Sie wollte unbedingt die Favelas sehen, das Armutsviertel von Janeiro. Vergebens wies ich darauf hin, dass sich selbst die Polizei nicht in diese Gefilde wagte.
„Aber wir haben nichts Wertvolles dabei. Den Schmuck haben wir sowieso zu Hause gelassen“
Damit war ich überstimmt und es wäre auch völlig umsonst gewesen sie darauf hinzuweisen, dass wir zwei ein prächtiges Pärchen für eine Entführung abgeben würden. Irgendein Lösegeld würden die Herrschaften bestimmt herausschlagen können. Wir ließen uns in die Vororte fahren, obwohl der Taxifahrer vehement darauf hinwies, dass er dort nicht eine Minute auf
uns warten könne, sondern sofort zurückfahren müsse. Schon um seine Karre zu retten.
Was hatte ich versucht sie von diesem Blödsinn abzubringen. Eine unglaublich moderne Großstadt, herrliche Einkaufsstraßen, faszinierende Architektur! Und vor allem überall Klimaanlagen!
Keine Chance!
Nun gut. Wir waren angekommen und ich erspare mir hier den eigenartigen Flair, der mir schlichtweg reine Angst einjagte. Ich schwitzte also noch mehr, obwohl ich das nicht für möglich gehalten hätte. Frauen sind da anscheinend robuster. Sie schritt voran, wie ein Napoleon vor seinem Heer, nur dass ihm diesmal nur ein einzelner vollgesogener
Schwamm hinterher stolperte. Sie begann eine sehr steile Anhöhe zu erklimmen, in der Meinung: je mehr Abseits, desto ursprünglicher Land und Leute.
Es war Spätnachmittag. Die Hitze wurde nun etwas erträglicher. Inzwischen waren wir auch am Randbezirk der Favelas angekommen. Ärmlicher ging es wirklich nicht mehr!
Wir, das waren Pauli und der völlig erledigte, verängstigte Wicht, nämlich ich selbst. Eigentlich hieß sie mit richtigem Namen Sabine, aber von irgendwoher hatte sich der Spitzname Pauli etabliert. Sie stoppte nun glücklicher Weise ihren Eroberungszug.
Ich sah mich um. Wir waren auf einer Art
Schrottplatz gelandet und obwohl es nicht mehr so heiß war, brannten mir immer noch meine Fußsohlen durch die dünnen Sandalen. Es war staubig, schmutzig.
Wir kamen an den Häusern vorbei, die rechts und links den Staubweg säumten. Häuser ist natürlich zuviel gesagt. Blechbaracken waren es, aus Bretterverschlägen und Tüchern, Rohren und allem möglichem anderen Gelumpe zusammen gezimmert. Aber jede dieser Müllbehausungen hatte Strom. Also auch Kühlschrank und nicht zu vergessen den unentbehrlichen Fernseher, der aus allen Ritzen plärrte. Der Strom wurde von dem Stromnetz einfach illegal angezapft. Es störte offensichtlich niemanden. Vor allem ließ sich keine einzige Menschenseele
blicken. Ich hatte nur irgendwie das Gefühl, als ob aus diversen Ritzen uns perlmuttweiße Augenpaare genau beobachteten.
Während ich noch nach mörderischen Banden Ausschau hielt, schüttelte Pauli entschieden ihr braunes Haar aus dem Gesicht und gab ihre neuesten Visionen von sich:
„Weißt du, was diese armen Menschen hier brauchen? Was dieser Stadt fehlt und vor allem hier?“, fragte sie und beantwortete dies gleich selbst:
„Ein richtiges Verkehrsmittel! Eines, das wenig Energie verbraucht, nicht viel Platz wegnimmt und in diesem Chaos vernünftig funktioniert.“
Ich schmiss meine Furcht über Bord. Wenn, dann war eh nichts mehr zu ändern und ich übertünchte dies mit Bissigkeit.
„Ein Lastwagen? Ein Bus vielleicht“ versuchte ich zynisch zu raten, wobei ich genau wusste, dass es bei diesem Hanggefälle für praktisch jeden Wagen unmöglich war den Berg bis hierher zu erklimmen. Selbst das robusteste militärische Hightech Fahrzeug hätte bestimmt seine Schwierigkeiten gehabt
„Nein, Blödmann! Fahrräder!“ entwickelte sie ihre Idee weiter.
„Aha!“
Es erschien mir äußerst fraglich, ob selbst ein Eddie Merx diese Steigung bei dieser Hitze bewältigen könnte.
Sie tänzelte nun auf einer freien Stelle des Schrottplatzes, breitete die Arme waagrecht zur Seite aus und drehte sich im Kreise.
Oh, Gott, dachte ich. Jetzt kommt der Bodenkontakt abhanden. Jetzt kommen die geistigen Ergüsse der Hippie – Ära. Sie flippt wieder einmal aus. Tatsächlich fing sie an zu singen und zu trällern, während sie immer noch um ihre Achse wirbelte.
„Ich werde jedem ein Fahrrad schenken! Jeder soll eines bekommen! Dann sind die Probleme beseitigt und alle, alle werden glücklich sein!“
Ich nestelte inzwischen abseits in ein paar Abfällen herum und fand überraschend eine verrostete Felge.
„Hier haben wir auch schon einen Anfang!“ triumphierte ich höhnisch, wobei ich mit der verbogenen, rostigen Felge wedelte.
„Aber das ist noch nicht alles! Wir basteln uns einen Generator und produzieren damit Unmengen von Strom. Es ist alles da! Kein Problem!“ rief ich und wies mit der Hand auf die Schrottberge. Auch zeigte ich mit der anderen ein kleines Zahnrad, so dass es Pauli sehen konnte. Ein Zacken war heraus gebrochen und ich hatte es eben aus allerlei Unrat heraus gefischt.
Nun war ich in meinem Zynismus nicht mehr zu bremsen. Ich trommelte auf ein verbogenes Blech und hatte dann dieses wertvolle Atomreaktorteil wieder achtlos weggeworfen.
„Und hier! Sieh doch!“ gluckste ich vor Schadenfreude, als ich einen verbogenen Eisenwinkel entdeckt hatte.
„Der Grundstock eines Baukrans! Damit werden wir Staudämme bauen, Wellnesstempel. Natürlich riesengroße!“
Ich kicherte und lachte aus vollem Hals, eilte dann weiter. Ich konnte mich gar nicht mehr beruhigen. Ich hielt mir den Bauch vor Lachen, als ich ein verbogenes Drahtstück um seine Achse drehte.
„Hier haben wir sogar den Anfang einer neuen Fluglinie! Mit einem Propeller fängt alles an!“ japste ich vor Vergnügen.
Aus dem Nichts war plötzlich ein kleiner Junge aufgetaucht. Nicht älter, als sechs
Jahre. Er hatte nur eine Bermuda - Short und ein bekleckertes T-Shirt an, dessen Farbmuster schon ausgewaschen war. Der braungebrannte Knirps wirkte schmutzig, verdreckt. Er kam zielstrebig auf mich zu.
Eine helle Handfläche mit schwarz geränderten Fingernägeln erschien vor meinem Gesicht, während er mit der anderen den Rotz von der Nase strich.
Na ja, das Übliche. Betteln! Generös spendierte ich ein paar Pesos. Es wurde zugeschnappt. Die Pesos waren verschwunden und der Junge rannte augenblicklich mit seiner ergatterten Beute davon. Er hastete zu einer Wellblechbaracke am Rande des Platzes, vor dem einige
T-Shirts zum Trocknen müde im Wind baumelten. Ob sie sich vor oder nach einer Wäsche befanden, konnte man nicht beurteilen.
Der Kleine verschwand in der Bruchbude, um nach wenigen Minuten wieder zu erscheinen. Er hatte einige Kleinteile in den Händen.
Pauli war neben mich getreten und wir schauten dem Bengel gebannt zu.
Er zerrte eine viereckige, kleine, gelbe Plastikwanne hinter sich her. Er wirkte sehr konzentriert, sehr geschäftig. Dann schnappte er sich die im Stich gelassene Felge, den Draht und das Blech. Nun wurde mit Hilfe eines Holzstücks gehämmert, gebogen, verdrahtet und angepasst. Noch
einige Kleinteile aus dem Berg von Schutt wurden benötigt. Er wusste anscheinend genau, was er brauchte. Endlich war er offensichtlich fertig.
Der Bursche schritt selbstbewusst und stolz wie ein König mit seinem neuen Schubkarren davon.
Pauli hatte den Kopf an meine Schulter gelehnt.
„Siehst du, was ich meine?“ Sinnierte sie. „Diese Kleinen werden es einmal schaffen, da bin ich mir völlig sicher!“