Das Blatt
Ich sitze auf einer Parkbank, die von glasigen Tropfen überzogen ist und wie von der Beulenpest geplagt aussieht.
Der Dunst steigt aus dem Morgennebel. Es ist trist, grau, fast unheimlich.
Ich schaue mich um und entdecke, dass alles, was ich in meiner Umgebung sehe, triste Feuchte ausstrahlt. Wenn ich könnte, dann würde ich frösteln.
Der Park und auch der saftig grüne Rasen sind nun in nebelige Watte getaucht. Das ist mir nichts Neues. Mindestens ein Jahr lang habe ich den Rasen beobachtet und ich kann mir nicht helfen, ich habe den Eindruck, er bleibt trotz allem ziemlich gleich.
Eintöniges Grün, was sonst?
Ich gebe zu, dass ich mich in einem Zustand befinde, der nicht so toll herüber kommen kann. Ich bin verfärbt, teilweise vom rotbraun bis zu einer Farbschattierung, die man allgemein nur als Scheiße bezeichnen kann. Aber das macht mir nichts aus. Ich habe noch Glück gehabt, dass ich auf dieser hölzernen, schmierigen Parkbank, an welcher der grünlicher Lack abspringt, gelandet bin. Es hätte weitaus grauenhafter kommen können. Zum Beispiel an der vorderen Baumwurzel meines bisherigen Zuhauses. Dort sabbert nämlich eine Pfütze vor sich hin. Richtig schlammig. Sie können es sich vorstellen: Da hätte ich erst richtig die Arschkarte gezogen.
Die Kollegen dort wurden nicht nur
gedemütigt, sondern sie sind quasi schmieriger Abschaum geworden.
Ein Abschaum, den man entweder umrundet, weil man nichts mit ihm zu tun haben möchte, oder ihn "entsorgt". Ein Umweltskandal.
Wenn ich so um mich schaue, stelle ich fest, dass ich mich ziemlich allein gelassen fühle. Kein Wunder, wie soll es einem im Herbst anders gehen. Ich kann noch von Glück reden, dass mir kein Besserwisser auf die Nerven gehen kann, zum Beispiel mit so blöden Plattitüden, wie:
"Na tu' mal was, such dir Arbeit!"
Als ob ich nicht schon genug für Alle getan hätte!
Immerhin habe ich diese Parkbank für mich allein mit einer gewissen Ruhe, die ich
genieße.
Gut, man kann sagen, dass die Aussicht nicht gerade erquickend ist, aber ich kann meinen ureigensten Gedanken nach hängen, zu mir finden und davon träumen, hoffen, dass bessere Zeiten noch kommen mögen.
Ich versuche zu seufzen, aber nicht mal das klappt. Heroinabhängige zum Beispiel können auch nicht aus ihrer Haut heraus. Verdammt nochmal, ich merke, wie ich depressiv werde. So ein blöder, negativer Gedanke!
Ich blicke mich um. Was soll ich denn sonst noch tun?
Rechts neben mir picken geschäftig Stare nach Essbarem und tanzen um dem Springbrunnen herum, der sicherheitshalber wegen der Kälte abgestellt und der mit
Bretterbohlen vor den Witterungseinflüssen geschützt ist.
Der hat es gut.
Auch für die Figur, die sonst Fontänen speit, ist die Sache jedenfalls für dieses Jahr erledigt.
Für diese Herrschaften ist gesorgt und im Frühjahr, ich weiß es, da blühen die Kerle wieder auf und die Figur speit frech. Und fragt jemand danach, was sie denn im Winter so gemacht haben, dann werden sie arrogant und präpotent wahrscheinlich sagen:
„Das war unser wohlverdienter Urlaub.“
Als ob sie das Wasser erfunden hätten! Die bekommen es auch nur in den Arsch, wie Würfelzucker hinein geblasen. Verzeihung, ich ärgere mich einfach!
Dabei verschwendet die Figur im Sommer tonnenweise Wasser. Das meiste dieser Gaben behält sich aber ihr Spezi, Kollege Brunnenbecken, zurück. Die Beiden sind ein eingespieltes Team.
Ich habe diese beiden egoistischen, asozialen Schweine gehasst, wenn mir im brütenden Sommer der Saft ausging. Meine Kollegen haben auch gewettert, aber was sollten wir machen? Für egoistische Ambitionen, da war Wasser da, und für uns? Wir konnten sehen, wo wir bleiben.
Links hüpft ein Eichhörnchen Mädchen auf das schon morsche Gehölz der Bank und putzt geschäftig an sich herum.
Etwas spät dran, die Gute.
Sie hätte längst ihren Vorrat zusammenraffen sollen. Ein Tipp von mir: Stehlen wäre effizienter, schneller, sinnvoller gewesen. Das kann ich mit Fug und Recht aus meiner Erfahrung heraus behaupten, schließlich zapfe ich ohne Bedenken die Sonne ab, ohne dass jemand etwas merkt.
Ich bitte Sie! Es ist ja nur eine Kleinigkeit! Da habe ich kein schlechtes Gewissen.
Ich schaue nach oben und blicke in die Baumkrone. Ein weiterer Seufzer entweicht und ich denke daran, dass dies meine ehemalige Heimat gewesen war. Es waren wohl schönere Zeiten gewesen. Ich gestehe, dass von hier aus gesehen auch dort oben die Zeiten nicht nur das Gelbe vom Ei waren, aber
ich muss sagen, dort droben habe ich mich wesentlich wohler gefühlt.
Na ja, es war eben auch eine andere Betrachtungsweise, ein aktiveres Leben.
Da oben wurde ich versorgt mit Saft und Kraft, weil ich interessant war. Schließlich habe ich Chlorophyll in Energie umgesetzt und meinen Beitrag geleistet. Das war ganz schön anstrengend, aber auch irgendwie toll und aufregend.
Kurz und gut, man war halt etwas ganz Anderes, da oben. Man hatte mehr Handlungsspielraum, schlicht gesagt Überblick.
Weitblick will ich nicht sagen, weil mir nebenan die freche Pappel tieferen Einblick verhagelte. Aber man konnte im Wind
wackeln und aufsässig sein. Selbst wenn ich erst viel später zur Arbeit erschienen war, wurde ich nicht fallen gelassen. Am Ast war sozusagen eine Tarifbindung vorhanden. Jetzt, im Herbst blieb nur noch ein Jahresvertrag, der freilich nicht verlängert wurde. Im Moment offensichtlich eine Massenerscheinung.
Was glauben sie, wie weit man von da oben sehen konnte, trotz der eifersüchtigen Pappel? Mir wäre es nie im Traum eingefallen den modrigen Boden-Schmarotzern, den Waldpilzen, irgendetwas davon zu erzählen. Sie fallen der Gesellschaft sowieso nur zur Last und gekleidet sind sie auch erbärmlich. Wenn man sich schon von Abfällen ernähren muss, das sagt doch alles! Wo sind wir denn?
Geschieht ihnen recht, dass sie die Sonnenseite nie zu Gesicht bekommen! Und dass sie den Baum nähren, daran glaube ich nicht. Mir hat auch noch nie jemand irgendetwas geschenkt.
Mit Blick nach oben gerichtet sehe ich nun, wie ein Blatt sanft, wie ein besoffener Adler, aus dem grauen Nebel, höhenkrank herunter segelt. Dieser dreiste Kollege landet tatsächlich direkt neben mir auf dem Absatz von abgeblättertem Farblack. Wenn ich mich nicht so matt fühlen würde, so vom Wasser aufgesogen, dann würde ich ihm gerne eine in die Schnauze hauen.
Selbst im Elend hat man keine Ruhe! Ich würde ihm gerne Saft verkaufen, um ihn los zu werden, wenn ich nur die Mittel hätte.
Ohne entsprechendes Vitamin B kann ich gar nichts mehr gegen ihn unternehmen.
Der Leidensgenosse erdreistet sich mir ein Gespräch aufzudrängen.
„Ach da schau her“, blubbert er mich an, „auch schon da. Faul und bequem. Ausruhen, was?“
So ein Klugscheißer! Den habe ich mir so richtig als Gesprächspartner vorgestellt.
Sagt er doch glatt 'auch schon da'.
Geradezu wahnsinnig erhellend, was da sein mieses, krankes Chlorophyll von sich gibt.
Dabei fühle ich mich selbst so krank, so matt und ohne Antrieb. Ich bin schon in dieser kurzen Zeit so erledigt, dass ich gar keine Arbeit mehr aufnehmen könnte, selbst wenn ich wollte.
Kein Wunder, dass der so auf die Pauke haut.
Der Kerl ist ja eben erst per Paragliding hier auf dem Boden der Tatsachen angekommen. Aber nun gut, man muss sich wohl mit den Gegebenheiten abfinden.
Also überwinde ich mich und antwortete ihm weltgewandt:
„How are you?”
Soweit es mein schleimiger Zustand zulässt, versuche ich arrogant die Blattspitze zu heben. Daraus wird nichts, aber mein Gegenüber ist noch euphorisch von seinem Flug.
„Prima geht's mir! Was hast du denn gedacht?“
Ich aber denke mir:
"Er ist unten angekommen und ich bin mir sicher:
Da bleibt er auch!"