Platon Der Staat Buch VI Kurzfassung der von Sokrates mit seinen jungen Freunden gemeinsam entdeckten Voraussetzungen für die Gründung und das Bestehen eines idealen Staates Text: Sybil Schuler Bilder: Markus Schuler Fortsetzungen folgen...
SECHSTES BUCH
Es genügt Sokrates nicht, dass geklärt worden ist, wer Weisheit liebt und wer nicht; auch der Unterschied zwischen dem Lebenswandel des Gerechten und des Ungerechten muss überprüft werden. Wer für Recht und Gesetz eines Staates verantwortlich ist, muss in sich ein Urbild von Recht und Gesetz tragen und sich durch reiche Erfahrung und Tüchtigkeit und durch totale Wahrheitsliebe auszeichnen.
Lüge und Betrug muss ihm verhasst sein. Nichts passt besser zur Weisheit als die Wahrheit.
Auch das anerkennt Glaukon.
Sinnlicher Genuss sowie Geldbesitz sei für die Weisheitsliebenden nicht attraktiv, ebenso widerspricht alles Kleinliche deren grosszügigem Geist, der im Übrigen auch den Tod nicht zu fürchten braucht.
Der wahre Philosoph sei auch nicht angeberisch, kein Feigling, sondern gerecht
und auch umgänglich, was sich bei ihm von Jugend an bemerkbar machen sollte.
Und selbstverständlich muss er auch ein guter Lerner mit gutem Gedächtnis sein, musisch gebildet und wohlgestaltet, ein Freund von Wahrheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit. Ihm könnte man gewiss den Staat anvertrauen.
Glaukon meint, ein so Gearteter könnte auch vom Tadel in Person nicht kritisiert werden!
Da aber greift Adeimantos ein: Das Frage- und Antwortgespräch des Sokrates sei einem Brettspiel vergleichbar, bei dem der Schüler immer mehr in die Enge getrieben werde. Anstatt mit Spielsteinen werde einfach verbal gekämpft.
Es gebe da eine ganze Reihe von Philosophen, die mit der Zeit recht seltsam und für den Staat völlig unbrauchbar geworden seien.Â
Da gibt ihm Sokrates sofort Recht und will die Situation durch ein Bild zu klären versuchen.
Er möge sich einen Schiffeigentümer mit einem oder auch mit mehreren Schiffen vorstellen, einen, der zwar grösser und stärker als die andern ist, die sich auf dem Schiff befinden; aber auch schwerhörig und kurzsichtig sei er, und von Schifffahrt verstehe er entsprechend wenig. Seine Matrosen aber verstehen gar nichts vom Bedienen des Steuerruders; aber immer wieder möchte es jeder einmal probieren, sei es nach Ermordung des Eigentümers sei es nach Verabreichung einschläfender Mittel. Zwar haben sie keine Ahnung von Zeiten und Sternen und Winden, aber sie lassen sich feiern und loben, von denen, die hoffen, auch einmal ans Ruder zu kommen, was sie für weit wichtiger als die Steuermannsfertigkeiten einschätzen. Den
wirklichen Steuermann betrachten sie als Sterngucker und nutzlosen Schwätzer.
Analog dazu verhalten sich die Staaten dem wahren Philosophen gegenüber. Das einzig Richtige wäre, dass die Schiffsleute den Steuermann bitten, die Verantworung zu übernehmen. Die gängige Redewendung “die Weisen müssen an die Türen der Reichen gehen” passt da nicht. Ist einer krank, ob arm oder reich, muss natürlich er an die Tür des Arztes gehen!
Wenn Philosophen in der Politik chancenlos sind, trägt jedenfalls nicht die Philosophie die Schuld, was von Adeimantos bestätigt wird.
Sokrates erinnert wieder an die Wahrheitsliebe,
die Besonnenheit, die Tapferkeit, an Edelmut, Belehrbarkeit und an das gute Gedächtnis der wahren Philosophen, deren Anzahl gering bleibt. Zudem kann leider jede einzelne dieser positiven Eigenschaften eine Seele der Philosophie entfremden! Das Gleiche gilt auch für Schönheit, Reichtum, Kraft oder vielleicht eine einflussreiche Verwandtschaft.
Auch im Pflanzen- und Tierreich ist es so, dass bei hoch entwickelten Arten anders als bei den Anspruchslosen das ganze System zusammenbricht, wenn die Wachstumsbedingungen nicht mehr genügen. Und es sind nicht Einzelne, wie etwa Sophisten, die eine edle Natur verderben können, sondern es besteht erst echte Gefahr für potenzielle Philosophen, wenn sie mit vielen Leuten zusammen in Volksversammlungen, in Gerichtsverhandlungen, im Theater sitzen, oder aber wenn sie im Militärdienst sind. Da wird unter Lärm gelobt und getadelt, in die Hände geklatscht, dass es von den Felsen rings widerhallt, sodass unter dem Getöse die
ganze Erziehung gleichsam weggeschwemmt wird vom lärmigen Lob oder Tadel der Menge.
Sogar Nötigung kommt noch dazu, wenn einer sich abweichend verhält. Er kann geächtet, verbannt, oder gleich hingerichtet werden. Nur noch durch eines Gottes Hilfe könnte der Philosoph in so einer Situation gerettet werden.
Da kommen dann schlechte Erzieher von hochbgabten jungen Menschen zum Zuge: alle, die gegen Geld unterrichten, sogenannte Sophisten, bei denen man nichts lernt als auf die Launen und Wünsche der Mehrheit des Volkes einzugehen und dann diesen Pöbel zu manipulieren, indem man das, was dieses riesige Tier, der Pöbel, mag, als gut bezeichnet, was ihn ärgert als schlecht.
Kann denn ein Sophist ein Erzieher sein? Er hat keinen Begriff davon, was für ein Unterschied besteht zwischen einem Sachzwang und dem, was das Gute an sich wäre! Auch was Malerei, Musik, Politik betrifft, passen die Sophisten sich ganz der Menge des Volkes an ohne sich jemals Gedanken gemacht zu haben, was in Wahrheit gut und schön wäre! Das, was sie dazu äussern, ist lächerlich. Wie auch Adeimantos weiss, gibt es keine Chance, von den Sophisten einmal etwas Ernstzunehmendes darüber zu hören.
 Nun gäbe es ja hochbegabte junge Menschen, die sich für die Philosophie eignen würden, wären da nicht Angehörige und Bekannte, die diese für sich einzuspannen versuchen und ihnen auch schmeicheln, so dass sie eitel, stolz und unvernünftig werden und sich als Politiker zu überschätzen beginnen. Hat aber einer einen ernsten Mahner, auf den er hört, einen Befürworter der Philosophie, dann kann es geschehen, dass er von seinen enttäuschten Profiteuren vor
Gericht gezogen wird. Daher gibt es leider nur ganz selten echte Wohltäter des Staates, dafür aber versuchen dann gelernte Handwerker, kleinkarierte Menschen, den Staat zu lenken.
Mit der Philosophie aber beschäftigen sich letztendlich nur ganz Wenige, etwa in der Verbannung Vereinsamte oder Bewohner eines Zwergstaates, der eigentlich keine Regierung braucht, oder auch Menschen, die in ihrem gelernten Beruf unterfordert sind. Dann gibt es noch die kränklichen Freunde der Philosophie wie der Sokratesschüler Theages und noch Sokrates selbst, der vielleicht als Einziger auf ein göttliches Zeichen zu achten hat.
Diese Wenigen werden keine Verbündete finden zur Durchsetzung der gerechten Sache. Sie müssen sich alle wie vor wilden Tieren verstecken und schliesslich froh sein, wenn sie in ihrem Leben nichts Unrechtes getan haben. Nur haben sie leider weder für sich noch für den Staat etwas erreichen können. Es gibt
keine einzige Verfassung, die dem Naturell des Philosophen entspräche. Darum werden die Verfassungen auch immer wieder geändert.
Würde aber doch einmal der bestmögliche Staat gefunden, so müsste er sich als wahrhaft göttlich erweisen, während vorher bezüglich der Natur der Bürger und ihres Verhaltens alles nur menschlich gewesen war.
Es ist aber gewiss falsch, wenn sich meist junge Männer nebenamtlich mit dem Lenken des Staates befassen. Besonders das öffentliche Reden ist für sie noch viel zu schwierig, und wenn sie dann alt genug wären, haben sie sich schon zu viel verausgabt.
Doch es könnte wohl einmal geschehen, dass für die wenigen Philosophen
eine vom Schicksal bewirkte Notwendigkeit sich ergäbe, sich jetzt des Staates anzunehmen. Die Bürger könnten plötzlich genötigt sein, diesen zu gehorchen. Auch könnte den Herrschenden oder dann ihren
Söhnen durch göttlichen Atem wahre Liebe zur wahren Philosophie zugeweht werden. Dass das nicht unmöglich sei, dazu muss man jetzt nach all den Erörterungen über den Saat stehen, wenn man nicht ausgelacht werden will. Weitab in der Vergangenheit oder auch jetzt in einem fernen Land oder dann viel später kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Muse der Philosophie einen Staat regiert entsprechend dem von Sokrates mit seinen Schülern erarbeiteten Verfassungsmodell! Das werden die Leute anerkennen, wenn man nicht rechthaberisch, sondern freundlich, sanftmütig und neidlos mit ihnen darüber redet. Wenn man ganz behutsam mit den Menschen spricht, werden viele sich besänftigen und von der echten Philosophie des optimal regierten Staates überzeugen lassen. Zwar wäre das nicht einfach, doch machbar, wenn auch möglicherweise nur ein einziges Mal. Denkbar wäre, dass einigen Herrschern Söhne geboren würden, die philosophisch veranlagt wären und sich nicht alle verderben liessen und dass
zumindest einer von ihnen einen Staat vorfinden könnte, dessen Bürger sich gehorsam von dem Modell des Sokrates und seiner Schüler überzeugen liessen und Gefallen daran fänden. Was aber die künftigen Regenten betrifft, müsste darauf geachtet werden, dass sie nicht nur geistesgegenwärtig und scharfsinnig zu sein haben und über ein gutes Gedächtnis verfügen sollen, sondern dass sie sich auch als beharrlich und zuverlässig erweisen müssen. Das alles muss durch Prüfungen bewiesen werden können.
Dabei geht es einmal mehr um die Tugenden der Besonnenheit, der Tapferkeit und der Weisheit sowie der Gerechtigkeit. Aber es gibt noch etwas, das grösser als diese Tugenden ist: das Urbild oder die Idee des Guten, das heisst dessen, was von jeder Seele angestrebt aber auch immer wieder verfehlt wird.
Ein Wächter des Staates und der Verfassung aber sollte Bescheid wissen, wieso das Gerechte und Schöne gut ist.
Jetzt wird Sokrates gefragt, was er denn für das Gute ansehe, Erkenntnis oder Lust oder doch etwas anderes? Sokrates gesteht sein gegenwärtiges Unvermögen ein, dass er dazu nichts sagen kann. Doch ist er bereit, über einen “Sprössling des Guten” zu diskutieren: Ohne das Licht das Helios, des Sonnengottes, des Sprosses des Guten, kann das Auge, im Gegensatz zum Ohr, nichts erkennen. Ja, das Auge gleicht sogar der Sonne in gewisser Hinsicht.
Doch ist es die menschliche Seele, die die Fähigkeit hat, sich auf Wahres und Seiendes zu konzentrieren und so Denkkraft zu zeigen. Das also sei die Idee oder das Urbild des Guten: das, was dem Erkennbaren Wahrheit und dem Erkennenden das Vermögen zur Erkenntnis gibt. Höher als Erkenntnis und Wahrheit ist aber DAS GUTE SELBER, DAS GUTE AN SICH.
Doch zurück zur Sonne: Sie gibt dem, was dank ihr sichtbar ward, auch die Fähigkeit, zu
werden, sowie auch Nahrung und Gedeihen. Was aber mit Hilfe des GUTEN von der menschlichen Seele erkannt wird, hat vom GUTEN auch das Sein - seine Existenz- und sein Wesen erhalten.
Das GUTE SELBST aber sei nicht identisch mit dem Sein; denn es sei älter als alles und stärker als alles andere.
Glaukon zeigt sich sehr interessiert an dieser Thematik.
Sokrates will sich nun kurz fassen und nennt nun zwei herrschende Prinzipien, deren erstes für alles Denkbare zuständig ist, das andere aber für alles Sichtbare. Beim Sichtbaren erweist es sich, dass etwas deutlich oder unscharf zu sehen ist, wie Schatten oder Spiegelbilder im Wasser oder auch über glatten Oberflächen. Was undeutlich gesehen wird, kann entdeckt und auch gesucht werden. Wesen oder gegenständliche Dinge sind immer deutlich sichtbar.
Geht es nun aber um Arithmetik und um Geometrie, brauchen die Mathematiker keine Zeichnung, das Gedachte darzustellen. Es ist evident, sie können es sich im Kopf vorstellen und sich darüber Gedanken machen. Wenn sie aber etwas zeichnen, sprechen sie nicht über das Gezeichnete, sondern das Gedachte und nachher Verstandene.
Â
Â
Glaukon hat die Darlegung über Mathematik verstehen können, und so spricht Sokrates weiter über Dialektik, die wie die Mathematik allein mit der Denkkraft und mit Hypothesen arbeitet, dank denen man stufenweise bis zum Ursprung des Denkbaren das heisst zu den “Ideen”, den Urbildern, gelangen kann.
Glaukon erkennt darin den Unterschied zwischen Mathematik und Dialektik einerseits und aller anderen Wissenschaften andrerseits, dass letztere sich nicht mit den Uranfängen von allem, was sie erforschen, befassen. Sie arbeiten mit Vermutungen, Hypothesen. Jetzt überlegt Glaukon auch, dass es sich bei den Geometrikern um Fachleute handeln könnte, die sich geistig zwischen den blossen Annahmen und der Denkkraft bewegen.
Jetzt ordnet Sokrates vier verschiedene Reaktionen der menschlichen Seele nach ihrerm Wert ein: Am höchsten steht die Erkenntnis, dann folgt das Nachdenken, das Meinen und das Mutmassen. Je grösser die
Gewissheit, desto grösser wird der Anteil an der Wahrheit.
Glaukon hat das begriffen und will alles demgemäss einordnen.