Was tun, wenn alles, was du glaubtest, eine Lüge war?
Es war ein schöner Sommertag. Suse war gerade vor dem Haus um die Ziegen auf die Weide zu treiben. Da drang lautes Hufgetrappel an ihre Ohren. Verwirrt über den plötzlichen Lärm, der die morgendliche Stille störte, ging das kleine Mädchen zu dem kleinen Weg, welcher etwas Abseits ihres Hauses durch das Dorf führte. Sie war von Natur aus ein neugieriges Geschöpf, was ihr auch schon einige Male ziemliche Schwierigkeiten eingebracht hatte. Als sie an der Straße angekommen war, blieben die Reiter stehen.
Suse strich sich eine locker gewordene Strähne aus dem Gesicht und sah auf – direkt in das Gesicht eines großen schwarzen Pferdes.
Erschrocken sprang sie einen Schritt zurück, sie brauchte ein paar Sekunden um sich wieder zu beruhigen. Erst als sie sich die eigenartigen Gäste ein zweites Mal ansah, bemerkte sie, dass es Schergen des Königs von Dodmaerin waren. Der Mann, welcher ihr am nächsten war, sah sehr unfreundlich aus. Er hatte eine bulliges Gesicht, wütende Augen und Hände, die ihr mit Leichtigkeit das Genick hätten brechen können.
„Wohnt hier eine Suse?“, rief er barsch in die Runde.
Suse, welche ihre Sprache noch immer nicht wieder gefunden hatte, hob die Hand zitternd. Sie hoffte nur, dass es kein Fehler gewesen war, dem Mann zu sagen, dass sie die Gesuchte war. Eine Weile geschah gar nichts, der Scherge sah sich nur mit wilden Augen um.
Da sich kein anderer mehr meldete, stieg der bullige Mann von seinem Ross, griff in die Satteltasche und stapfte dann zu ihr – mit einem merkwürdigem Umschlag in der Hand. Er verneigte sich zu Suses größter Verwunderung, überreichte ihr den Umschlag und stand wieder auf.
„Ein Brief von ihrem ehrwürdigem Cousin, Prinz Erwin“, wieder neigte er den Kopf, stieg auf und ritt mit seinen Gefolgsleuten davon.
Ebenso wie die anderen starrte ihnen Suse verwirrt nach. Cousin? Prinz? Das musste ein Missverständnis sein. Sie wusste nicht, wovon der Mann gesprochen hatte, doch schon machte sich Gemurmel unter den Leuten breit und sie verlangten eine Erklärung.
Ohne sie ihnen zu geben, rannte das Mädchen zu dem kleinen Haus zurück, sie versteckte sich vor den anderen Dorfbewohnern und kroch in den Schatten einiger Bäume. Als sich Suse ganz sicher war, dass ihr niemand gefolgt und sie hier ganz sicher alleine war, holte sie den großen Umschlag mir zittrigen Händen unter ihrem zerlumpten Umhang hervor und betrachtete ihn eingehend.
Er war aus bräunlichem schweren Papier, Suse hatte so etwas Wertvolles noch nie in ihren Händen gehalten. Der Verschluss des Umschlages war mit einem Wachssiegel verschlossen, es zeigte das Wappen des Königshauses von Dodmaerin.
Obwohl der Brief ihr übergeben worden war, traute sich das Mädchen nicht ihn zu öffnen, sie hatte noch nie etwas von einem Cousin in Dodmaerin gehört – geschweige denn von dem Prinzen selbst, wie konnte sie sich da sicher sein, dass sie die Gesuchte war. Schließlich siegte doch ihre Neugierde und Suse brach mit steifen Fingern das Siegel.
Vorsichtig klappte sie den schweren Umschlag auf um den Brief darin zu enthüllen, es waren zwei Blätter. Mit glänzenden Augen strich sie über das wertvolle Papier, sie hielt eine Karte in der Hand, eine Karte von ganz Klodrian. Noch nie im Leben hatte sie auch nur eine gewöhnliche Wegkarte der Gegend in der Hand gehalten, jetzt ein so kostbares Stück. Suse schüttelte den Kopf und schnappte erschrocken nach Luft. Die Karte war riesig, es zeigte sogar die Straße, welche durch ihr Dorf an den Hafen ging.
Erstaunt faltete sie das kostbare Papier wieder zusammen und holte den zweiten Bogen heraus. Sie war gespannt, was darauf zu sehen war, doch als sie den Bogen umdrehte, atmete sie enttäuscht wieder aus.
Es war ein gewöhnlicher Brief und da sie nicht lesen konnte, brachte er ihr rein gar nichts. Mit etwas gedämpfter Stimmung, aber immer noch mit zittrigen Knien, stand das Mädchen auf, schnappte sich den Brief samt Umschlag und rannte ins Haus.
Die junge Frau lag, wie Suse es vermutet hatte, noch im Bett und war völlig verwirrt, als sie von ihrem stotterten Mädchen aufgeweckt wurde. Zuerst etwas wütend, da sie am Vorabend bis spät in die Nacht gearbeitet hatte, öffnete sie die Augen, doch als sie die Aufregung in Suses Augen las, wurde ihr Gesicht freundlicher.
„Was ist denn mein Mäuschen?“, fragte die Frau nun sanft.
Anstatt zu antworten, hielt ihr diese einen braunen Umschlag und einen Brief hin. Ebenso verwirrt wie ihre Tochter, nahm sie beides entgegen und überflog den Brief. Ihre Augen weiteten sich kurz vor Schreck, sie war der Meinung gewesen, dass sie Suse vor der Bestimmung retten konnte, in dem sie einfach das Land verließ und sie als einfaches Bauernmädchen großzog, doch so wie es schien, hatte sie das Schicksal eingeholt.
„Was steht denn da Mama?“, fragte das Kind ungeduldig.
Seufzend stand Luciana auf, schüttelte den Brief zurecht und räusperte sich. Sie würde ihn ihrer Tochter wohl oder übel vorlesen müssen. Noch einmal überflog sie die wenigen Zeilen, gut, sie würden Suse nicht allzu viele Informationen geben, selbst wenn sie davon überzeugt war, dass ihre Tochter diese sehr schnell bekommen würde, und begann dann laut zu lesen:
Liebe Suse!
Ich nehme an, Du wirst keine Ahnung haben, wer ich bin, sicher hast du schon von meiner Familie gehört, aber ich meine, Du wirst nicht wissen, wer ich wirklich bin.
Nun denn, ich kann dir dies alles nicht durch einen Brief erklären, aber ich bin mir sicher, dass wir genügend Zeit haben, alles in Ruhe zu besprechen. Wenn dieser Brief bei dir angekommen ist, bin ich schon auf dem Weg zu dir, wir werden uns also bald sehen.
Ich weiß nicht, ob du weißt, dass ich dein Cousin bin, aber so ist es, die Geschichte soll dir deine Mutter erzählen, ich kenne sie nämlich selbst kaum.
Nur noch so viel, meine Mutter möchte dich einladen und möchte, dass du für eine Weile bei uns wohnst, wann du wieder gehst, bleibt nach diesem Winter deine Entscheidung. Ich habe dir eine Karte mitgesendet, damit du immer weißt, wo wir uns aufhalten.
Grüße deine Mutter lieb von mir und bis bald.
In Liebe
Dein Cousin Erwin, Prinz von Dodmaerin
Als die Mutter zu Ende gelesen hatte, starrten sie und ihre Tochter sich für ein paar Sekunden schweigend an. Die Fragen explodierten nur so in Suses Kopf. Warum hatte sie nicht gewusst, dass sie mit Erwin verwandt war? Warum lebte sie hier als einfache Bäurin, wenn er ein Prinz war? Warum hatte er sich nicht schon viel früher bei ihr gemeldet? Hatte ihre Mutter von all dem gewusst? War es vielleicht doch nur ein Zufall und der Brief war gar nicht für sie? Von welcher Geschichte sprach Erwin?
Suse konnte sich nicht entscheiden, welche Frage sie zuerst stellen sollte, schließlich meinte sie leise: „Welche Geschichte?“
Ihrer Mutter schien genau diese Frage am wenigstens zu gefallen, denn sie rümpfte die Nase, doch dann seufzte sie resigniert auf.
„Also gut...“, begann die junge Frau, sie hatte ihre schwarzen Haare nach hinten geworfen und sah aus dem Fenster. „Ich und Erwins Mutter sind Schwestern, doch als ich mit dir schwanger war, wurde mir bewusst, dass ich ein Leben auf dem Hof nicht dulden konnte. Deine Empfängnis rückte immer näher und schließlich wurdest du geboren, ich wusste, jetzt oder nie. So sattelte ich ein Pferd und verschwand in der Nacht, den anderen hinterließ ich nur eine Nachricht, in der ich ihnen mitteilte, dass sie nicht nach uns suchen sollten. Natürlich taten sie das trotz allem und ich flüchtete mit dir hierher, wo ich mich schließlich niederließ. So wie es aussieht, haben sie die ganze Zeit über gewusst, wo wir uns aufhalten.“, ihre Mutter sprach nur sehr leise und langsam, als sie endlich geendet hatte, herrschte in ihrem Inneren ein komplettes Gefühlschaos.
Sollte sie wütend sein, oder sich freuen, dass sie doch noch Verwandte hatte? Durcheinander und tief in Gedanken versunken, drehte sich das Mädchen um und ging wieder hinaus, wo sie den ganzen restlichen Tag blieb. Sie war enttäuscht, wieso hatte ihre Mutter ihr nichts von all dem erzählt, andererseits hatte sie etwas Angst vor ihrem Cousin. Wie er wohl so war? War er in ihrem Alter oder älter?
In den nächsten Tagen änderte sich ihre Wut jedoch wieder, Suse und ihre Mutter sprachen viel über Erwin und über seine Familie, sie erfuhr, dass er sicher sechs Jahre älter war als sie, wenn nicht sogar mehr, aber ihre Mutter schien sich noch genau an ihn zu erinnern, sie erzählte ihr jede Einzelheit über sein Verhalten, so dass sie nach einer Weile das Gefühl hatte, als würde sie ihren Cousin nur nach einer langen Reise wiedersehen. Mit der Zeit verschwand das mulmige Gefühl und die Angst, Suse freute sich nun schon sehr auf Erwins Ankunft.
Mit der verstreichenden Zeit, hatte sie beschlossen, dass sie ihre Reise als Abenteuer sehen würde, und sie konnte es nun kaum noch erwarten, dass dieses endlich begann. So sehr freute sie sich, dass ihr Cousin in ein paar Tagen kommen würde.
Als dann, zwei Wochen nach der Ankunft des Briefes, endlich die Kutsche von Erwin ankam, stürmte sie sofort aus dem Haus und rief aufgeregt: „Erwin! Erwin!“
Alle Angst war verschwunden, es war ihr egal, dass sie den jungen Mann noch nie gesehen hatte, dass er eigentlich ein Fremder für sie war, sie wollte ihn unbedingt umarmen.
Dieser lächelte, als er durch das Fenster der Kutsche, in welcher er angekommen war, ein kleines Mädchen mit wilden braunen Locken sah. Das letzte Mal hatte er Suse gesehen, da war sie noch ein kleines Baby gewesen und er ein kleiner Junge, doch es waren über vierzehn Jahre vergangen, er war nun ein erwachsener Mann und Suse war ein hübschen Mädchen geworden.
Erwin stieg aus der Kutsche und kam lachend, mit ausgestreckten Armen zu Suse und nahm sie in die Arme: „Suse, du ahnst ja gar nicht, wie sehr ich mich freue, dich wieder zu sehen, meine geliebte Cousine. Lass dich mal ansehen... Du siehst gut aus. Wo ist deine Mutter? Würdest du uns zu ihr bringen?“, fragte er sie freundlich, während er ihren kleinen Körper an sich drückte. In Wahrheit war er erschrocken darüber, wie dünn sie war, er hoffte, dass es ihr hier nicht allzu schlecht ergangen war. Schüchtern war sie auf jeden Fall nicht, dazu hatte sie einen ihr Wildfremden sehr stürmisch begrüßt.
„Aber natürlich, Erwin. Komm sie ist noch im Haus!“, antwortete Suse voller Freude, sie sah ihn kurz entschuldigend an, immerhin hatte sie den Prinzen des Nachbarlandes nicht mit dem Respekt begrüßt, der eigentlich angebracht gewesen wäre, doch dieser winkte nur mit der Hand ab und wollte mit ihr ins Haus gehen, als hinter ihnen eine weiche Stimme ertönte. Beide fuhren erschrocken herum.
„Jetzt nicht mehr. Es freut mich, dich wieder zu sehen Erwin, oder sollte ich sagen, einen schönen Tag mein Prinz“, Luciana neigte ihren Kopf höflich und sah ihn freundlich aber doch wachsam an.
„Tante Luciana, wie ich mich freue!“, rief dieser nach ein paar Sekunden des Staunen fröhlich und sprang auf. Er wäre gerne zu ihr gerannt und hätte seine Tante umarmt, doch sie wirkte noch zerbrechlicher als ihre Tochter. Ihre langen schwarzen Haare, die immer so voll und schön gewesen waren, hingen nun stumpf und trocken herunter und machten ihr knochiges Gesicht noch länger.
„So, ihr seit jetzt lange genug hier im Kalten gewesen, so empfängt man keinen Prinzen! Kommt herein, ihr müsst hungrig sein nach so einer langen Reise. Kommt!“, sie deutete einladend auf das Haus und ging hinein.
Erwin wollte etwas erwidern, fand jedoch nicht die richtigen Worte und winkte so nur seine Begleiter zu sich, unter ihnen war auch sein Stallbursche Will, nahm Suse an der Hand und folgte seiner Tante ins Haus.
"In den letzten Jahren hat sich viel geändert, ihr Aussehen ganz besonders, aber sie scheint noch immer die selbe zu sein, sie war schon immer so gastfreundlich und hat auch die Bediensteten eingeladen. Von der ehrwürdigen Erscheinung, welche sie schon immer hatte, hat sie nichts eingebüßt. Sie ist noch immer eine Frau von Stand, dass kann sie nicht ablegen." dachte Erwin vergnügt.
Das Haus war nicht wirklich groß, aber sehr gemütlich eingerichtet. Der kleine Ofen an der Wand verbreitete eine angenehme Wärme im Zimmer und der Tisch, der beinahe die Hälfte des Raums beanspruchte, wirkte, trotz seiner massigen Bauart, keineswegs protzig. In der Ecke der Tür gegenüber stand direkt neben dem Ofen ein niedergesessenes tannengrünes Sofa, daneben war eine schlichte kleine Holztür die wohl zu den restlichen Räumen führte.
Während sie aßen, huschte Suses Blick immer wieder zu Will. Hin und wieder kam es ihr auch so vor, als fühle sie seinen ängstlichen Blick in ihrem Nacken. Für ihn musste dies alles ebenso neu sein, wie für sie in ein paar Wochen das Schloss – und wahrscheinlich war er verwirrt, dass zwei einfache Leute wie sie sich nicht vor seinem Prinzen verneigten.
Nachdem alle genügend von dem warmen Eintopf, den Luciana mit Liebe zubereitet hatte, gegessen hatten, lächelte ihre Mutter zufrieden und bot ihnen an sich vor der Abreise noch ein wenig auszuruhen. Die anderen nickten alle dankbar und machten es sich in dem kleinen Raum gemütlich. Will und die anderen Bediensteten Erwins setzten sich auf den Boden, so dass ihr Herr es sich mit Suse auf dem Sofa bequem machen konnte, doch als sich dieser gerade hinsetzen wollte, wandte sich seine Tante an ihn.
„Erwin? Würdest du kurz mit mir kommen? Ich habe noch ein paar Dinge mit dir zu besprechen“, sprach sie leise und sah ihn dabei mit ihren tannengrünen Augen fest an, zu Suse meinte sie, „Liebes, wärst du so freundlich dich um unsere Gäste zu kümmern?“
Mit diesen Worten drehte sich Luciana um und ging durch die Tür, Erwin folgte ihr, wenn auch etwas verwirrt. Sie führte ihn in die kleine Kammer, welche zu seiner Verwunderung abgesperrt war.
Als sich die Tür vor ihm öffnete, erstarrte der Prinz, was er da sah, kam ihm alles viel zu bekannt vor, als wäre er schon einmal dort gewesen. Der Raum war ebenfalls sehr schlicht eingerichtet, ein paar Decken und ein Sitzkissen aus Dodmaerin lagen am Boden, an den Wänden waren Regale angebracht, welche mit allen möglichen Dingen wie Wurzeln und getrockneten Pflanzen voll gestellt waren, doch was Erwins Aufmerksamkeit an sich zog, war ein riesiger Schrank, der nahe am Fenster stand und viel zu wertvoll für so eine Familie war. Er hatte gedacht, dass Luciana keinen Groschen an Geld mitgenommen hatte, wie hatte sie dann so ein teures Möbelstück erwerben können.
Direkt neben diesem Schrank stand ein Altar am Boden, zumindest glaubte Erwin, das es einer war. Der Anblick verwirrte ihn, war es nicht ein spontaner Aufbruch gewesen? War sie nicht einfach über Nacht verschwunden und hatte nichts bei sich gehabt? Doch am Altar lagen und standen viele Wertgegenstände seiner Familie – viele von den Gegenständen, die seine Mutter anscheinend verkauft hatte.
Verwirrt über diesen Zufall beobachtete er Luciana, wie sie zum Schrank ging. Langsam öffnete die Frau die robuste Holztür, den silbernen Schlüssel, welchen sie dazu benötigte, hatte sie an einer Kette um den Hals hängen. Sie holte eine kleine Holzschatulle hervor – Erwin war sich sicher, dass er eine ähnliche, wenn nicht sogar dieselbe schon einmal gesehen hatte – verschloss den Kasten wieder sorgfältig und kam zu ihrem Neffen.
Dieser war noch immer starr vor Schreck, was hatte ihm seine Mutter über ihre Tante erzählt, warum sollte er seine Nichte wirklich zum Schloss bringen? Er hatte keine Ahnung. Warum hatte er das Gefühl schon einmal in diesem Raum gewesen zu sein, wenn er das Haus heute das erste Mal in seinem Leben betreten hatte?
„Erwin, hör mir jetzt zu, was ich dir sage, ist streng geheim und ich weiß nicht, ob du schon so weit bist, es zu verstehen“, Luciana sprach sehr leise und setzte sich dabei auf den Boden.
Da er nicht wusste, was er tun sollte, nickte er nur verwirrt und lies sich neben ihr auf eine der Decken sinken.
„Ich bin davongelaufen, da ich dachte ich könnte meine Tochter und in gewissen Maße auch dich vor allem beschützen, doch ich hatte mich geirrt, egal wie weit ich laufe, ich kann euer Schicksal nicht ändern. Deine Mutter und ich wussten es schon vor langer Zeit, ich sollte es aufbewahren und wenn die Zeit gekommen ist, sollte ich es dir wieder geben.“
Mit diesen Worten schloss sie ihre langen dünnen Finger um die Schatulle, öffnete diese, holte ein schweres Amulett heraus, dieses legte sie in Erwins fahle Hände. Lange starrte dieser nur stumm auf das schwere Schmuckstück in seinen Händen. Das Amulett war aus Stein, doch er konnte nicht sagen, aus welchem. Die halbkreisförmige Form schmiegte sich eng an seine Hand, als würde sie mit seinem Körper verschwimmen wollen. Während die Rückseite glatt war, prangte auf der anderen Seite ein Relief im Stein. Es war ein altes, verschlungenes Muster, seltsam vertraut, doch zu verwirrend um es beschreiben zu können. So starrte der Prinz es nur fasziniert an.
Nach einer Weile erhoben sich die beiden wieder, Erwin nuschelte ein leises Danke und verließ den Raum, noch immer aus das Amulett starrend. Irgendwie kam es ihm tatsächlich bekannt vor. Wo hatte er dieses Muster schon einmal gesehen? Was hatten die Worte seiner Tante zu bedeuten? Wovor war sie davongerannt?
Die Fragen überschlugen sich in seinem Kopf, doch er fand keine Antwort darauf, also schob er das Amulett unter seinen Umhang, so dass es vor den Blicken der anderen sicher war. Er hatte aber beschlossen diese Nacht nicht bei Lucianda zu verbringen, der Raum dort oben war ihm zu unheimlich, so schickte er seine beiden Knechte und Will hinaus, als er den Wohnraum wieder betrat.
Erwins Blick fiel auf Suse, die ihn neugierig ansah. Sollte er sie nach der Dachkammer und dem Amulett fragen? Wusste sie vielleicht eine Antwort auf seine Fragen? Doch noch bevor er seinen Mund aufmachen konnte, kam Lucianda hinter ihm durch die Tür und meinte mit seltsam rauer Stimme.
„Es ist schon spät. Ihr solltet euch auf den Weg machen, wenn ihr heute noch durch den Wald wollt“, sie holte ein kleines Bündel hervor und reichte es Suse, welche sie an sich drückte. „Hier ist alles, was ich dir geben kann, ich werde dich vermissen.“, flüsterte sie leise.
Zum ersten Mal sah Erwin, dass Luciana Tränen in den Augen hatte, er konnte sich an sie als starke Frau erinnern, an der Geschichte musste wohl etwas Wahres dran sein. Ob sie das Gefühl hatte, versagt zu haben?
Leiser und an Erwin gewandt fuhr sie, sobald sie sich von ihrer Tochter getrennt hatte, fort: „Grüße deine Eltern von mir, ich habe sie schon zu lange nicht mehr gesehen...“, sie sprach nun schon so leise, dass nur Erwin sie noch verstehen konnte, „und erzähle Suse nichts von dem Amulett. Es gibt Bürden, die sind nur für gewisse Menschen geschaffen und die muss man alleine tragen, es wird die Zeit kommen, da wirst du alles verstehen und auch Suse wird verstehen, doch muss die Zeit dazu reif sein.“
Ihre tannengrünen Augen blickten ihn fest an, bis der junge Mann nickte, dann drückte sie auch ihn an sich. „Ich wünschte, ihr wäret nicht gekommen, mein Prinz.“
Verwirrt drückte Erwin seine Tante und wandte sich zum Gehen um, er wollte Suse mitnehmen, doch Lucianda hielt ihre Tochter noch zurück. „Sie kommt sofort“, meinte sie zu Erwin, also ging dieser schon einmal raus und setzte sich in seine Kutsche.
Tatsächlich, kaum zwei Minuten später lief Suse aus dem Haus und setzte sich zu ihm in die Kutsche, sie sah nun doch wieder etwas ängstlich aus und als sich das Gefährt langsam knarrend in Bewegung setzte, schaute sie mit Tränen in den Augen aus dem Fenster um ihrer Mutter zu winken. Erst als sie um eine Ecke bogen und das Haus langsam aus der Sicht verschwand, lehnte sich das Mädchen wieder zurück.
Eine Weile saßen die beiden schweigend nebeneinander, Suse sollte sich in Ruhe von ihrer Mutter verabschieden können, sie sah sie immerhin mindestens ein Jahr lang nicht mehr. Als die Sonne langsam den Horizont erreichte, hob das Mädchen ihren Kopf aber wieder und sah ihn neugierig an.
„Erzähl mir doch bitte alles über eure Burg!“
„Schloss, aber gut, was willst du wissen?“, fragte Erwin grinsend.
„Alles? Wie sieht sie aus, wie wurde sie gebaut, wann?“, Suse schien ihr Heimweh schon wieder überwunden zu haben, zu groß war die Ausregung über das bevorstehende Abenteuer. Sie würde tatsächlich in einem richtigen Schloss wohnen.
„Na dann...das Ausehen kann ich dir jetzt nicht wirklich beschreiben, ich wüsste nicht, ob du es dir vorstellen könntest, aber du wirst es ja bald sehen. Wie das Schloss gebaut wurde? Da gibt es eine Legende. Es heißt, das vor langer langer Zeit, zu der Zeit, als das Schloss gebaut wurde, die Kinder der damaligen Herrscherin zu streiten anfingen. Caryle, so hieß die Herrscherin, verbannte die vier Söhne und ihre Schwester daraufhin vom Bau und in ein kleines Dorf, welches dem Schloss am nächsten war. Doch sie beendeten ihren Streit nicht und eines Morgens wurden die Dorfbewohner tot aufgefunden und zwei der Brüder waren verschwunden. Man erzählt sich, dass Tosh – der schlimmste der Brüder – in der Nacht die Fassung verloren habe und mittels böser Magie einen geheimen Gang vom Dorf zum Schloss geschaffen hatte. Als seine Schwester dahinter kam, verzauberte sie das Schloss, doch er wollte sich nicht so einfach aufhalten lassen und hatte das Dorf ausgerottet. Was mit den Brüdern passiert ist, weiß man nicht, anscheinend hätte Ekwërin seinen Bruder aufhalten wollen und sie seien beide in den Zauber hineingezogen worden. Bis heute erzählt man sich, dass Saryls Erbin ihren Zauber einst auflösen wird und-“
„Erwin alles in Ordnung?“, Suse hatte ihm gespannt gelauscht, sie war beinahe an seine Lippen gehangen, dass er nun so einfach abbrach, verwirrte sie.
Dieser starrte aber nur weiter zu Eis erstarrt vor sich hin. Konnte das sein? War dies die Bürde? Konnte Suse tatsächlich...Waren seine Vermutungen war? Suse? Nein, das konnte einfach nicht stimmen, irgendwo musste er etwas übersehen haben.
Weiter kam er mit seinen Gedanken nicht, denn in diesem Moment schrie jemand auf. Das Geräusch kam von draußen, vor der Kutsche, im nächsten Moment hielt diese an und man hörte das unruhige Wiehern der Pferde.
Erwin sprang aus der Kutsche und hechtete nach vorne. Sein Leibwächter stand über einen kreidebleichen und komisch verkrampften Will, der kreidebleich am Boden lag. Er war plötzlich einfach so vom Pferd gestürzt, hatte sich verkrampft und war dann bewusstlos geworden, erzählte ihm der geschockte Kutscher.
Erwin nickte, hob den besinnungslosen Jungen hoch und brachte ihn in die Kutsche, selbst wenn es nur sein Stallbursche war, er musste ihm helfen. Zu Suse gewandt meinte er leise. „Ich hoffe, du kennst dich mit Krankheiten und Verletzungen aus, ich muss noch kurz was erledigen.“, mit diesen Worten ging er wieder hinaus und untersuchte mit den anderen das Pferd.
Suse nickte und schaute sich den Junge genau an, sie fühlte sich seltsam zu ihm hingezogen, verdrängte den Gedanken aber schnell wieder und holte ein altes in Leder eingebundes Buch aus ihrem Bündel.
Sie konnte zwar weder lesen noch schreiben, doch die Zeichen, welche in diesem Buch standen, verstanden nur wenige Menschen von Klodrain und sie gehörte zu ihnen – es war das erste, was ihr ihre Mutter beigebracht hatte.
Nur ein paar Sekunden benötigte sie um die richtige Seite zu finden, dann legte sie eine Hand auf Wills Stirn, murmelte in einer seltsam klingenden Sprache ein paar Worte und tastete dann nach einer Mixtour, die sich auch in ihrem Bündel befand. Mit einem verstohlenem Blick zur Kutschtür wickelte sie einen Teil dieser Mixtour in einen Stoffetzten und legte ihn auf Wills Stirn, etwas von der Kräutermischung verteilte sie auch auf seiner Wunde, die sich über die Schläfe des Jungen zog.
So wartete sie, bis Erwin ein paar Minuten später wieder in die Kutsche stieg und ihr erzählte, was geschehen war, er sah auf den besinnungslosen Jungen und verzog traurig das Gesicht, ihm lag sehr viel an diesem Jungen, außerdem hatte er das Gefühl, als würden sich Will und Suse im Stillen ins Herz geschlossen haben.
Den Rest des Abends verbrachten die beiden schweigend, Suse erzählte ihm nichts von ihrem Buch, nur die Mixtour bekam ihr Cousin zu sehen. Den Rest hatte das Mädchen in ihrem Bündel versteckt.
Es war bereits ziemlich dunkel, als sie ihr Lager am Waldrand aufschlugen und ein kleines Feuer machten. Erwin und Suse würden bei Will in der Kutsche schlafen, während der Kutscher und der Wächter abwechselnd die Umgebung im Auge behalten würden.
Bevor Suse die Augen schloss, sah sie noch einmal zu Erwin und Will – sie hatte das ungute Gefühl, dass die drei noch einiges gemeinsam erleben würden.