Was tun, wenn alles, was du glaubtest, eine Lüge war?
Am nächsten Tag ging die Reise weiter. Als Suse aufwachte, hatten sie ihr Lager schon abgebaut und die Kutsche fuhr bereits den mittlerweile wieder breiteren Weg entlang. Noch waren sie nicht im Wald, die Straße würde erst weiter hinten, dort wo der Wald am schmälsten war, durch das dichte Unterholz führen.
Neugierig sah Suse aus dem Fenster, doch ihr kam hier nichts bekannt vor, sie hatte das Dorf zwar schon oft verlassen um nach Fénktijr zu gehen, doch war sie noch nie in diese Richtung gefahren. Da sie wissen wollte, wo sie ihr Weg denn hinführte, holte sie ihre Karte, welche Erwin ihr samt dem Brief geschickt hatte, heraus und sah sie sich an, doch die einzigen Wege, die von Tûljú wegführten und an einem Wald vorbei führten, waren der nach Fénktijr und der zum Meer. Sie war noch nie am Meer gewesen.
Gespannt sah das Mädchen hoch, ihr Cousin saß ihr gegenüber und beobachtete sie mit einem schiefen Grinsen.
„Gibt es was, meine Cousine?“, fragte er schmunzelnd, wobei er wohl schon wusste, was sie ihn fragen würde.
„Wir fahren zum Meer?“, fragte diese erstaunt.
„Ja.“
„Aber...wie?“, Suse brach ab, sie konnte sich nicht vorstellen, wie man eine so große Strecke über Wasser überbrücken konnte.
„Aber was?“, fragte Erwin amüsiert nach.
„Wie kommen wir dann nach Dodmaerin?“, fragte sie ganz leise, da sie sich schämte es nicht zu wissen.
„Mit dem Boot, aber keine Sorge, du wirst es noch früh genug sehen“, meinte Erwin leichthin und hielt ihr dann eine gedörrte Frucht hin.
Suse nahm sie dankbar entgegen, dabei fiel ihr Blick auf den noch immer schlafenden Will. Er sah besser aus, als am Vortag, doch merkte man ihm noch immer an, dass er krank war. Während sie ihre Frucht verspeiste, dachte sie darüber nach, wie sie ihm noch helfen konnte, aber solange Erwin hier mit ihr in der Kutsche war, würde dies nicht gehen.
So lehnte sich das Mädchen zurück und sah aus der Kutsche, sie hatten die Durchfahrt mittlerweile erreicht und die Dunkelheit des Waldes brach über ihnen herein. Da Suse sich in diesem Wald schon immer gefürchtet hatte, redete sie den restlichen Tag mit Erwin um sich abzulenken.
Am frühen Nachmittag wachte auch Will auf, zu seiner großen Verwunderung bekam er von seinem Prinzen sofort etwas zu Essen.
„Hier, du musst wieder zu Kräften kommen“, meinte Suse, als sie ihm auch noch etwas zu Trinken gab.
Will starrte beides verwirrt an, sowohl das Essen, als auch das Trinken.
„Aber Sie-“, stammelte er.
„Erstens, ich bin keine Sie oder etwas Anderes, sondern einfach nur Suse und zweitens haben wir schon genug gegessen und jetzt iss, das Essen beißt nicht“, unterbrach ihn Suse streng und kam somit ihrem Cousin, der ebenfalls den Mund geöffnet hatte, zuvor.
„Du kannst wirklich essen, Will“, meinte dieser nur leise und legte ihm die Frucht und ein Stück Brot hin.
Will zögerte noch einen Moment, er sah verwirrt zwischen den beiden und dem Essen hin und her, doch als sein Magen dann vernehmlich knurrte und ihm die beiden einen weiteren strengen Blick zuwarfen, strecke er seine Hand aus und nahm beides entgegen. Nach dem ersten vorsichtigem Bissen konnte er sich dann nicht mehr zusammenreißen und er aß gierig alles auf.
Als er fertig war, wollte er aufstehen um hinaus zu seinem Pferd zu gehen, aber Erwin schüttelte den Kopf und meinte er solle ruhig hier bleiben. Will setzte sich wieder zurück und ihm klappte der Mund auf, als ihn die beiden, also Suse und Erwin, an ihren Gesprächen teilhaben ließen.
Im Laufe des Tages legte er aber seine Unsicherheit ab und er und Suse verstanden sich bald prächtig. Als sie kurz bevor es dunkel wurde das Nachtlager aufschlugen, setzte sich Suse zu Will und die beiden machten noch bis spät in die Nacht hinein Unfug.
So vergingen die nächsten paar Tage, die sie im Wald verbrachten, und auch als Will schon wieder ziemlich fit war, durfte er noch bei ihnen in der Kutsche sitzen. Ihn hatte Suse auch das Buch gezeigt und er schien brennend daran interessiert zu sein, mehr über diese eigenartigen Zeichen zu erfahren.
Erwin hielt sich in diesen Tagen zurück, er mochte seine Cousine sehr, doch merkte er, dass sie sich außerordentlich gut mit seinem Stallburschen vertrug und er wollte ihnen die Zeit geben, denn seine Eltern mochten den Waisenjungen, den Erwin eines Tages bei einem Ausflug noch als kleiner Junge in sein Herz geschlossen hatte, überhaupt nicht. Der Prinz konnte von Glück reden, dass er seine Eltern überreden konnte, ihn bei ihnen wohnen zu lassen – natürlich war nur eine Stelle als Diener möglich gewesen, aber es war besser, als auf der Straße zu leben.
Dass er jetzt noch jemanden fand, der ihn wie einen normalen Menschen behandelte, freute Erwin sehr und so war er schon versucht, sich selbst auf ein Pferd zu setzen, doch er wusste, dass dies Will nur in Schwierigkeiten bringen würde. Die beiden würden ihn also wohl oder übel ertragen müssen.
Suse und Will hatten aber nichts dagegen, dass Erwin hier war, ganz im Gegenteil, Suse war sehr froh, sie beide hier zu haben, da sie ihren Cousin von Anfang an mochte und die Freundschaft mit Will wurde auch immer enger. So hatte sie zwei Personen die ihr halfen ihr aufkeimendes Heimweh zu besänftigen.
Am sechsten Tag ihrer Reise kam schließlich das Meer in Sicht. Es sah wunderschön aus, wie es bis in die Weite Ferne glitzerte. Suse konnte beinahe den ganzen Tag ihren Blick von den glitzerten Wellen abwenden, so erstaunt war sie. Immer größer wurden sie und als sie am Abend die kleine Küstenstadt erreicht hatten, war das sanfte Rauschen zu einem ohrenbetäubenden Laut herangeschwollen. Lange fragte sie sich, was das wohl für ein Geräusch war, bis sie begriff, dass es die Wellen, die an die Brandung schlugen, waren.
„Wir sind da, kommt“, meinte Erwin schließlich in die Stille hinein und riss sie so aus ihren Gedanken.
„Ich hole schnell das Gepäck und bringe-“, setzte Will an und sprang auf, doch Erwin winkte ab.
„Schon okay, ich denke, wir können das bisschen selbst tragen und der Rest ist bereits auf dem Schiff.“
„Natürlich, Herr“, Will neigte den Kopf und sah auf den Boden, er schien vergessen zu haben, wie offen er in den letzten Tagen zu Erwin war.
„Will, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du mich Erwin nennen sollst, zumindest dann, wenn meine Eltern nicht in der Nähe sind und das wird noch eine Weile so sein, also bitte“, Erwin lächelte ihn an, dann schwang er seine Füße aus der Kutsche und sah zu den beiden zurück.
„Achja, du kannst bei Suse und mir in der Kajüte schlafen, wenn du willst. Du musst also nicht unter Deck, so wie all die anderen“
Mit offenem Mund saß Will da, erst als Suse ihn lachend aus der Kutsche zog und dabei ihr Bündel mitnahm, klappte er ihn wieder zu. Erstaunt trat das Mädchen neben ihm zum Rand des Kais. Das Meer wirkte hier um einiges dunkler als weiter draußen, es sah beinahe dunkelblau aus, während es am Vormittag noch wunderschön türkis geschillert hatte.
Mit großen Augen folgte sie Will, der ihrem Cousin auf das Schiff gefolgt war. Als sie das Schaukeln spürte, hoffte sie, dass es bald aufhören würde. Doch die Neugierde war größer, sie konnte gar nicht genug bekommen von all den arbeiteten Menschen, von den kreischenden Vögeln, welche über die Masten des Schiffes hinwegflogen, von den gebrüllten Befehlen eines untersetzten Mannes, der nun angestapft kam, Will einen zornigen Blick zuwarf und sich vor Erwin verneigte.
„Wenn sie erlauben?“, meinte er und wollte Suse das Bündel abnehmen – wohl um es jemand anderen zu geben – doch sie zog es nur noch enger an sich.
Mit einem verwunderten Blick auf Erwin ließ er sie schließlich durch und machte sich weiter daran seinen Leuten Befehle zu zubrüllen. Die drei gingen unterdes durch eine Tür in das innere des Bootes und fanden sich bald in zwei kleineren Räumen, in denen jeweils eine Schlafstätte, ein kleiner Schrank und ein Tisch war, sowie ein Spiegel, waren.
„Ich lasse für Will noch ein Bett in meine Kajüte bringen“, meinte Erwin, doch bevor er dies tun konnte, wurde er nach oben geholt und musste sich mit dem Kapitän treffen.
Suse und Will sahen sich lächelnd an und redeten noch eine Weile, dann entschuldigte sich auch Will, er wolle schnell nach oben sehen, meinte er. Suse wollte ihm eigentlich folgen, doch wurde sie beim Rausgehen von zwei jungen Frauen abgeholt, welche während ihres Aufenthaltes in Dodmaerin ihre Zofen sein sollten.
Eifrig machten sie sich daran ihr Haar zu kämmen und sie für das bevorstehende Abendessen fertig zu machen. Da Suse zu beschäftigt damit war, den beiden einreden zu wollen, dass ihr das Kleid, welches sie trug, sehr gut gefiel, bemerkte sie von dem Seegang des Schiffes nur wenig.
Als sie nach einigen Stunden schließlich doch das gelbe Kleid trug, welches die Zofen für sie bereitgelegt hatten und nach oben ging, stellte sie zu ihrer Verwunderung fest, dass sie schon sehr weit vom Land entfernt waren. Mit einem etwas mulmigen Gefühl im Magen drehte sie sich um und folgte ihren Dienerinnen in den Speisesaal des Schiffes. Sie würde zumindest Erwin und Will wieder sehen, dachte sie sich, als ihr auffiel, dass sie die beiden seit sie auf das Schiff gegangen waren nicht mehr gesehen hatte.
Zu ihrer großen Verwunderung saßen an dem Tisch jedoch nur ein paar gut gekleidete Männer und Erwin, der ihr entgegen grinste, als er sie sah. Eine ihrer Zofen zog sofort einen Stuhl für sie heran und lächelte ihr aufmunternd entgegen.
Nun doch hungrig geworden, setzte sich Suse neben Erwin und sah ihn fragend an, doch er schüttelte nur kaum merklich den Kopf. Dann drehte er sich wieder zu den Männern und redete mit ihnen. Suse verstand die Worte zwar, doch ergaben sie für das Mädchen keinen Sinn und so wartete sie einfach stumm auf das Essen.
Schließlich erhoben sich zwei der Männer, verneigten sich vor Erwin und verließen den Raum. Im selben Moment wurde ihnen Essen gebracht und Suse war froh, auch mal wieder Teller zur Verfügung zu haben. Als sie ihren größten Hunger gestillt hatte und die restlichen Leute eine Weile schweigend am Tisch gesessen hatten, sah sie zu ihrem Cousin auf, der ihr nun einen grinsenden Blick zuwarf.
„Wo ist Will?“, fragte sie schließlich die Frage, welche ihr schon die ganze Zeit auf den Lippen brannte. Sie hatte so leise gesprochen, dass nur ihr Cousin sie hören konnte.
Erwin hielt beim Essen inne, die Gabel schwebte auf halben Weg zu seinem Mund bewegungslos in der Luft. Verwirrt drehte er sich zu ihr um und sah sie an. In seinen Augen konnte man erkennen, dass er sich eigentlich gedacht hatte, dass er bei ihr war.
„Ich hätte gedacht, er war den ganzen Tag bei dir?“, fragte er nach einer Weile schließlich, ebenfalls leise. Die verwirrten Blicke der anderen beachtete keiner der beiden.
„Nein...ich war bei den beiden da“, meinte Suse leise und deutete eher böse auf die zwei Frauen.
Noch ein paar Augenblicke lang sah man Verwirrung in Erwins Blick, dann wurde er plötzlich wütend und er drehte sich zu den anderen am Tisch um, die noch immer stumm da saßen.
„Sucht ihn! Sofort!“, befahl er ihnen in wütenden Tonfall.
Sie sahen sich verdutzt an, als er ihnen dann Wills Namen sagte, runzelten sie verwirrt die Stirn. Angesichts Erwins wütenden Blich sprangen sie aber doch auf und machten sich daran seinem Befehl folge zu leisten. Erwin drehte sich unterdes zu Suse um und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.
„Keine Sorge, sie werden ihn nett behandeln.“
Suse war verwirrt und verängstigt zugleich, doch nickte sie und aß dann weiter, sie konnte sich nicht vorstellen, was Erwin plötzlich so wütend gemacht hatte, doch musste es etwas mit Will zu tun haben und das bereitete ihr Sorgen.
Ein paar Minuten später erfuhr sie schließlich, weshalb ihr Cousin vorhin so ausgerastet war, die Männer kamen wieder zurück, hinter ihnen ein kreidebleicher Will, der nur noch in Lumpen gekleidet war. Suse wollte gerade aufspringen, als neben ihr ein lautes Knurren zu hören war und Erwin tobend auf die kleine Gruppe zuging.
Suse verstand nicht viel von dem was er schrie, doch sie konnte seiner Stimme entnehmen, dass man Will in den Kerker gesteckt hatte. Tränen rannen ihr sofort die Wangen hinunter, und sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.
„...hat es verdient, er schien nicht mehr zu wissen, wo sein Platz ist“, konnte sie eine leise Stimme vernehmen.
„Er wird hier jetzt essen und dann bleibt er für den Rest der Reise in MEINEM Zimmer, es sei denn, er will zu Suse!“, schrie Erwin die Leute nieder und schickte sie alle, bis auf den zitternden Will hinaus.
Kurz darauf legte sich eine große Hand auf Suse Schulter und sie zuckte zusammen. Als sie aufsah, blickte sie in das warme Gesicht ihres Cousins, der sie tröstend in die Arme nahm und ihr über den Rücken strich. Sie beruhigte sich langsam wieder, dann aßen die drei stumm weiter und nach einer Weile redeten sie auch wieder.
Nach dem Essen kam Will dann tatsächlich mit den beiden nach unten und durfte in Erwins Zimmer schlafen. Suse war froh, dass ihr Cousin so nett zu seinem Stallburschen war und schlief glücklich ein.
Am nächsten Tag ging sie mit Will nach oben und während Erwin mit Mr. Brichek, einem seiner Berater, redete, sahen sie dem Wasser zu, wie es vom Bug des Schiffs gebrochen wurde. Sie hatten an diesem Tag viel Spaß, doch Suse musste auch erfahren, dass weit nicht alle auf dem Schiff so freundlich waren wie ihr Cousin. Überall standen in Lumpen gekleidete Menschen, die das Deck schrubbten, kochten oder ähnliche Arbeiten verrichten mussten. Suse wollte ihnen zu Hilfe eilen, doch immer kam einer der gut gekleideten Menschen und meinte, dass dies keine Arbeit für ein Mädchen wie sie war.
Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und ging wieder unter Deck.
„Kopf hoch, sie sind immer so, wir sind es gewohnt“, meinte Will, der ihr gefolgt war.
„Das ist aber gemein!“
„Ich weiß...aber was solls“
Suse lächelte ihn an und die beiden machten es sich in ihrem Zimmer bequem. Der Wellengang des Meeres war hier zwar stärker zu spüren, doch das Schaukeln machte Suse nicht soviel aus, wie sie gedacht hatte. Sie redeten viel und durchsuchten gemeinsam den Schrank in dem die neuen Kleider von Suse hingen.
Als Suse Blick wieder auf ihr Buch, welches sie gut versteckt hatte, fiel, drehte sie sich zu Will um. Ihr war wieder eingefallen, dass sie ihm eigentlich alles sagen wollte. Mit einem leichten Kribbeln im Magen drehte sie sich um. Sie sah, dass er sich auf den Boden gelegt hatte.
„Will?“, fragte sie leise, „Bist du munter Will?“
Der Junge hob den Kopf und sah sie lächelnd an. „Ja, ich bin munter, wieso fragst du?“
Suse grinste nur und ging zu ihrem Buch, ganz hinten steckte es, das wusste sie, ihre Mutter hatte es immer dort versteckt. Vorsichtig öffnete sie die letzte Seite und tatsächlich war es, dort in einer Einkerbung des Umschlags. Ihre dünnen Finger schlossen sich um das schwere Amulett und sie nahm es heraus.
Langsam ging sie auf Will zu und ließ es, als sich dieser aufgesetzt hatte, in seine offene Hand gleiten. Mit großen Augen hielt dieser das wertvolle Schmuckstück in den Händen und sah sie an.
„Was ist damit?“
„Das ist ein Amulett meiner Familie. Will, hast du bei Erwin oder bei seinen Eltern schon mal das Gleiche gesehen?“, es war nur ein leises Hauchen und ihr Blick huschte immer wieder zur Tür hinüber.
Will, der sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was sie damit meinte, schüttelte den Kopf.
„Nein, tut mir leid“, flüsterte er, dann fügte er leiser hinzu, „darf ich fragen warum?“
Suse sah ihn für den Bruchteil einer Sekunde böse an, dann stand sie auf, ging zur Tür, sah nach, ob sie auch ganz gewiss alleine waren und setzte sich dann wieder auf den Boden zu Will.
„Ja, das darfst du, wenn ich ehrlich bin, habe ich sogar gehofft, dass du fragst.“