Mit einem Ruck riss ich das Lenkrad herum, die Reifen quietschten, die Bremsen rauchten. Ich verlor die Kontrolle, ein Krachen, ein Aufschrei. Stille. Totenstille. Alles schwarz. Schwarz wie die Nacht, mein Kopf, leer.
Ich spürte, wie Schweißperlen langsam meinen Arm entlang kletterten, die unerträgliche Hitze stieg in meinen Kopf und verbrannte jegliche Gedanken. Meinen Mund – staubtrocken – konnte ich kaum bewegen, ich versuchte etwas Spucke zu verteilen, um wieder normal atmen zu können. Ich schlug die Augen auf, doch im ersten Moment sah ich nichts. Was heißt nichts? Es war eben stockdunkel, doch nach einigen Malen blinzeln, stach das grelle Sonnenlicht in meine Pupillen, und ich wandte meinen pochenden Kopf ruckartig zur Seite.
Vorsichtig tastete ich mit meinen Fingern den Untergrund ab, es fühlte sich an wie ein Stein. Ein sehr staubiger und trockener Stein. Ein Kiesel stach in meinen Rücken, und ich spürte ein Kribbeln in meinem Nacken, und schlug sofort mit der Hand danach. Mein gesamter Körper kribbelte, und ich sprang auf, oder ich versuchte es zumindest, doch dazu war ich nicht in der Lage. Alles kribbelte, und als ich auf meine Füße schaute, sah ich wie ein Haufen schwarzer Ameisen über meinen ganzen Körper krabbelte. Ich schüttelte mich, doch sie blieben hartnäckig hängen. Mit Schwung versuchte ich mich auf alle Viere zu werfen. Langsam tastete ich mich nach vorne, sehen konnte ich nicht viel, doch am Horizont schien etwas blau zu schimmern.
Nach einigen Minuten, die ich mit wirrem Herumkriechen verbracht hatte, wurde meine Sicht besser und ich sah mich um. Die Ameisen waren immer noch auf mir, es gelang mir einfach nicht sie los zu werden.
Brrr. Das Kribbeln ließ mich erschaudern. Vor mir lag brauner Fels. Neben mir brauner Fels. Doch auf der einen Seite war ein See, eine Oase, ein Meer...jedenfalls Wasser und ich wusste, ich musste...brrr...zum Wasser. Egal wie, es gab nur ein Ziel. Mein Versuch, aufzustehen, warf mich wieder um. Verdammt! Wären wenigstens diese doofen Ameisen nicht auf mir. Langsam kroch ich vorwärts, und jeder Meter war eine unglaubliche Qual. Ich wusste nicht wie ich hierher gelangt ware, echt nicht. Ich wusste gar nichts mehr, wer war ich denn überhaupt?! Scheiß drauf! Ich musste zu dem Wasser, wenn ich überleben wollte. Ich kroch langsam dem Wasser entgegen, doch es schien sich immer weiter von mir zu entfernen, nach gefühlten Stunden spürte ich, wie alles begann sich zu drehen. Mir wurde schwindelig, mein Arm knickte ein und mein Kopf krachte auf den Felsen...
„Was willst du überhaupt noch hier?“ rief ein Mann, der genauso aussah wie ich.
„Ich wohne bei dir, mein Junge!“
„Was mein Junge, ALTER, verpiss dich, aus meinem Haus, aus meinem Leben!“
„Du willst deinen eigenen Vater aus dem Haus rausschmeißen?“
„Ich hab keinen Bock mehr auf deine ständigen Hasspredigen gegen Melli!“
„Wach doch endlich auf! Die verarscht dich von vorne bis hinten. Ist doch nur an deinem Geld interessiert.“
„Du hast doch keine Ahnung! Nur weil sie keine Deutsche ist oder? Ist das der Grund?“
„Ich bin doch dein Vater. Du kannst mich doch nicht rauswerfen!“
„Vater nennst du dich? Du verdammter, Drecksack, raus aus meinem Haus!“
„Was hab ich dir getan?“ Tränen rollten über sein, mit Falten überzogenes, Gesicht.
„Verpiss dich einfach, bevor ich mich vergesse!“
Er wand sich um, und ging aus der Tür, mit seiner Tasche in der linken Hand.
„Was habe ich nur falsch gemacht mit dir? Was ich hab ich dir, in deiner JUGEND nicht gegeben?“ fragte er mich noch, und zog ohne auf die Antwort zu warten, die Tür hinter sich zu. Diese ERFAHRUNGEN hätte ich nie machen sollen, die Erfahrung wie es ist ohne einen Menschen zu leben, der einen familiären Bezug zu dir hat.
Ich schlug die Augen auf. Ich fühlte mich gut. Alles war plötzlich perfekt. Keine Schmerzen, keine Probleme, keine Sorgen, ich war glücklich. Glücklich wie niemals zuvor.
„Er ist wach!“ rief eine Stimme. Eine junge Frau, in weißem Kittel, stand über mich gebeugt. Anhand des Kittels vermutete ich sie als Arztgehilfin, und als dann ein Mann hinein kam – in Weiß – bestätigte dies meinen Verdacht. „Hören sie uns? Herr Meyer?“ Meyer?! Was für ein langweiliger Name! Ich versuchte zu antworten, doch ich bekam keinen Ton heraus, und auch mein Mund bewegte sich nicht. Ich testete meinen Kopf, langsam drehte ich ihn, er knackte kurz, dann nickte ich vorsichtig. „Können sie nicht reden?“ Langsam bewegte ich meinen Kopf hin und wieder zurück. „Vermutlich ist er noch geschädigt, er wird noch Ruhe benötigen.“ sagte der Arzt und ging, im Gehen flüsterte er ihr zu: „Wenn etwas sein sollte, rufen sie mich. Der Herr braucht Ruhe, um wieder Kraft zu haben, nach dem schweren Autounfall.“ Autounfall?! Was denn für ein Autounfall? Ich wusste nicht wovon der Arzt sprach, ich hatte keinen Autounfall! Ich hatte ja nicht mal einen Führerschein.
„Die Polizei hat inzwischen bestätigt, dass er ohne Führerschein gefahren war. Sein Ziel war offensichtlich Erfurt. Eine Freundin von ihm soll dort leben.“
Ich dachte nach, welche Freundin? Melli! Natürlich! Melli lebte in Erfurt, und ich wollte ihr etwas erzählen, etwas war Geschehen. Meine Familie, etwas war mit meiner Familie und Melli war Schuld an allem! Genau! Der Streit von den zwei Männern kam mir in den Sinn, und mir fiel es wie Schuppen von den Augen, der Mann war ich. Und der andere, der andere war mein Vater!
Ich saß am Küchentisch. Mein Hände stützten meinen Kopf, der so voll war mit Gedanken, dass es mir schwer viel alles zu ordnen. Ich hatte Scheiße gebaut, ich wusste es. Ich konnte mich nicht an viel von ihm erinnern, ich war nur immer unglaublich stolz gewesen, nicht nur weil er ein OFFIZIERSPATENT hatte und PHILOSOPHIE studiert hatte, eher weil er der beste Vater dieser Welt war.
Ich hasste mich für das was ich getan habe, für alles was ich getan habe, was ich ihm angetan habe. Er war immer für mich da, hat mich immer unterstützt. Immer. Immer. Immer. Und ich warf ihn raus, weil er sich Sorgen um mich machte. Das Schlimmste an allem…er hatte Recht, mit Melli, sie hat mich nur verarscht. Von Anfang an. Und ich Vollidiot? Ich hielt meinen Vater für einen Rassisten, für einen Mann der eine deutsche Schwiegertochter wollte. Er hatte Recht, und ich war so doof. Hab ihn gehen lassen, den Kontakt abgebrochen. Ich war der Meinung, das wäre das Beste, dabei war es das Dümmste was ich tun konnte, er war alles für mich! Der einzige in der Familie, der mir geblieben war, der einzige der es wert war für ihn zu kämpfen und ich warf ihn weg wie Müll. Ohne ihn...eine so große VERÄNDERUNG, ich hätte nie gedacht, dass er mir so fehlen würde. Die Tränen kullerten über mein Gesicht, tropften auf den Tisch. Das Bild verschwamm, eine einzige große Träne floss vor meinen Augen.
Ich röchelte nach Atem. Das Kribbeln ließ nach. Die Hitze wurde jedoch von Minute zu Minute unerträglicher. Schweißgebadet kroch ich auf dem felsigen Boden, das Wasser fest in meinem Blick. Es strengte an die Augen offen zu halten. Es strengte an, nicht umzufallen wie ein Sack Kartoffeln. Meine Hände zitterten. Ich blinzelte, die Augen brannten wie Feuer. Ich sah ein Licht, ein helles Licht. Nicht am Himmel. Nein! In einer Felsöffnung, grelles Licht, was mich anzog, was so wohlig war, es hatte eine Wirkung auf mich, wie die EROTIK der schönsten Frau der Welt, es zog mich einfach an. Eine Uhr schoss an mir vorbei, ich schüttelte meine Kopf. Noch eine Uhr, und noch eine Uhr. Eine ganze Herde Uhren schoss auf mich zu. Die Ziffernblättern alt und verstaubt, die Zeiger drehten sich rückwärts, mal schnell, mal langsam. Die Uhren begannen zu ticken und zu tanzen, vor meinen Augen, ich versuchte mich zu winden, raus aus diesem Irrenhaus, doch es wurde immer schlimmer. Alle möglichen Arten und Formen von Uhren tanzten vor meinen Augen zu dem Takt ihres Tickens. Sie lachten über mich, SCHONUNGSLOS über mein Schicksal. Ich nahm all meine Kraft zusammen und schlug mit meinem Arm nach ihnen. Die Uhr, die ich zerschlug, verschwamm und verfloss in sich, und verschwand.
Ich hatte keine Kraft mehr, ich war ausgelaugt. Leer gesaugt. Es war hoffnungslos. Ich schloss meine Augen.
Ich sah mich selbst. sitzend auf dem Bett, in dem mein Vater lag, mit geschlossenen Augen. Seine kalte, tote Hand lag in meiner. Ich weinte, wimmerte und schluchzte. Mein Vater war also gestorben, deswegen wollte ich zu Melli. Ich habe meine Chance vertan, hab ihn alleine sterben lassen, ich war nicht bei ihm, als er mich gebraucht hatte. Ich bin ein verdammter Drecksack. Immer mehr Tränen kullerten übers Gesicht aus den rot gebrannten Augen, tropfte von der Wange auf den Arm meines Vaters. Seine Uhr war abgelaufen, und ich war nicht bei ihm gewesen. Ich hasste mich. Ich hasste mich, wie nie zuvor. Ich hatte nie den MUT dazu, mich zu entschuldigen. Mich zu entschuldigen, für das was ich ihm angetan habe. Mein ganzes Leben war UMSONST.
Er hatte seine Augen geschlossen, für immer, dann wurde mir klar, dass auch meine Zeit gekommen war. Es ist das Ende.
Ich wachte auf. Ich spürte wie eine Träne über mein Gesicht rollte. Es war an der Zeit meinen Vater zu suchen, die Ziffern der Uhren meines LEBENs sind alt und verstaubt, und beginnen rückwärts zu laufen. Mir selbst verzeihen würde ich nie können, Zeit ist vergänglich, doch etwas bleibt für immer in dir. Ich habe meine Gelegenheit alles wieder zu richten verpasst, und nun hoffte ich eine zweite Chance zu bekommen, dort wo ich bald sein werde. „Ich liebe dich...“ schluchzte ich so laut ich konnte, folgte meinem Willen zu dem hellen Licht. Ich wand mich ein letztes Mal, dann schloss ich meine Augen. Für immer.