi war sein zehnjähriger Jack Russell Terrier, den er über alles liebte. David sah, wie sich der Rüde beim Spazieren gehen von der Leine riss und vor das nächste Auto rannte. Daraufhin ließ er ihn nur noch in den großen Garten hinter ihrem Haus und tobte dort mit ihm, weil sich so ja seine Vorhersage nicht bewahrheiten konnte. Das tat sie auch nicht. Benchi starb trotzdem. Und zwar bereits ein paar Tage später. Er schlief einfach ein und wurde nicht mehr wach. Damals fand sich David irgendwann damit ab, dass man die Zukunft eben nur bedingt beeinflussen konnte. Aber jetzt war alles anders.
Eine Vision hatte alles geändert. Wie sollte er sich jetzt noch damit abfinden können?
Doch was konnte er tun, damit sich das Ganze anders entwickeln würde?
Davids Stirn legte sich in Falten. Er versuchte sich an die Details seiner Vorhersage zu erinnern.
Sie hatten fünfjähriges Beziehungs-Jubiläum, also wurde es im Juli passieren. Noch fast ein halbes Jahr. Sie waren in Paris. War da sonst noch etwas? Ihm fiel nichts mehr ein, was von Bedeutung war.
Also wurde er nicht mit ihr nach Paris fahren. Sie hatten noch überhaupt nicht darüber geredet, nichts geplant. Leonie würde nichts vermissen, sie müssten nichts absagen, er würde es einfach nie vorschlagen. So einfach war das. Wieder musste er an Benchi denken. So einfach würde es niemals sein.
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„Fandest du das rote oder das schwarze besser?“ Leonie stand im Rahmen der Umkleidekabine und sah David erwartungsvoll an. Dieser schien jedoch mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein und bekam gar nicht mit, dass sie ihn angesprochen hatte. Starr saß er auf einem Hocker ihr und den Kabinen gegenüber und starrte Löcher in die Luft.
„Erde an David! Das rote oder das schwarze?“, trällerte sie leicht genervt, während sie die beiden Kleider, die sie je in einer Hand hielt, hoch hebte.
Er schreckte hoch und sah sie verwirrt an. Dunkle Ringe zeichnete sich unter seinen Augen ab und auch sonst wirkte er abgehetzt und unausgeschlafen.
„Zieh nochmal das schwarze an...“, antwortete er erschöpft.
Leonie zog die linke Augenbraue skeptisch hoch.
„Willst du mir nicht mal langsam sagen, was mit dir los ist?“
David schüttelte langsam den Kopf. „Es ist nichts...“
„David Herzog, so langsam reicht es mir. Du bist seit einer Woche total niedergeschlagen, fertig, beleidgt oder was auch immer. Auf jeden Fall beschäftigt dich etwas! Und ich kann dir - verdammt nochmal – nicht helfen, wenn ich nicht weiß, was mit dir los ist!“
Was mit ihm los ist? Er sah in ihre Augen, die ihn so intensiv musterten. Diese Augen, die so voller Leben waren. Wie sollte er ihr sagen, dass er sie sterben gesehen hatte? Er zerbrach sich seit acht Tagen den Kopf darüber, was er machen sollte. Was richtig, was falsch war. Das Problem war, dass es einfach kein richitg oder falsch gab. Das Leben war nicht so. Es war nicht nur schwarz oder weiß.
Er musste entscheiden, was er verantworten konnte. Wie viel Grau erträglich war.
Wenn er Leonie von seiner Vision erzählen würde, würde sie panisch werden. Sie würde verständlicherweise Angst haben und bis zum Schluss versuchen, das abzuwehren, was vielleicht unausweichlich war. Sie hätte auf jeden Fall keine ruhige Minute mehr.
So lange sie es jedoch nicht wusste, konnte sie weiterhin unbekümmert ihr Leben leben, während er versuchen würde alles zu tun um sie zu retten. Und wenn ihm das nicht gelingen würde, würde ihr Tod sie wenigstens unvorbereitet treffen. Sie könnte bis zu ihrem letzten Moment glücklich sein.
Aber hatte sie nicht ein Recht auf diese Information? Was würde er sich wünschen oder erwarten, wenn es der umgekehrte Fall wäre? David hatte keine Ahnung. Ihn überforderte das alles. Fakt war, dass er es einfach nicht ertragen konnte, derjenige zu sein, der sie in ein dunkles Loch schubste. Und genauso würde sie es empfinden. War es also egoistisch, feige es ihr nicht zu sagen?
Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Er wollte sie doch einfach nur beschützen, alles Leid von ihr fern halten. Sie war in seinen Augen so zerbrechlich. Wie sollte er am Ende damit leben, wenn er oder seine Worte sie ganz zerstören würden?
Er musste es einfach gerade biegen. Er musste eine Möglichkeit finden, dass zu ändern, was noch kommen würde. Aber wie?
Zum wohl zweihundertsten Mal stellte er sich diese Frage. Einfach nur nicht nach Paris zu fahren und damit lediglich den Ort zu wechseln, erschien im mittlerweile einfach zu wenig. Bei Benchi hatte er prinzipiell das Selbe probiert und es hatte nicht funktioniert. Er musste etwas finden, dass gravierender war. Der Heiratsantrag kam ihm wieder in den Sinn. Würde es etwas ändern, wenn er sie jetzt fragen würde? In seiner Vision war er nicht mehr dazu gekommen, sie war vorher gestorben.
Damit müsste er doch etwas verändern können, schließlich würde es starke Auswirkungen auf ihre Zukunft haben.
Leonie räusperte sich. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sie immer noch vor ihm stand und auf eine Antwort wartete.
„Es ist wirklich nichts... ich habe nur schlecht geschlafen.“
Er sah die Enttäuschung in ihren Augen aufflackern. Sie deutete es wahrscheinlich als fehlendes Vertrauen, dass er sich ihr nicht öffnete.
Ein schnippisches „Na dann.“, war alles, was sie für ihn übrig hatte, bevor sie wieder in der Kabine verschwand und wütend den Vorhang zuzog.
Zum Glück, war diese Frau so einfach, unkompliziert und kein bisschen zickig. Wieder einmal konnte David nur die Augen verdrehen. Sie wieder positiver zu stimmen, würde diesmal wohl nicht so einfach werden, wie bei ihrem letzten Gekabbel.
Und ihr in dieser Stimmungslage einen Heiratsantrag zu machen, würde wohl auch nicht von Erfolg gekrönt sein. Obwohl... Er könnte sagen, dass er die letzten Tage vor Nervosität so schlecht geschlafen hätte und damit seine Laune erklären. Und in diesem Einkaufszentrum hier, gab es schließlich auch Juweliere. David fing an auf seiner Unterlippe zu kauen. Irgendwie fühlte er sich schlecht dabei. Als würde er sie nur aus einem praktischen Nutzen heraus fragen, ob sie ihn heiraten wollen würde. Dabei dachte er schon länger darüber nach und er war sich ja auch sicher, dass sie die Frau seines Lebens war. Seine große Liebe. Die Frau, mit der er alt wollen und Kinder bekommen wollte. Die Frau, die immer an seiner Seite sein sollte. Immer. Ein Leben lang. Nicht nur noch ein paar Monate.
„Leonie, ich muss noch kurz weg, eine Kleinigkeit erledigen. Ich komme danach wieder hierher, ok?“, fragte er dem rötlichen Vorhang zugewandt, hinter dem sie immer noch verborgen war.
„Mach doch, wie du denkst.“, kam es fauchend zurück.
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David spürte sein Herz bis zum Hals schlagen, als er die Boutique wieder betrat.
Schon von weitem sah er Leonie, die schmollend auf dem Hocker saß, auf dem er eben noch Platz genommen hatte. Unwillkürlich musste er schmunzeln.
Langsam trat er neben sie. „Schatz?“
Sie würdigte ihn keines Blickes. Sie war so richitg sauer. Die Arme hatte sie vor der Brust verschränkt und den Blick starr gerade aus gerichtet. Er musste Kichern. Sie war wirklich manchmal wie ein kleines Kind.
„Findest du das etwa witzig?“ Im Nu war sie aufgesprungen und stand mit in die Hüfte gestemmten Händen vor ihm. Ihre Augen blickten ihn wütend und vorwurfsvoll an.
„Ich wollte nur, dass du aufstehst...“, sagte er sanft, während er sich langsam vor ihr hinkniete.
„Kannst du mir mal sagen, was dieser Blödsinn soll?“ Verständnislos sah sie sie ihn an. David ergriff ihre Hände und da fing sie langsam an zu verstehen. Ihre Miene erhellte sich binnen ein paar Sekunden und der irritierte Ausdruck wich freudiger Erwartung.
„Als ich vor über vier Jahren in diesem Café saß, da wollte ich nur einen Kaffee bestellen und dann wieder meiner Wege gehen. Bekommen habe ich so viel mehr. Du bist in mein Leben gestolpert und hast einfach alles auf den Kopf gestellt und trotzdem würde ich keine Sekunde davon wieder hergeben wollen. Du machst mein Leben erst lebenswert. Und zwar jeden Tag auf’s Neue. Deshalb wollte ich dich fragen, ob du mir versprechen willst, dass auch in Zukunft jeden Tag zu tun. Leonie Beur, willst du meine Frau werden?“
Sie lächelte ihn an, während Tränen in ihren Augen standen. Gerührt legte sie sich ihre rechte Hand auf ihre Brust. David wurde unsicher. Warum sagte sie denn nichts?
Sie sah ihn immer noch an, doch der Ausdruck auf ihrem Gesicht veränderte sich. Sie wirkte gequält. „Leonie?“ Nervös flüsterte er ihren Namen und stand dann gerade noch rechtzeitg auf um sie aufzufangen, als ihre Beine nachgaben. Er sank mit ihr auf den Boden.
„Es tut so weh...“ Ihre Augen waren aufgerissen und sie presste ihre Hand immer fester auf ihren Brustkorb. Das Atmen schien ihr ebenfalls schwer zu fallen.
David rief nach einer der Verkäuferinnen, die sofort einen Notarzt alamierte. Dann galt seine ganze Aufmerksamkeit wieder Leonie. „Gleich kommt Hilfe... Alles wird wieder gut...“
Feine Schweißperlen hatten sich auf ihrer Stirn gebildet und ihr Blick schien immer mehr abzudriften. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Er hatte doch alles verändern wollen. Ihr durfte nichts passieren. Ihre Atmung wurde flacher. Mühsam öffnete sie erneut die Augen und flüsterte seinen Namen.
„Ja, mein Liebling?“ Seine Stimme zitterte, obwohl er versuchte die Kontrolle zu behalten. Panik schwappte wellenartig über ihn.
Sie antwortete nicht mehr. Ihr Körper entspannte sich und plötzlich lag sie ganz ruhig in seinen Armen.
Er klammerte sich nur um so fester an sie. An sein Leben.
Sie durfte nicht weg sein.
Nur ein paar Minuten später traf der Notarzt ein. Zu spät. Sie konnten nichts mehr machen. Verdacht auf Herzinfarkt. David saß die ganze Zeit bewegungsunfähig neben ihr und streichelte über ihr Gesicht und ihre Haare. Er konnte nicht realisieren, was da gerade passiert war. Minuten hatten alles geändert. Alles.
„Herr Herzog?“ Ein junger Sanitäter war neben ihm in die Knie gegangen. „Wir müssen ihre Freundin jetzt leider mitnehmen. Hier können wir nichts mehr für sie machen.“
Vorsichtig griff er nach Davids Händen und schob sie sanft von Leonies Körper weg.
„Nein. Bitte nicht.“, flüsterte er. „Bitte lass sie bei mir.“ Tränen schossen in seine Augen.
„Nimm sie mir nicht weg.“
„Sie ist schon weg...“
„NEIN!“
Ein letzter gequälter Schrei kam über Davids Lippen, dann brach er zusammen und Dunkelheit umfing ihn.