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Heute war Haarschneidetag. Es gab keinen Anlass. Ich hatte nur das Bedürfnis, mein Haupthaar zurecht zu stutzen. Das ist außergewöhnlich. Es lag kein Grund vor, etwa, bevorstehende Handwerkerarbeiten, bei dem der Zweck der Übung darin liegt, der Angst zuvorzukommen, mich mit langen Strähnen zu behindern. So setzten wir uns an einem exponierten Platz: Blick aufs Tal. Ich saß auf einem klapprigen Campingstuhl und sie schnippelte voller Lust hinter mir herum. Meine dicken Locken flogen hinunter und über die Weite hinweg. Lustig, wie solch eine sich drehte, noch um sich selbst zwirbelte, bevor sie zerfiel und vom Wind verweht in der Weite verschwand.
Danach machte sie Essen. Ich hatte keinerlei Lust, ihr zur Hand zu gehen. Irgendetwas war mit mir los, wer weiß schon was? Als wir fertiggegessen hatten, sagte sie: "So, Schaf geschoren, Rindvieh gesättigt..." Ich ergänzte: "Das Lamm aber noch nicht gestillt!", und zog sie lachend ins Zelt. Danach erst machten wir den Abwasch.
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Tagtäglich notierte ich in meinem Tagebuch den Spruch des Tages. „Was schreibst du heute?“ „Schaf geschoren, Rindvieh gesättigt und“. „wie ein Bock gestoßen…“, ergänzte sie. Mir erstarb das Lachen auf dem Mund. Wie mich diese Obszönität anwiderte! Sie blätterte ihre Frauenzeitschrift um. Ich warf einen Blick hinein: „Neueste Sommerdiät.“ Ich schob schnell nach: „Du meinst: fette Ganz gestopft!“ Ihre Kinnlade stürzte herab. Plötzlich drängte sie auf Aufbruch. Mit zusammengepressten Lippen drückte sie die Lippen zusammen sowie das Pedal bis zum Ansatz und stierte unverwandt geradeaus auf die rasch unters Auto sausende, hinter uns lassende Straße. Ich wandte meinen Blick von ihr ab, um mich in den hohen Bergen, satten Wiesen und weiten Fluren zu verlieren.
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Die miese Stimmung wollte nicht verfliegen. Mensch, der Morgennebel vergeht bis spätestens Mittag, aber zwischenmenschliche Eintrübungen haben offenbar höhere Halbwertzeiten.
Ich musste mich ablenken; kam darauf, eine Postkarte zu schreiben. Irgendetwas tun, was ich normalerweise nicht tat, war gut. Ich schaute mir verschiedene an. Dabei war mir gar noch nicht klar, an wen sie adressiert sein würde. Es war ein zielloses Suchen. Ich betrachtete den Ort, wo wir uns befanden, von weit oben herab gesehen. Ein Stiefel oder ein Bein darunter, und unter dem, was darüber ist, stelle man sich anstatt Bergkämme Muskeln und Knochenbögen vor, dann war da: der Beckenknochen.
Ich dachte an eine ältere Bekannte. Ein kratzbürstiges Biest von Frau/Mädel/Weib, Feministin mit Haut und Haaren, die mir immer ziemlich einheizte, kürten wir saufend und diskutierend durch die Kneipen. Die ließ kein Haar ungekrümmt an mir, nicht bloß, weil ich ein Mann war. Auch, weil sie die Bessere war, Kommunistin und ich, ich an nichts wirklich glaubte. Behindert war sie mittlerweile mit ihrer Osteoporose. Aber das Maul kriegte sie ziemlich weit auf, wenn es darum ging, wie schwindelerregend hoch sie schon die Karriereleiter erklimmt hatte, wie viel Rente ihr jetzt schon zuständen und wie beliebt sie doch war in ihrem Bekannten- und Freundeskreis, der einen Radius umfasste, welcher die ganze Stadt sprengte, wenn nicht darüber hinaus. Ich dagegen wäre ein Zwerg, unausgesprochen ein Kretin in Sachen „sozialer Kompetenz“. Widerlich, dieses neuentstandene Modewort, mit denen sich alle Pseudos und Sozial-Despoten gerne schmückten.
Aber jetzt sollte sie einen kleinen Denkzettel erhalten.
Die Postkarte zeigte die Form eines Beckenknochens aus lauter braunen Bergen, worin ich mitten drin steckte: die Alpen. Ich umriss dieses Knochengeflecht mit Filsstift, damit dem Blindesten dies Form ins Auge stach. Mit schwarzem Leuchtstift trug ich hinten dick auf, damit die ganze Seite belegt war: „Liebe Bundeskanzlerin: Schau genau hin! Dort, wo Du das Kreuz siehst auf der Umseite, da hopse ich wie ein junger Steinbock von einem Fels zum anderen. Was machst Du stattdessen?“ Die Anrede ist ihr Spitzname. Warum nicht ihren wirklichen Namen? Leider darf ich ihren wirklichen Namen aus Beleidigungsgründen nicht veröffentlichen. Hoffentlich kommt der Brief nicht an die falsche Adressatin! Sonst donnert’s argen Ärger wegen Majestätsbeleidigung.
Bei der Auswahl der Briefmarke geriet ich in Schlingerkurs. Sie musste unbedingt eine gewisse Symbolik haben. Diese ganze Karte strotzte schließlich davon. Bei der Suche einer passenden brauchte ich sehr lange. Dieses Land ist schließlich ein „neutrales“ Land, somit arm an Symbolen. Auf das Rot-Kreuz-Zeichen, in deren Auto Zyklon B in die Konzentrationslager transportiert worden ist, wie nachlesbar bei Tadeusz Borowskis Erzählung „Bitte, die Herrschaften zum Gas“, im deutschsprachigen Buch „Die Großen Meister“, Untertitel „Europäische Erzähler des 20. Jahrhunderts“ Band II, Verlag Kiepenhauer & Witsch, Köln, S. 423, verzichtete ich entschieden.
Ferdinand-Hodler-Bilder fielen mir aus der Hand und ich wollte mich jedes Mal in den warmen, mir verschlossenen Schoß von Schnecke verkriechen. Seit meinem Besuch in einem Genfer Museum spie mir ein Drachen Feuer ins Gesicht. Auf einem Bild beschützt der Mann die Frau vor einem Ungeheuer. Wie verhielt es sich mit Schnecke und mir? Ich wäre kein guter Schweizer.
Wie immer, bei einer momentan nichtssagenden, nur mit obskuren Nummern und ein paar verwischten Farbklecksen behafteten Karte ließ ich es bewenden. Besser solch eine, als eine nach Blut triefende...
Vollen widerlichem Hass-Schleim rotzte ich auf die Rückseite der Karte hinab. Zudem leckte ich mit meiner Zunge sabbernd über die Marke wie ein hechelnder Jagdhund. Spuckte noch einmal lamaartig darauf und schlug die Briefmarke mit einer groben Faust auf die Karte nieder: so! Ich weiß nicht, ob diese Gestik mehr Schnecke oder meiner Saufkumpanin gegolten hat?
Jedenfalls sollte die Bundeskanzlerin ruhig unruhig auf ihren Ruhekissen Rentenansprüche in die Tausende im Angesicht dieser Botschaft auffahren. Vor Neid erblassen möge sie, die längst schon Schlagseite hatte von ihrem gebetsmühlenartigem Däumchen-Drehen zu Hause, den Schmierenkomödien, Quatsch(en)-Runden und sonstigen aus der Konserve akkordartig ausgespuckten Seichtigkeiten.
Mensch, jene Spezies von Mensch, die bloß auf ihre Pensionierung hin lebt. Ob danach wirklich alles besser wird? Dann lese ich einmal wieder ein Buch. Ja, wer’s glaubt!
Ruhig bleiben! Schon wieder bist du in Rage geraten. Denk an die Postkarte. Kann natürlich gut sein, dass deren Symbolik überhaupt nicht ankam. Kannst zuhause dann die Sache ins rechte Licht rücken. Reicht ja bis dahin. Versäumst nichts bei der!
Ziemlich befriedigt setzte ich mich, Hände verschränkt, auf den Beifahrersitz, mich hütend loszuprusten: „Los, weiter kann’s gegen!„ Nur jetzt nichts falsch machen. Ich wusste nur zu gut, Schnecke war alles andere als ein harmloses Kriech-, Schleich-, Schleim- oder Weichtier - wie immer das heißt.
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Buch erhältlich unter:
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