Ein Ort zum Trauern
Das Handy war über den Boden geschlittert und an der Teppichkante hängen geblieben. Noch leuchtete das Display. Flüchtig dachte sie, dass sie das Gespräch nicht beendet, sich nicht verabschiedet hatte. Sie wollte das Handy aufheben, machte einen Schritt und die Zeit faltete sich zusammen.
Sie hatte kein Gefühl mehr für Raum und Körper, befand sich in einer Art Dämmerzustand, hatte das Ungeheuerliche einfach aus ihrem Bewusstsein heraus geschnitten.
So fand sie Paul, der von seiner Bootstour zurückkam. Sofort sah er, dass etwas nicht stimmte. Das Handy am Boden, Miriam seltsam starr blickend am Fenster.
„Miriam?“ Die Frage blieb in der Luft hängen, schien sie nicht zu erreichen. Erst als Paul sie bei der Schulter nahm, reagierte sie.
Beinahe hektisch machte sie sich los von ihm, eilte zum Kleiderschrank, riss die Tür auf und begann wahllos Kleidungsstücke aufs Bett zu werfen.
„Was tust du Miriam, so rede doch!“, bat Paul.
„Ich muss zurück, sofort“, sagte Miriam tonlos.
„Was ist passiert?“, fragte er. Als sie keine Antwort gab, packte er ihren Arm, wollte sie zwingen, ihn anzuschauen. In diesem Moment klingelte das Handy und beide erstarrten in ihren Bewegungen. Schließlich hob Paul das Handy auf und drückte die grüne Taste. Er lauschte der Stimme, brachte außer „Ja“ und „Nein“ keinen Ton hervor. Irgendwann sagte er: „Das war Suzanna!“
Miriam schaute ihn an, ihr Blick war klar, aber schmerzverzerrt. „Ich weiß, Paul. Eva ist tot. Deswegen muss ich zurück.“
Miriam lauschte ihren eigenen Worten nach und das Unglaubliche erfasste sie mit aller Wucht. Eva. Ihre beste Freundin, ihre Seelenverwandte, ihr zweites Ich. Wie konnte sie einfach weg sein? Miriam hatte das Gefühl, mit jedem Schlucken einen Knoten hinunter zu würgen. Wo blieben die Tränen?
Sie schaute aus dem Fenster auf die kleine Bucht. Das Boot schaukelte auf den Wellen und schabte an den Brettern des Bootstegs. Dicht legte sich die Dämmerung über das Wasser. Vom westlichen Horizont malte der Streifen der gerade untergegangenen Sonne zahlreiche goldene Punkte aufs Wasser, der Sandstrand davor erstarrte in schwarzer Kontur.
Seit zwei Wochen machten sie hier Urlaub in East Hampton, auf Long Island, New York. Ein Traumurlaub, der nun unterbrochen, nein, zu Ende war durch eine Handynachricht.
Vorsichtig versuchte Paul Miriam zu erklären, was Suzanna, Evas Schwester, ihm gesagt hatte. Er sprach zu Miriams Rücken, wusste nicht, ob die Worte sie erreichten.
Die Beerdigung solle schon morgen sein. Evas Mann hatte zu verhindern gewusst, dass Miriam die Nachricht rechtzeitig bekäme. Wie all die Jahre zuvor hatte er einen erneuten Stein in den Weg gelegt, den Eva und Miriam gegangen waren. Immer war er eifersüchtig gewesen, hatte ihre Freundschaft nicht toleriert, sich geweigert, Miriam zu sehen und versucht, Eva den Kontakt mit ihr auszutreiben. Es war ihm nicht gelungen.
Paul und Miriam flogen nach einer Woche regulär nach Hause. Sie lebte ihren Alltag wie eine Marionette. Einmal noch hatte sie mit Suzanna telefoniert, die sie bat, nicht zu kommen, es habe keinen Sinn. Aber dann hatte sie Miriam einen Brief geschickt, einen Brief von Eva.
Plötzlich hielt ihn Miriam in den Händen. Der blaue Umschlag, ihr Name darauf in der so vertrauten, geliebten Handschrift, schwungvoll mit den kleinen Häkchen als i-Punkte.
Zitternde Hände, Atemholen, ohne Luft zu bekommen, die Brust eingeschnürt.
Wieder ließ Miriam ihren Blick aus dem Fenster in die Ferne schweifen. Warum nur war die Sonne so grau? Es schien ihr, als habe sie Bänder vor den Augen, die die Welt aussperrten.
„Eva“, flüsterte sie. „Wo bist du?“ Brüchig, fremd klang ihre Stimme in ihren Ohren. Sie faltete den Briefumschlag zusammen und steckte ihn in ihre Handtasche.
Von diesem Tag an ging sie mehrmals die Woche auf den nahen Friedhof. Paul versuchte sie davon abzuhalten, weil er meinte, es sei nicht gut für sie. Aber Miriam folgte einer Art innerem Zwang. Sie hatte das Gefühl, auf diesem Friedhof Eva ein wenig näher zu sein.
An sonnigen Tagen saß sie auf einer Bank und beobachtete, was um sie herum geschah.
So auch heute. Die Atmosphäre war ruhig, der Spätherbst tauchte alles in ein warmes Licht, die Bäume zeigten sich schon in ihrer prachtvollen Färbung. Ab und an löste sich ein Blatt vom Ast und segelte sacht zu Boden.
„Eva, bist du ein Blatt, das zu früh vom Ast gerissen wurde?“, dachte sie. „Wo finde ich dich?“ Sie bekam keine Antwort. Sie kannte alle Gräber in diesem Teil des Friedhofs, war eingetaucht in die Einzelschicksale der Menschen, die hier ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Anna, die 95 Jahre alt geworden war. Nie hatte Miriam jemanden an diesem Grab gesehen. Dann Benjamin, er war nur drei Jahre alt geworden. Die junge Frau, die öfter zu diesem Grab kam und welke Blätter entfernte, das Windrädchen wieder fest in die Erde steckte und ansonsten stumm davor stand, diese Frau war Miriam seltsam vertraut geworden, obwohl sie kaum einen Blick ausgetauscht hatten.
Da waren die beiden älteren Frauen, die das Grab von Kurt T. besuchten und unaufhörlich plapperten, während sie die Erde auflockerten und die Pflanzen gossen und Unkraut zupften. Der noch recht junge Mann, der meist reglos am Grab einer Emily S. stand, zuweilen eine Rose mitbrachte, die er behutsam niederlegte.
Sie alle hatten ihren Platz gefunden zum Trauern, konnten ihren Liebsten nah sein. „Wo bist du?“, schrie Miriam in sich hinein und die Worte brannten sich ein. Wie gerne hätte sie ihrem Schmerz Raum gegeben, endlich geweint. Die unzähligen geschluckten Tränen schienen sie auszufüllen, zu erdrücken.
Eine Wolke zog vor die Sonne und Miriam fröstelte. Sie öffnete ihre Handtasche um den Schal herauszuholen. Dann stand sie auf und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Der jungen Frau, die an Benjamins Grab kniete, nickte sie flüchtig zu. Klack...klack...klack.. unnatürlich laut knallten ihre Absätze auf das Pflaster des Hauptweges und das Geräusch dröhnte ihr unangenehm in den Ohren, unpassend für diesen Ort.
Sie zuckte zusammen, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Die junge Frau stand vor ihr und hielt ihr ein blaues Stück Papier hin. „Das haben Sie verloren“, sagte sie mit leichtem Lächeln. Der Brief – Evas Brief, noch immer ungelesen, verschlossene Worte, denen sie nicht erlauben wollte, Zugang zu ihr zu bekommen. Miriam fühlte einen leichten Schwindel, sie wurde blass. „Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte die Frau freundlich und ihre Sorge klang echt.
Miriam schüttelte den Kopf und nahm den Brief entgegen.
„Danke“, flüsterte sie. „Ich habe Sie hier schon öfter gesehen. Liegt ein Ihnen lieber Mensch hier, um den Sie trauern?“, erkundigte sich die Frau. Miriam wünschte in diesem Moment so sehr, dass sie hätte ja sagen können. Mit stammelnden Worten begann sie zu erzählen, von Eva, ihrer Verzweiflung, dass sie nicht bei der Beerdigung hatte sein können. Sie erzählte von der Hoffnungslosigkeit und dass sie keinen Ort zum Trauern habe. Die Worte kamen wie von selbst, suchten ihren Weg ins Freie.
„Einen Ort zum Trauern....“, sinnierte die Frau. „Ich habe oft überlegt, ob wir ihn brauchen, diesen Ort. Ich trauere überall um meinen Sohn, ich rede mit ihm. Mein besonderer Ort ist nicht hier. Ich gehe auch oft auf den Spielplatz, wo Ben so gern im Sand gespielt hat. Gerade wenn ich die anderen Kinder sehe, ist er mir ganz nah. Lesen Sie den Brief, denn er ist doch von Eva, oder?“ Als Miriam nickte, fuhr sie fort: „Suchen Sie einen passenden Ort, ich bin sicher, Sie werden ihn finden.“ Sie legte Miriam kurz die Hand auf den Arm, dann drehte sie sich um und ging den Weg zurück.
Mit ihren eigenen Worten hatte sich bei Miriam auch etwas anderes den Weg nach draußen gebahnt. Sie wusste plötzlich, was sie tun würde. Alle Starrheit fiel ab und sie hatte es auf einmal eilig. Es war nicht allzu weit entfernt. Nach einer halben Stunde hatte sie den Parkplatz erreicht. Sie stellte das Auto ab und lief los.
Der Weg führte in sanften Kurven durch die Felder. Sonnenblumen, Zuckerrüben, Mais...Farbenpracht aus Gelb und Grün. Miriam schien es, als lerne sie neu sehen. Die Welt, die sie in den letzten Wochen nur in Grautönen wahrgenommen hatte, schien farbige Konturen zu bekommen. Mit jedem Schritt mehr. Der Apfelbaum...noch hingen die saftigen roten Früchte an den Zweigen und Miriam musste lächeln bei der Erinnerung. Eva und sie hatten einmal zwei Äpfel vom Baum gepflückt und dann waren sie rasch davon gerannt wie Kinder, obwohl kein Mensch in der Nähe gewesen war.
Der Pfad wurde schmaler, hohes Gras säumte die Wegränder.
Dahinter endlose Wiesenflächen, in der Ferne glitzerte Wasser.
Plötzlich öffnete sich der Weg, weitete sich und vor Miriam lag der Teich, eine spiegelglatte Fläche mit funkelnden Lichtpunkten, die die Sonne malte. Der Stein am Ufer zwischen dem Schilf war warm von der Herbstsonne. Ihr Stein – wie oft hatten sie hier gesessen, Eva und sie, hatten geredet, geweint, gelacht, philosophiert, auch ihrer Wut, ihrem Ärger zuweilen Luft gemacht. Immer war es ihr danach besser gegangen. Meist hatten sie so einen Tag noch bei einem Glas Wein ausklingen lassen. Sogar im Winter hatten sie ihre seltenen Spaziergänge hierher geführt und an dieser Stelle kurz innehalten lassen. Es war zu selten gewesen, immer zu kurz. In all den Jahren hatte es die große räumliche Entfernung nicht erlaubt, dass sie sich oft sahen. Ihrer Freundschaft hatte das keinen Abbruch getan.
Miriam setzte sich ins Gras, lehnte sich an den warmen Stein. Zögernd noch holte sie den Brief aus ihrer Tasche. Ihr Blick wanderte in die Ferne, hielt sich an dem Storchennest der alten Scheune fest. Vorletzten Frühling hatten Eva und sie hier die jungen Störche beobachtet, wie sie gefüttert wurden und ihre ersten Flugversuche machten. Da war Eva schon krank gewesen, aber die Hoffnung und Lebensfreude hatten sie jegliche Angst verdrängen lassen. Es schien alles gut. Jetzt war das Nest leer, die Störche schon davongeflogen wie Eva. Nur würde sie nie zurückkommen wie die Vögel.
Endlich öffnete Miriam den Brief, begann zu lesen, sah die Worte, ein zögerndes Verstehen bahnte sich an, drang in sie. Ganz nah war Eva jetzt, fast spürte Miriam sie körperlich. Immer wenn sie geredet hatten, war Eva ein Körperkontakt wichtig gewesen. Das Berühren des Arms, eine kurz verweilende Geste auf ihrer Hand, immer hatte sie auf diese Weise den Kreis der Kommunikation geschlossen. So schien es Miriam jetzt, dass sie der Freundin Worte hörte, ihre Hand spürte.
Eva hatte ganz sachlich geschrieben, was Miriam schon wusste, dass ihr Mann es nicht zulassen werde, dass sie an der Beerdigung teilnehme.
„...und so werde ich schon unter der Erde sein, wenn du es erfährst.“
Sie schrieb von ihren gemeinsamen Urlauben und holte mit ihren Worten all diese wunderbaren Momente hervor, die Miriam sorgsam weggeschlossen hatte, um das Elend nicht zu spüren.
„..als wir die Wellen umarmten und der Sand in unseren Haaren nistete.“
Der leicht ironische Unterton, als sie von ihren Männern sprach, dann wieder ernsthaft werdend, beinahe seufzend.
„...und unser Lächeln wollte die Zukunft malen, aber diese hat sich uns verschlossen. Du wirst den Schlüssel finden, Miriam. Schließe sie auf, die Zukunft, auch für mich.“
Sie schrieb vom Schmerz, vom Vergessen und von der Liebe. Und sie bat um Verzeihung, dass sie keine Kraft mehr hatte, dass sie loslassen wollte.
„...du wirst dich erinnern an winzige Kleinigkeiten, die auf einmal große Bedeutung gewinnen und du wirst einen Ort haben zum Trauern, für eine kurze Zeit. Dieser Ort wird dir dann Zuflucht sein, wenn aus der Trauer die schönen Momente der Erinnerung wachsen.“
Miriam ließ den Brief sinken. Erneut ging ihr Blick in die Ferne. Die fortschreitende Dämmerung tauchte die Landschaft in fahles Licht und ein kühler Wind wehte die frühherbstliche Wärme davon.
„Ja, Eva“, sagte Miriam. „Einen Ort zum Trauern. Ich werde ihn eine Weile brauchen.“ Ein leises Lächeln ließ ihr Gesicht weich werden. „Und dann“, dachte sie, „dann werde ich die Trauer hier lassen und all die Erinnerungen mitnehmen.“
Und endlich, endlich, während sie noch lächelte, kamen die erlösenden Tränen. Sie weinte.