Kapitel 2
Mein Magen verkrampfte sich, als Lina die Karte vor uns auf dem Tisch legte. Im nächsten Moment konnte ich mir schon denken, auf was sie hinaus wollte. Und auch Jonathan neben mir räusperte sich kurz. Er war auch der Erste, der das Wort ergriff.
„Ein neues Opfer?“ fragte er.
„Ja. Ich will nicht lange um den heißen Brei reden, Jungs, aber das hier ist alles andere als schön. Gestern lag diese Karte im Briefkasten einer jungen Mutter. Ihre zwölfjährige Tochter galt als vermisst.“
Wut packte mich. Das konnte einfach nicht sein. Sein einigen Monaten jagten wir einen Serienkiller, der sich einen Spaß daraus machte, Beileidskarten zu verteilen. Darin bekundete er, wie leid ihm alles tat und er keine Wahl habe. Außerdem hinterließ er wichtige Daten. Der Ort, an dem die Leichen vergraben waren, den Namen, Adresse und das Geburts- und Todesdatum. Bisher war es so, dass es sich nur um ältere weibliche Opfer handelte, aber das hier übertraf irgendwie alles.
Dieser Fall beschäftigte mich ungemein und dafür gab es einen guten Grund. In jeder Karte befand sich eine kleine Botschaft für mich – natürlich vom Täter. Er quälte mich und damit hatte er Erfolg. Meine Nächte verbrachte ich neuerdings in irgendwelchen Bars, in denen ich mich zulaufen lies, nur damit ich endlich einmal abschalten konnte. Von Jonathan bekam ich schon einige Predigten zu hören und auch Lina blieb es nicht verborgen, dass mir der Fall zusetzte.
Doch jetzt, ein Kind? Das hielt ich im Kopf nicht aus. Ich musste raus hier. Raus aus diesem Raum.
Mit einem lauten Knall fiel der Stuhl hinter mir um, es war mir egal, auch wenn mich Jonathan und Lina nun für komplett verrückt hielten.
Ich ging durch die Tür und steuerte den kleinen Automaten in der Ecke an. In meiner Hosentasche kramte ich nach Kleingeld. Dieses Teil stand hier schon seit Jahren und man musste immer dagegen treten, nachdem man das Geld hinein warf. So auch jetzt.
Ich entschied mich jedoch einfach nur für die flache Hand und schlug zu, doch heute war nicht mein Tag. Nicht einmal ein einfacher Kaffee war mir gegönnt. Der Pappbecher blieb vermutlich stecken.
Ich probierte es erneut, doch wieder blieb ich erfolglos.
„Kostet jetzt einen Dollar!“ hörte ich Jonathan hinter mir. Er steckte das Geld, das wohl noch fehlte hinein und klopfte mir auf die Schulter.
„Steht doch da!“ Er deutete auf die leuchtende Eins.
Ich atmete einmal tief durch, drückte den Knopf und der Pappbecher kam.
„Danke, Jon.“
„Du musst dich zusammen reißen, man, Ryan steht über uns. Sie brauch nur einmal mit dem Finger schnippen und wir sind den Fall los. Außerdem solltest du endlich mal zum Arzt, du machst deine ganze Uniform voll.“
Jetzt erst bemerkte ich, wie mir das Blut bereits den Hals hinab und in mein Hemd lief. Jonathan drückte mir das Taschentuch, dass ich im Büro liegen lassen hatte, in die Hand.
„Wir kriegen den Scheißkerl!“ versicherte er mir.
„Wann hast du das zum ersten Mal zu mir gesagt, hm? Nach einem Monat, nach dem zweiten, nach dem dritten? Seit Monaten mordet er fröhlich vor sich hin und nun ist er schon soweit, dass er sich an Kindern vergreift. Tut mir leid, Jon, ich weiß nicht, was du von mir erwartest.“
Ich streifte seine Schulter, als ich an ihm vorbei wollte, doch er packte mich, zerrte mich herum und ich prallte mit dem Rücken gegen die Wand. Ich war so perplex, dass ich nicht reagieren konnte.
Joanthan fixierte mich.
„Ich erwarte von dir, dass du dich endlich mal wie ein Mann verhältst, Mason. Und wenn das bedeuten sollte, dass ich dir solange in den Arsch treten muss, bis du es endlich begreifst, dann mach ich das. Und glaub ja, nicht, ich wäre mir zu schade dafür. Wir werden an diesem Fall weiter arbeiten, kapiert? Und ich will kein einziges Wort über dein Gejammer hören. Ich steh hinter dir, solange ich das Gefühl habe, dass du das auch wert bist. Und wenn ich dich je wieder in einer Bar erwischen sollte, dann Gnade dir Gott, Mason. Ich mein es ernst. Du bist mein Kollege und in erster Linie bester Freund. Also versau's nicht.“
Er ließ locker.
Ja, wahrscheinlich hatte er auch vollkommen recht. Ich sollte mich zusammen reißen. Doch das war schwierig. Immerhin musste er sich nicht mit meinen Gedanken auseinander setzen. Vielleicht verarbeitete er diese Dinge auch ganz anders.
Ich wischte mir das restliche Blut aus dem Gesicht.
„Lass uns wieder reingehen!“ sagte ich, Jon verstand auch so, dass ich damit einverstanden war, nicht einfach aufzugeben. Ich nahm meinen Becher aus der Halterung und nippte daran.
Wenige Sekunden später saßen wir Lina wieder gegenüber. Und die war sichtlich wütend.
„Kann ich mich auf dich verlassen, Mason?“ In ihrem Ton lag eine gewissen Schärfe.
Ich nickte, doch das reichte ihr nicht aus.
„Ich kann euch auch von....!“
„Du kannst dich auf uns beide verlassen!“ sagte ich mit Nachdruck und Jonathan stimmte mir zu.
„Habt ihr die Daten schon überprüft, die darin standen?“ wollte ich wissen. Mittlerweile hatte ich mich wieder etwas beruhigt. Ich brauchte einen klaren Verstand und Jons Worte schwebten mir auch immer noch leise im Hinterkopf. Bloß nichts versauen.
„Einige Kollegen haben das heut Morgen überprüft. Es stimmt. Die Leiche der Kleinen wurde schon weg gebracht.“
Lina zögerte kurz.
„Was ist?“ Ich kannte diesen Blick nur zu gut. Irgendetwas hatte sie auf dem Herzen, etwas das sie persönlich betraf.
„Er hat dir wieder eine Botschaft hinterlassen!“ In ihrem Augenwinkel konnte ich eine kleine Träne ausmachen. Was war hier nur los?
Ich nahm die Karte an mich und schaute hinein, dabei fiel ein kleiner Zettel auf meinen Schoß. Vorsichtig öffnete ich ihn. Der Text, der darauf geschrieben war, riss mir den Boden unter den Füßen weg. Ich war unfähig auch nur ein Wort zu sagen. Stattdessen starrte ich Lina an. Ihre Tränen liefen unaufhaltsam.
Jon entriss mir den Zettel.
„Verfluchte Scheiße!“ murmelte er vor sich hin.
„Wo ist Tyler im Moment?“
Doch weder ich, noch Lina konnten eine Reaktion darauf geben. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr abwenden. Das durfte alles nicht wahr sein. So etwas durfte uns nicht passieren.
„Verdammte scheiße, kriegt euch jetzt wieder ein. Wir haben keine Zeit für so etwas. Wo befindet sich euer Sohn?“